Selten lesen wir von Bestsellern aus dem Bereich der Wissenschaft. „Gödel, Escher, Bach“ von Douglas R. Hofstadter war so ein Erfolg. Nicht minder derjenige von John Rawls, Philosoph an der Harvard University, mit „A Theory of Justice“, erschienen vor 50 Jahren und weltweit übersetzt.
Rawls definiert die Gerechtigkeit als erste unter den sozialen Tugenden, verbunden mit der Wahrheit unserer Denksysteme. Theorie bedeutet für ihn dabei ganz klassisch das Schauen einer Idee. Diese ist immer der Falsifikation unterworfen, kann (muss) also revidierbar und anpassbar oder eben auch ganz ersetzbar bleiben. Schließlich leben wir in einem (hoffentlich) ständigen Erkenntnisfortschritt, der uns diese Anpassungen abnötigt. Was hier für die Theorie gilt, gilt dann auch für Gesetzte, Institutionen, im Grunde alles womit wir das Leben gestalten, individuell wie auch als ganze Gesellschaft. In Bezug zur Gerechtigkeit gesetzt bedeutet das für ihn die Unverletzlichkeit eines jeden Menschen, die sich aus diesem Grund speist und nicht durch (wie auch immer definierte Anforderungen) der Gesellschaft aufhebbar ist.
Nun ließe sich einwenden, in der westliche Welt habe dieser Gedanke Eingang in viele Verfassungen gefunden und sei auch in einfachen Gesetzen umgesetzt. Doch die Lücken im Theoretischen wie auch Praktischen klaffen. Hinzu kommt die Auseinandersetzung zwischen Metaethik und normativer Ethik, die gerade im angelsächsischen Kulturkreis Wellen schlug. Hier wird zudem mit dem Utilitarismus argumentiert, also dem größtmöglichen Glück für eine größtmögliche Zahl an Teilnehmern (Mill, Bentham). Dem hält Rawls Immanuel Kant entgegen. Bereits ein Blick auf die amerikanische Verfassung zeigt ein sehr rudimentäres Gerechtigkeitsversprechen: Die Rahmensetzung (Fairness) bleibt ein formales Ziel, mithin für die Verwirklichungsformen des Glücks des Einzelnen, nicht aber als Anspruch für und auf ein gutes Leben selbst. Denn das würde mehr gesellschaftliche Anstrengung verlangen, doch hier steht ganz im utilitaristischen Sinne Wohlstand, Macht oder Einkommen im Vordergrund.
Was bedeutet das für das Funktionieren eines Gemeinwesens? Nach Rawls ist der Staat ein Modell sozialer Zusammenarbeit, bei dem die Freiheits- und Abwehrrechte des Einzelnen mit Sozialstaatlichkeit ergänzt werden: nicht der Fürsorgestaat, sondern der freiheitsorientierte Sozialstaat. Damit stellt sich Rawls dem utilitaristischen Bekenntnis entgegen, notfalls einige Bürger in ihren Rechten zu beschneiden, sofern die Mehrheit davon profitiert.
Doch was heißt (gesellschaftliche) Gerechtigkeit? Im antiken Sinne dikaiosýne, mit der das rechte menschliche Verhalten gemeint war (Rechtschaffenheit). Sich im Miteinander der Gemeinschaft nach dem richtigen Maßstab (Goldene Regel) zu verhalten, um Bevorzugung oder Benachteiligung möglichst auszuschließen. Da der Mensch zum Pleonasmus neigt, also dem immer mehr haben wollen, geht es nicht zuletzt um Ressourcenverteilungskämpfe. Spätestens an dieser Stelle greift das Gerechtigkeitsprinzip für eine Gesellschaft, zumal die begehrten Güter von und in der Gesellschaft ja erst geschaffen werden. Soweit nun für die Freiheits- und Abwehrechte keine Ausnahme zulässig ist (Grundrecht auf Leben, körperliche Unversehrtheit), kann davon für das Wirtschaftsgeschehen bedingt abgewichen werden. Zum einen muss die Besetzung öffentlicher Posten ohne Vorbedingungen mögliche sein (Chancengleichheit), zum anderen sind hinsichtlich des Differenzprinzips in der Wirtschaft diejenigen über staatlichen Ausgleich besser zu stellen, die die höchsten Sozialkosten in der Gesellschaft zu tragen haben (Armut). Denn hier liegt nicht nur eine moralische Pflicht des Gemeinwesens für individuelle Bildungs- und Entwicklungschancen zu sorgen, sondern auch die Aufgabe einen Ressourcenpool zu erschließen, der zu einer weiteren Auffächerung der Wohlstandsmöglichkeiten des Gemeinwesens beiträgt. Leave noone behind sagt man heute. Mit Verweis auf Götz Werner und andere könnte man daran anschließend etwa das (bedingungslose) Grundeinkommen anführen, das sich vom Grundgedanken her bereits bei Rawls findet. Die gesamtgesellschaftliche Schranke sind die Zukunftsinvestitionen in die Infrastruktur (inkl. Bildung, Forschung, Medizin usw.), die in gleicher Weise für die Gerechtigkeit der zukünftigen Generation vorgehalten und entwickelt werden müssen, ein Plädoyer für einen ausgeglichenen Staatshaushalt inklusive.
Eingebettet ist eine derartige „Soziale Marktwirtschaft“ in eine rechts- und verfassungsstaatliche Demokratie, soweit sie im Sinne Rawls freiheitsfördernd ist. Das für alle Bereiche als Maßstab gesetzte Gleichheitsprinzip, auf das auch unsere Verfassung rekurriert und zu dem es doch noch eines zusätzlichen einfachen Gesetzes bedurfte (1977: Gleichstellungsgesetz), fordert für Gruppen wie auch das Individuum die von allen staatlichen Eingriffen freie Religionsausübung, Versammlungs- und Vereinsfreiheit usw., um eine möglichst weite Ausdifferenzierung der Gesellschaft ohne staatliche Bevormundung zu ermöglichen.
Auch Rawls sieht, dass die Staatskunst limitiert ist. Deshalb können Ungleichheiten nicht per se ausgeschlossen werden. Umso wichtiger scheint ihm, nicht auf den Unterschied zwischen Arm und Reich zu schauen, sondern den Fokus darauf zu legen, dass es ärmeren Schichten möglichst gut geht: freie Bildungszugänge, eine allgemeine Krankenversicherung, Zugang zu sonstigen staatlichen Leistungen. Insoweit mag es durchaus auch privaten Reichtum geben. Privat bleibt dieser allerdings dann nicht, wenn er politisch genutzt wird (Wahlkampffinanzierung). Eine derartige Instrumentalisierung lehnt er ausdrücklich ab. Sie führt zur Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes und damit zur Ungleichverteilung von Einfluss (Macht) im politischen System, sprich zur Benachteiligung derer, die sich diesen Einfluss nicht leisten („kaufen“) können.
Was bleibt? Der Weg ist noch lang. Selbst bei uns herrschen noch beabzulehnenden Bedingungen: keine Gleichheit im Rawlschen Sinne, Diskriminierung ist gerade für Menschen mit Migrationshintergrund ein heikles und aktuelles Thema, Rassismus oder Me-too, Antisemitismus, die Liste ist leider noch sehr lang! Der Gewinn an Grund- und Menschrechten, die unsere Verfassung verheißt bricht oft genug in der Praxis am einfachen Fehlverhalten der Menschen: wenn etwa der Name auf einen Migrationshintergrund schließen lässt und der Bewerber deshalb ausgegrenzt wird (Beispiel Wohnungsmarkt). Ebenso gehört das Thema Obdachlosigkeit hierher. Eine Wohlstandsgesellschaft, die sich rühmt Exportweltmeister zu sein, Lokomotive für die EU und anderes mehr – wie erbärmlich steht sie angesichts der vielen obdachlosen Menschen da? Dort kracht sie laut auf den Hosenboden. Und wir alle sind es, die sich diese Schuh im wahrsten Sinne des Wortes anziehen müssen, feststellend, dass er extrem drückt. Warum ändern wir das nicht?
Ingo-Maria Langen, März 2021