Frank Matthias Kammel
Kunst & Kapitalverbrechen
Veit Stoß, Tilman Riemenschneider und der
Münnerstädter Altar
Katalog zur Ausstellung im Bayrischen Nationalmuseum, München
Hirmer Verlag, München 2020
Abbildungen in Farbe
240 Seiten, Softcover, 23 x 29, 37.- €
Feature
Die Welt, in die wir eintauchen, das Spätmittelalter am Umbruch zur Renaissance, zeichnet sich durch gewaltige erkenntnistheoretische wie technische Leistungen aus, die insbesondere in der Architektur zu großen Fortschritten führt. Die Grundlagen waren bereits im 12. und 13. Jahrhundert gelegt worden. In der Sakralarchitektur ging insbesondere von Frankreich ein Modernisierungsschub aus, der längerfristig ganz Europa bis nach England erfasste. Ordensgemeinschaften wie die Zisterzienser (Chartres) oder große Laienbewegungen wie die Katharer traten in Konkurrenz zur Amtskirche und beflügelten einen Wettbewerb im geistigen, theologischen, politischen und wirtschaftlichen Denken. Im Rückgriff auf Augustinus gewinnt die Mathematik mit ihren Ordnungsprinzipien einen hohen Stellenwert, ebenso die musikalische Harmonielehre. Fließen beide Prinzipien in eins, kommt es zu anagogischer Würde. Neue Schaufreude verbindet sich christlichem Platonismus sowie der Reformbewegung um Bernhard von Clairvaux. Die Kirche wird als architektonischer Ausdruck liturgischer Form betrachtet (von Simson, Sedlmayr) und symbolisiert das Neue Jerusalem. Für die sakrale Ausgestaltung des Innenraums galt dies zumal. Dazu richtet der Katalog seinen Fokus auf den Münnerstädter Altar in einer der wenigen Maria Magdalena gewidmeten Kirchen und nimmt dabei eine Doppelperspektive ein: Auf der einen Seite das handwerkliche Schaffen der beiden Künstler in all seiner Exzeptionalität, auf der anderen geschäftliche oder politische Händel, die ihnen nicht gut bekamen.
Das Magdalenenretabel
Im Jahr 1490 erhält Tilmann Riemenschneider durch den Münnerstädter Rat und die örtlichen Kirchenherrn (Nikolaus Molitor von Ebern, Komtur des Deutschen Ordens und Pfarrer Johann König von Arnstein) den Auftrag für die Kirche St. Maria Magdalena einen Altar zu gestalten. Das Werk sollte zu Ostern 1492 eingeweiht werden. Den Vorgaben nach ein dreigliedriger Flügelaltar, dessen Mittelbild eine schwebende Maria Magdalena mit sechs Engeln, die sie über einer Wüstenlandschaft emporheben, zeigt. Ein zunächst vorgesehener siebter Engel mit einer Krone über ihrem Haupt entfiel bei der Gestaltung, wahrscheinlich aus Proporz- oder Platzgründen. Der 15 Meter Hochaltar zeigt Maria Magdalena in ihrer Ursprünglichkeit, bedeckt von ihrem fülligen Haupthaar. Diese Vorgabe erinnert an die „dunklen Abspiegelungen“ (amydràs emphaseis) und das „Durchschimmern“ (diaphaseis) aus der altägyptischen Philosophie, soweit hier ein Synkretismus mit der Legende der Maria von Ägypten angestrebt wurde. Ihr natürlicher Haarpelz als kunstvoll gelocktes Gewand betont die Schönheit ihrer Weiblichkeit, ein erotisches Fluidum, das durchaus mit der theologischen Zuschreibung der Büßerin in Einklang steht.
Die Flügeltüren präsentieren die Heilige Elisabeth von Thüringen, ihr gegenüber der Heilige Kilian, ein schottisch-irischer Missionar. Im Bischofsgewand, attribuiert mit Schwert, ein Bezug auf die Zuschreibung als Märtyrer. Porträthafte Züge des Fürstbischofs Rudolf von Scherenberg zu Würzburg sind unverkennbar. Elisabeth mit einem knienden Bettler ihr zu Füßen, ein Weißbrot zur Hand sowie einen Zinnkrug. Jedoch zeigt die Figur weder die Königstochter noch die Heilige, Riemenschneider macht sie über ihre Ballonhaube, das seitlich flatternde Band und den lebendigen Faltenwurf des öffnenden Mantels zu einer Repräsentantin des Würzburger Bürgertums, das sich für den Kirchgang ausstaffiert hat. Eine invertierte Programmatik zur Heiligen, die einen Bettler zu ihren Füßen mit Aufmerksamkeit bedacht hätte.
Für den – nicht mehr vorhandenen – Zieraufsatz (Gesprenge) galt es eine Darstellung der göttlichen Dreifaltigkeit vorzusehen, flankiert vom Evangelisten Johannes sowie von Johannes dem Täufer. Die Visualisierung des Originalaltars im Katalog ist überzeugend gelungen, sie besticht in ihrer Klarheit und ermöglicht einen Eindruck der ursprünglichen Aussagekraft. In der Gegenüberstellung zur späteren Ausgestaltung von Veit Stoß wird die Differenz in der Aussage deutlich: sie erhält eine Ergänzung, wenn nicht Verlagerung über die Erzählung zu St. Kilian. Die Schreininnenseiten zeigen die Salbung von Jesu Füßen durch Maria Magdalena, die Begegnung Marias und Maria Magdalenas mit dem auferstanden Christus, die letzte Kommunion (in Anlehnung an die Ägypten-Legende) sowie die Begleitung ihrer Beerdigung durch die Engel. Zu erwähnen ist noch die Predella, geschmückt mit den Darstellungen der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.
Jenseits der umfangreichen künstlerischen Lebensleistung verdient auch das gesellschaftliche (politische) Engagement Riemenschneiders Aufmerksamkeit. Sein Aufstieg in Bürgerschaft, Rat, schließlich als Bürgermeister verband sich lange mit künstlerischem und geschäftlichem Erfolg. Mit der Zuspitzung des Konflikts mit Fürstbischof Konrad II. von Thüringen und der Würzburger Bürgerschaft im Vorfeld des Bauernkrieges stellte sich Riemenschneider auf die Seite der Aufständischen. Thomas Mann schreibt zu Riemenschneider (Deutschland und die Deutschen, 1945): „Es zwang ihn, ergriffen von den großen und grundsätzlichen Gegensätzen der Zeit, herauszutreten aus seiner Sphäre rein geistiger und ästhetischer Kunstbürgerlichkeit und zum Kämpfer zu werden für Freiheit und Recht.“ Nach der Niederlage wurde an ihm wie den anderen Delinquenten die Folter verübt, er büßte seine Handfertigkeiten ein, verlor seine Auftraggeber und geriet mehr und mehr in die soziale Isolation. Die Obrigkeit hatte über den Widerständigen gesiegt.
Kunst & Kapitalverbrechen
Soweit das kunsthistorische Framing um Riemenschneider als Folie für die äußerst bewegte Lebensgeschichte von Veit Stoß. Dieser hatte sich als hervorragender Bildschnitzer in Krakau einen Namen gemacht, war angesehen und durchaus geschäftlich erfahren wie erfolgreich, wenngleich auch ein jähzorniger bis streitsüchtiger Zeitgenosse, der sein Vermögen zu mehren wusste, nur ungern Rechnungen beglich. Seine Rückkehr nach Nürnberg barg allerdings den Keim der „Unruhe“ in sich. Es galt überschüssige Liquidität zu investieren, Stoß vertraute diese dem Kaufmann und Nachbarn Jakob Baner an. Die ersten Geschäfte liefen zufriedenstellend, weshalb Stoß bei Baner nachsuchte, die erwirtschafte Summe von 265 Gulden erneut bei ihm anzulegen. Baner verwies ihn jedoch auf den Tuchhandelskaufmann Hans Starzedel, den Stoß aus seiner Krakauer Zeit kannte. Ob das als Vertrauensgrund für den versierten Bildschnitzer ausreichte oder der Lockruf des guten Geschäfts ihn leichtsinnig werden ließ, steht dahin. Außer Frage jedenfalls ist: Stoß wurde Opfer eines Komplotts. Starzedel schuldete Baner 600 Gulden, die er nicht aufbringen konnte. Aus der Einlage von Stoß bediente Starzedel Baner, blieb den Rest an Stoß schuldig und tauchte nach dem Bankrott seiner Firma unter. In seiner Not hielt Stoß sich an Baner und verklagte ihn. Doch zur Beweisvorlage bei Gericht nutzte er einen gefälschten Schuldbrief, was letztlich aufflog und ihn dem Tod nahebrachte. Nur der Intervention seines Schwiegersohns und einiger bekannter VIP‘s verdankte er die Umwandlung der Strafe ins Brandmarken. Stoß geriet in die Gefahr sozial geächtet zu werden, alles zu verlieren. Er floh aus Nürnberg nach Münnerstadt zu seinem Schwiegersohn. Hier erhielt er (vermutlich um 1504) den Auftrag Riemenschneiders Hochaltar farbig zu fassen sowie die Flügel mit Tafelbildern auszuschmücken. Thematisch sollte Stoß die Verschwörung der Gailana, verbunden mit dem Märtyrertod des Heiligen Kilian darstellen. Diese „Nachbearbeitung“ durch einen Konkurrenten muss Riemenschneider sehr geschmerzt haben. Zumal die mehrschichtige Farbfassung dem (beabsichtigten) Originaleindruck widersprach und die Konservierung des Werks über den sehr teuren Morin-Einlassgrund nun überflüssig erschien. Mehr in der Tiefe mag das Motiv der Ablehnung der offensichtlichen Nacktheit, die Riemenschneider geliefert hatte, gewesen sein. Münnerstadt, klein, provinziell, prüde, da passte die Brüste Magdalenas eher nicht ins Erwartungssoll der Gemeindemitglieder der Kirche. Zwar war bei der Abnahme keine Beanstandung geäußert worden, vielleicht hatte sie sich mit der Zeit erst ergeben. Jetzt konnte eine Revision erfolgen.
Koch und Kastellan
In den detailreichen Fassungen der Kilian-Erzählung sticht etwa der dunkelhäutige Koch ins Auge des Betrachters. Er hält der ihm gegenübersitzenden Gailana den Löffel, der mit seiner flachen Laffe wohl einem Rührlöffel am nächsten kommt, hoch empor, was seinen attribuierten Charakter ins metaphorische verschiebt. Nicht die handwerkliche Funktion steht hier im Vordergrund, eher schon die Chiffre eines Narrativs: Deutet der spätere Attentäter hier an „die Suppe auszulöffeln“, die Gailana bestellt hat? Ebenso könnte gemeint sein, Kilian werde alsbald seinen „Löffel abgeben“. Gekonnt spielt der Katalog diese Bildmetaphorik durch. Flankiert wird die Bildidee vom Schwurgestus des Kastellans, der als zweiter Attentäter mit dem Schwert bewaffnet den Sinnspruch vom „Auslöffeln der Suppe“ ergänzt und unterstreicht.
Die Vielfalt, der Einfallsreichtum und die stimmige Interpretation der Beiträge im Katalog sind ein Fest für die Sinne, durchaus „arbeitsintensiv“ für den Leser, muss dieser doch immer mal wieder zurückblättern, überlegen, genau hinschauen, bis ihm schließlich das bewusste Licht aufgeht. Eine Freude bleibt das aber allenthalben.
Gewiss ist die Betrachtung eines Kunstwerks in der Vermittlung über einen Katalog etwas Distanziertes, eine indirekte Begegnung. Wir können seine Aura nur mühsam ahnen, nicht jedoch authentisch erspüren, selbst die systemische Einspürung mit ihren subtilen Hilfsmitteln bleibt ein Stück weit hinter dem physischen Gegenübertreten zurück. Weshalb sich der Ausstellungsbesuch als unbedingtes Muss empfiehlt. Erst dann wird die Erfahrung vollständig: der Mythos Aura wandelt sich in die Leibhaftigkeit unserer Sinneseindrücke. Bis dahin unterhält der aufwändig und kunstvoll gestaltete Katalog auf kurzweilige Weise über Kunst und Verbrechen im Leben zweier herausragender Bildhauer.
Ingo-Maria Langen, März 2021