Silvesterpredigt (2019) von Bischof Felix Genn in Münster
In St. Lamberti, in der Mitte des Prinzipalmarkts gelegen, alles noch weihnachtlich geschmückt unter den Bögen mit Kerzen, bunten Lampen und Kränzen, atmete Münster noch Weihnachtszeit. Das neue Jahr schien im Nebel versteckt, während in der festlichen Kirche Bischof Genn die Umbrüche in Kirche und Gesellschaft zum Thema machte.
Zum biblischen Leitmotiv wählte er dazu einen Abschnitt aus Jesaja 24, 19 – 20: Es wird die Erde mit Krachen zerbrechen, zerbersten und zerfallen. Die Erde wird taumeln wie ein Trunkener und wird hin und her geworfen wie eine schwankende Hütte; denn ihre Missetat drückt sie, dass sie fallen muss und nicht wieder aufstehen kann.
Genn wählt in Abwandlung zum Jesaja-Text das Bild des schwankenden Schiffs, unter dessen Vordach wir uns geflüchtet haben, das uns aber nur scheinbaren Schutz vor den Urgewalten bieten kann. Die (geo)politischen Umwälzungen in 2019 waren teils so heftig, dass vielfach angenommen werden konnte, wir stünden neuen großen kriegerischen Entwicklungen gegenüber (Nordkorea, Iran, Irak), zu den bereits bestehenden (Bürger)Kriegen. Diese allgemeine Verunsicherung spiegelt sich nach seiner Ansicht im politischen Personal. Kein Vertrauen zu irgendwem, wachsendes Misstrauen und Distanz überall.
Die Krise des Vertrauens drückt sich direkt und unübersehbar aus in der Bewegung Fridays-for-Future. Eine weltweite (!) Bewegung, überwiegend junger Menschen, die sich um den Planeten als ihr Zuhause und ihre Zukunft sorgen! Auf seinen Reise nach Peru, Brasilien und Mauretanien erfuhr Genn das konkrete Ausmaß von Ausbeutung, Industrialisierung und Umweltzerstörung. Das ist eine planetare Krise.
Eine enorme Vertrauenskrise hat auch die Kirche heimgesucht. Sie erschüttert die Gemeinden bis ins Mark. Doch die Krise strahlt darüber hinaus weit in die Gesellschaft: Wie wird man als Katholik wahrgenommen? Das Schiff Kirche schwanke bereits so bedrohlich, dass Stimmen zu hören seien, die bei einem Scheitern des Synodalen Wegs die Kirche dem Untergang geweiht sähen. Das Wort des Propheten Jesaja scheint genau zu dieser Situation zu passen. Es zerbricht das Gebäude um uns herum, die Erde schwankt, die Last der Vergehen drückt die Kirche nieder, bis sie vielleicht nicht wieder aufsteht. Oder: Wird es so kommen wie in Mt. 16, 18, dass selbst die Pforten der Hölle sie nicht überwinden können?
Die Kirche steht mitten im Leben, sie ist bei den Menschen. So nah, dass der Bischof kritisiert, bereits vor Beginn des Synodalen Wegs sei die Bedrückung des Schlechtredens zu erfahren. Noch habe der Weg nicht begonnen, da verfalle er dem Verdikt, nur dann als erfolgreich gelten zu können, wenn ein ganz bestimmtes Ergebnis herauskomme. Andere wiederum fürchteten um die Einheit der Kirche.
Aus seiner Sicht sei jedoch entscheidend, dass der Weg als solcher die Menschen zusammenführe, man einander mit Empathie begegne und darin gemeinsam wachse. Übersetzt auf die „Synodalen“ bedeute das zweierlei: zunächst das Hören als geistliche Grundhaltung. Die darin beschlossene Achtsamkeit führe den Hörenden zur inneren Absicht des Gegenübers. Aus diesem Hören erfahre man auch die Gabe des Heiligen Geistes, die Möglichkeit zu differenzieren. Das gelte nichts weniger für die Politik. Die Stimme des Heiligen Geistes ermögliche auch, zu unterscheiden, um die richtige (angemessene) Entscheidung zu treffen. Dieses innere Hören erfordere aber immer die geistliche Grundhaltung, also eine innere Haltung der Einkehr, der Stille, des Horchens, der Kontemplation. Das ist anstrengend und nicht immer leicht zu erreichen. Doch die darauf beruhende Entscheidung erfülle sodann mit Frieden und Trost. Das Maß an Trost und Frieden erreicht eine Tiefe, je mehr Unfriede, Unruhe oder Trostlosigkeit weichen. Dieser Prozess gelte zumal für die Kirche selbst, so Genn. Doch auch im innergesellschaftlichen Prozess des Wachsens oder der harten Auseinandersetzung kann diese Haltung Schmerzen lindern, Feindschaften verhindern, Sensibilität fördern. Die heilende Wirkung dieser Haltung besteht also in der Abwesenheit von zerstörerischen Auswüchsen, die dem Gegenbild zum christlichen Menschenbild entspringen.
Was sollen wir neben der inneren Haltung noch berücksichtigen, um die Anfechtungen unserer Zeit zu bestehen? Mit Blick auf Papst Franziskus empfiehlt Bischof Genn, unseren Glauben zu stärken, am Wort Gottes zu hängen, das gerade zur Weihnachtszeit aussagt, dass Wort sei Fleisch geworden in Jesus von Nazareth. Was auch heißt, nicht in Resignation zu verfallen, sondern IHM zuzutrauen, die Kirche auch in dieser Stunde zu begleiten und vor Unheilspropheten zu schützen. Denn in der Gemeinschaft der Gläubigen ist die Kraft des Heiligen Geistes lebendig: Das Gebet, die Fürbitte um die Gabe des Geistes für die Synodalen und alle am Prozess Beteiligte, die Kraft des pilgernden Gottesvolkes in Deutschland – wie Papst Franziskus in seinem Brief formuliert habe. Aus diesem Zusammenstehen erwachse jene Zuversicht, die Frustration und Spaltung überwindet, das gemeinsame Haus der Schöpfung bewahrt und entfaltet: „Ein glückseliges neues Jahr 2020!“
Ingo-Maria Langen, Januar 2020