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Via Conci
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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Die Verwüstung der Gesellschaft

Sie kennen das: an manchen Tagen haben Sie den Eindruck, Verdammt und Zugenäht, mir wächst tatsächlich alles über den Kopf! Das stimmt natürlich nicht. Es ist so ein Gefühl, das einen überkommt und jeder von uns kennt. Insbesondere dann, wenn wir überlastet, schlecht drauf sind. So weit so gut oder schlecht. Hinzu kommen nämlich: der ewige Streit in der Politik, der Brexit, der amerikanische „Präsident“, drohende Handelskriege, das Rütteln am Zusammenhalt in der EU, der Novemberblues… Leicht könnte man in Verlegenheit geraten und die Schotten dicht machen, sich abwenden, in die Echokammern der sozialen Medien flüchten. Das wird nichts helfen. Helfen kann nur, dass wir uns aufmachen, nach Wissen und Erkenntnis suchen, reflektieren. Aber das ist sehr anstrengend, es ist frustrierend und aufwendig. – Doch Sie ahnen es schon, es lohnt sich.

Die Gesellschaft, was ist das? Das ist ziemlich einfach und doch extrem kompliziert: das sind Sie und ich, wir alle. Die großen Projekte der Nachkriegszeit, um nur dort einmal anzuknüpfen, bestanden nicht etwa im Wirtschaftswunderland Deutschland, nein, sie bestanden darin, Teilhabe mit Respekt und Wertschätzung zu verbinden. Die Öffnung der Universitäten, die berufliche Bildung, die politisch-wirtschaftliche ‚Gleichstellung‘ der Frau, alles Projekte der Entwicklung und Veränderung von Gesellschaft. Dabei gab es Streit, Wettbewerb, Diskurs und doch auch wieder Konsens.

Dieser Konsens hatte auch etwas mit Treue zu unseren Werten der Nachkriegsgesellschaft zu tun: Aufrichtigkeit, Wertschätzung, Kompromissbereitschaft, Zuhören, dem anderen das Wort gönnen, der Autorität ihren Platz nicht streitig machen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Autorität. Nicht zu verwechseln mit autoritär. Nicht dem doktrinären Denken oder Schreihälsen mit Scheinargumenten. Damit sind wir bis zur Jahrtausendwende ganz gut gefahren. Dann begann mit dem Siegeszug des Internets, später noch dazu social media, eine Entwicklung, die ich sehr bedauerlich finde. Heute werden wie selbstverständlich bereits Kinder von Kindern gemobbt, Antisemitismus ist alltäglich wieder in der Gesellschaft angekommen, Juden müssen sich auf unseren Straßen fürchten, Migranten werden angefeindet, beschimpft, oder sogar in Rudeln verfolgt. Ich will es dabei bewenden lassen. Sie wissen darüber Bescheid. Und ich  muss sagen: ich schäme mich für dieses Deutschland! Und zwar tief! Man mag mit Israel und seiner Politik im Nahostzusammenhang nicht übereinstimmen, nie aber könnte das die Scham auslöschen, die in unserem Namen durch den Holocaust über uns gekommen ist. Wenn ich dann lese, was sich so zuträgt in unserer ‚offenen Gesellschaft‘, dann möchte ich mich manchmal in unbeschwerte Zeiten zurückwünschen. Das ist aber falsch, denn da war ich ein Kind und habe die Welt nur mit meinen Kinderaugen wahrgenommen. Heute müssen wir hinschauen, uns zu Wort melden, uns einmischen!

Wir kommen (als Gesellschaft) langsam aber sicher vom Kurs ab. Der lautete früher: wir haben Werte, die wir alle teilen und auch verteidigen: gegen rechts, gegen links, gegen staatsfeindliche Übergriffe. Manchmal mussten wir uns auch gegen staatliches Handel wehren, dafür sieht unsere Rechtsordnung gute Instrumente vor: etwa das Bundesverfassungsgericht, das jeder Einzelne anrufen kann, wenn er seine verfassungsmäßigen Rechte verletzt sieht. Da liegt also nicht unser Problem. Es liegt vielmehr hier: wir verwüsten uns selbst. Wir lassen die o.g. Dinge, Worte und Taten zu, bleiben in unserer eigenen kleinen Welt, wo wir Gleichgesinnte kennen und schätzen. Punkt! Im letzten Monat war ich auf einer kleinen politischen Veranstaltung zur Mahnung an den November 1938, die Reichsprogromnacht. Können Sie sich heute vorstellen, dass ein Mitbürger aus ihrer unmittelbaren Umgebung aus dem Betrieb gerissen wird, dieser angezündet, die Menschen auf die Straße getrieben, von einem Mob verfolgt und geschlagen werden, das Vermögen der Familie konfisziert wird, das Haus neuen ‚Eigentümern‘ gegeben wird? Nein, sicher nicht. Mich haben die Schilderungen der Erniedrigung und des Vertreibens von Bürgen aus unserer Mitte sehr betroffen gemacht. Das Haus gibt es noch, die Menschen nicht mehr…

Sind wir heute schon wieder soweit: ganz eindeutig nein. Warum also die Aufregung? Auch das ist eindeutig: wenn einmal die Kompassnadel des Gewissens in die falsche Richtung weist, das ethisch-moralische (christliche) Magnetfeld abhandenkommt, können wir unseren Kurs nicht mehr halten. Was ist aber die Richtung? Für uns Christen ist es eigentlich denkbar einfach: der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig wurde, der gekreuzigte und auferstandene Friedensbote Gottes – Jesus Christus. Darin spiegeln sich jene Dinge wieder, die unsere Gesellschaft so entwickelt haben wie wir sie kennen und schätzen. Doch nun? Sind wir im Begriff zu Verspielen, was uns geschenkt wurde. Wenn die Herzen der Menschen mit Wut, mit Hass, mit dem Willen zur Zerstörung angefüllt werden, öffnen wir den Weg zur Verwüstung unserer Gesellschaft. Wie nehmen das unsere Kinder wahr? Wie kommt das im Ausland an? Was richtet es mit uns selbst an?

Was können wir tun? Sehr viel. Uns um Wahrhaftigkeit bemühen. Also darum profunde Kenntnisse von Autoritäten anzuerkennen, wenn die Argumente nachvollziehbar sind, uns überzeugen können. Nicht aber: aus Trotz uns gegen jeden Verstand und jede Vernunft dagegen aussprechen, aus Wut oder Enttäuschung versuchen, den anderen niederzuringen. Denn: meinen ist nicht wissen! Ohne bei Sokrates, Platon und Aristoteles auszuholen, kurz gesagt, ein validiertes Argument anerkennen. Uns bemühen ebenso zu argumentieren, um Wissen und Wahrheit zu ermöglichen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: der NRW-Innenminister Herbert Reul hat im Zusammenhang mit der widerrechtlichen Abschiebung eines Asylbewerbers im Sommer das Verwaltungsgericht, das die Rückholung des Bewerbers angeordnet hatte kritisiert und in seiner Kritik darauf verwiesen, das Gericht habe nicht das auf das Rechtsempfinden der Bürger bei diesem Fall geschaut. Im Nachgang hat er sich dann entschuldigt. Da war aber das Kind im Brunnen. Warum ist so etwas fatal? Erstens, Herr Reul ist kein Jurist, da wäre es besonders wichtig, sich beraten zu lassen, bevor man öffentlich (!) Kritik übt. Zweitens: das sogenannte „Rechtsempfinden“ der Bürger ist nicht einmal ein unbestimmter Rechtsbegriff, aus gutem Grund kennt die deutsche Jurisprudenz ihn als Maßstab nicht. Wohin ein solches Empfinden führen kann (s.o.). Drittens lagen offensichtliche Fehler bei der Entscheidung, den Bewerber abzuschieben, zugrunde. Diese rechtsfehlerhafte Entscheidung hat das Gericht korrigiert, was vom Oberverwaltungsgericht bestätigt wurde. So weit so gut: denn unser Rechtsstaat funktioniert! Was aber fatal ist, der (nicht juristisch vorgebildete) Bürger nimmt wahr: die Gerichte entscheiden gegen uns! Gegen das Volksinteresse. Selbst wenn die Richtigstellung später erfolgte, die Leute registrieren das und es bestätigt negativ ihre Vorurteile. Denn der Kritiker ist ja Innenminister! Doch er lag grob daneben. Das weiß aber eben der Durchschnittsbürger nicht, vielleicht interessiert es ihn auch nicht. Wohl aber interessiert ihn die Bestätigung seines gefühlten Vorurteils: die da oben, ein Sauhaufen. Warum soll man sich nicht selbst eigene ‚Meinungen‘ erlauben, wenn die da oben das dauernd tun: in der Politik, der Wirtschaft (gelogen und betrogen), der Kirche, den Vereinen, kurz machen doch alle so! Da soll ich hinterm Berg halten? Meine Wahrheiten sind doch auch welche, nämlich meine Meinungen. Und sollen auch zählen. Was dabei abläuft ist eine kindliche Regression. Weil ich nicht gehört werde, mir aber auch nicht die Mühe mache, differenziert argumentieren zu können, beziehe ich eine Immunisierungsposition: nur noch meine Meinung gilt! Die bekomme ich dann von anderen gespiegelt, die auch so denken und schon ist aus meiner Meinung die Wahrheit erwachsen. Erwachsen ist das Verhalten aber nicht, sondern nur billig. Und gefährlich. Erst über die Kombination von Immunisierung und Echokammer schaffe ich jene Schieflage, aus der heraus ich mir meine „Wahrheit“ konstruiere. So etwas nennen die Fachleute: Konstruktivismus. Oder anders gewendet: bei Paul Watzlawick gibt es folgende Anekdote. Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er “Guten Tag” sagen kann, schreit ihn unser Mann an: “Behalten Sie Ihren Hammer”. (aus P. Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein.) Ich sehe das so: nach dem ersten Lachen erfolgt kein zweites, eher vielleicht ein Klos, denn keiner kann sich von seinen Vorurteilen freisprechen. Und wie in diesem Beispiel geht es manchmal sehr schnell und man schnappt über…

Wir erleben derzeit eine große Unsicherheit in weiten Teilen der Gesellschaft. Die Komplexität von Wirklichkeit, das komplizierte Zusammenspiel oft nicht erkennbare Hintergründe für Dynamiken macht vielen Menschen Angst, sie ziehen sich zurück in ihre unmittelbare Erlebniswelt. Was also tun? Nach meinem Dafürhalten müssten wir alle gemeinsam einen großen, neuen Gesellschaftsentwurf wagen: nicht das Herumbasteln an Hartz IV, Baukindergeld, Mütterrente oder was auch immer. Wir müssen unsere Gesellschaft „neu“ denken, soweit wir das im Rahmen der Verfassung können und dürfen. Doch die Ziele sollten schon ambitioniert sein. Lassen Sie mich mal ein bisschen träumen:

  1. Warum haben wir eigentlich kein Gesellschaftsministerium? Es könnte aus den bekannten Ministerien Zuständigkeiten bekommen, dazu einen großen Think-Tank und die Beteiligung von Bürgerkomitte, NGO’s etc. Das Ministerium selbst sollte bewusst klein gehalten sein, aber einen direkten Zugang für die Menschen ermöglichen.
  2. Da ließen sich Fragen diskutieren, die sonst nur der Bundestag verhandelt (oder auch nicht): Was würde wir mit einer Reform des Sozialstaates erreichen können? Wie sähe das aus? Stichwort Bürgergeld oder Grundeinkommen. Würden damit kreative Kräfte freigesetzt, die sich auch wertschöpfend für die Gesellschaft (neue Geschäftsmodelle, künstlerische Arbeiten…) entwickeln können? Wie integrieren wir die Kreativität der bislang Kreativlosen? Können wir damit den demografischen Wandel ökonomisch besser gestalten? Wie gehen wir mit den disruptiven Entwicklungen im Bereich von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz um? Hier werden wir auch darüber Arbeitsplätze verlieren, dass nicht jeder Arbeitnehmer sich für die ‚neuen‘ Arbeitsplätze wird qualifizieren können. Weiterbildung alleine hilft da nur bedingt. Eben deshalb habe ich die Kreativität angesprochen, sie könnte zukünftig auch ein Schlüssel für die Wirtschaft werden. Aber dazu bedarf es einer gesicherten Grundposition, von der aus ich arbeiten und experimentieren kann.
  3. Was für ein Europa wollen wir haben? Das der Salvinis, Orbans, Wilders, Mélenchons oder anderer Vertreter? Oder eher eines das für Mitte und Maß, Integration und Hilfsbereitschaft, Wertschätzung und Rücksicht auf Eigenheiten nimmt? Müssen wir uns in einer sich permanent verändernden globalen Welt auch militärisch wieder neu orientieren (Stichwort: europäische Armee).

Ah ja, ich sehe schon, es wir ganz schnell wieder komplex und kompliziert. Aber, wir können davor kapitulieren oder wir nehmen die Herausforderung an und stellen uns ihr gemeinsam. Dann haben wir ganz sicher jene Kreativität, die nötig ist, aber auch ausreichend sein wird, um alles zu bewältigen.

IML