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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Neuere afrikanische Literatur – einige Überlegungen

In diesem Jahr durften wir Zeugen von zwei bemerkenswerten und wichtigen Ereignissen werden. Zum einen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe, die als Filmemacherin und Autorin längst zu den hervorgehobenen Stimmen der Gegenwartsliteratur des Kontinents zählt. „In ihren Filmen thematisiert sie Probleme, die durch das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne entstehen“, so der Stiftungsrat. 1988 debütierte sie mit „Nervous Conditions“ (dt. „Aufstehen“), 2006 folgte „The Book of Not“ und 2018 „This Mournable Body“ (dt. „Überleben“). In dieser Trilogie beschreibt Dangarembga den Kampf einer jungen Frau um das Recht auf Selbstbestimmung und ein menschenwürdiges Leben. „Dabei zeigt sie soziale und moralische Konflikte auf, die weit über den regionalen Bezug hinausgehen und Resonanzräume für globale Gerechtigkeitsfragen eröffnen“, so der Stiftungsrat weiter. In ihrer Dankesrede unterstrich die Preisträgerin, nur dann eine Entwicklung vorantreiben zu können, wenn wir eine neue Aufklärung initiieren zur Lösung unserer Weltprobleme. Afrika sei bereit dazu: Klimakrise, Bildungskrise, Hunger- und Gesundheitskrise – in einer zusammenwachsenden Welt werden diese Krisen auch zu unseren Krisen. Eine neue Aufklärung bedeute deshalb: den Platz in Afrika nutzen, die Jugend in Afrika nutzen, den kulturellen Reichtum Afrikas nutzen im gemeinsamen Erarbeiten eines Paradigmenwechsels. Weg von Rassismus, Unterdrückung und Gewalt, weg von ausbeuterischen Strukturen. Seit die Kolonisierung Afrikas begonnen habe, etwa durch die Briten in Simbabwe (später „Rhodesien“), habe die Gewalt nicht aufgehört: die physische, die strukturelle, die institutionelle. Wenn wir eine neue Aufklärung brauchen, dann müssen wir es schaffen, das abzuschaffen, was uns daran hindert, uns auf Augenhöhe, mit Respekt und Empathie zu begegnen: Gewalt und Suprematie. Sanftmut und Freude am DU sind der Schlüssel und der liege in Afrika. Denn: Die Schwarzen wurden durch die Kolonisierung ab dem 15./16. Jh. zu Opfern der Weißen mit ihren Segelschiffen. Heute segeln Schwarze zu den ehemaligen Kolonialisten nach Europa und ertrinken im Meer vor ihren Küsten. Nur wenn wir einander die Hände reichen und uns gegenseitig unterstützen, fördern und inspirieren, werden wir die Probleme der Menschen und damit der Erde lösen.

Zu den Geschichten der Toten kommt kein Wort hinzu

Im November wird der Literaturnobelpreis 2021 an Abdulrazak Gurnah verliehen. Britischer Autor, geboren auf Sansibar (damals unter britischem Mandat) vor der Küste Ostafrikas. Die Jury würdigte ihn für seine „kompromisslose und einfühlsame Durchdringung des Kolonialismus“. An dieser Stelle von besonderer Bedeutung und des Wissens wert: die größte Kolonie des Deutschen Reichs befand sich in Ostafrika. Das heutige Tansania, Burundi und Ruanda wurden von den Deutschen „kolonisiert“. Obschon gut erforscht, fristet dieser Teil der deutschen Kolonialgeschichte in der öffentlichen Aufmerksamkeit eher ein randständiges Dasein. Deutlich mehr Zuspruch bekommt – gerade auch medial – Namibia, das ehemalige Deutsch-Südwest-Afrika. Gurnah thematisiert in seinen beiden Romanen „Paradise“ (1994) und „Afterlives“ (2020) die Entwicklungen auf der Schnittstelle von binnen- zu extra-kolonialen Einflüssen auf die Menschen und ihre Kulturen. Im Hintergrund des Geschehens immer mit dabei: Gewalt und Unterdrückung, etwa des „einheimischen Denkens“, das als minderwertig und monolithisch gedacht wurde, ohne dieses „nativ mind“ jedoch wirklich zu kennen, noch sich darum zu bemühen. In der Konsequenz dieses Desinteresses und der grundsätzlich abwertenden Einstellung der indigenen Bevölkerung betrieben die Deutschen grausame Kriegshandlungen bis weit ins Landesinnere, die oftmals alle Lebensgrundlagen vernichten sollten. „Afterlives“ zeigt dies als Folie: Die Deutschen in ihrem Tötungswahn hinterließen ein mit Knochen und Schädeln übersätes Land und mit Blut durchtränkte Erde. Man mag es sich nicht vorstellen! Und doch gehen die Romane über diese Perspektive hinaus, zeichnen in einer Nahsicht die kolonisierten Menschen nach, ihre besondere Lebenswelt, die Einflüsse indischer und arabischer Kultur (insbesondere islamische Gelehrsamkeit) in Ostafrika, das Handelsnetz von Madagaskar über die Komoren bis hin zur arabischen Halbinsel. Auf Sansibar gab es die Möglichkeit von Netzwerken für die Kreditierung der Handelsströme, mithin die Chance größere Güterströme zu finanzieren. So bleiben die Figuren Gurnahs nicht in der Opferrolle, sondern entwickeln sich lebendig, finden ihren Weg oder verlieren sich im Dickicht des Lebens, sind Teil der Binnenkolonisation.

Vom Ende der Illusion: Migranten in einer Klassengesellschaft

Zadie Smith – *1975 (London) erzählt in London N-W. (Roman in fünf Teilen), die Perspektiven von Lea, Felix u. Natalie. Ein weiterer Teil fokussiert Natalie und Nathan u. Teil fünf führt die Stränge zusammen. Die Teile sind unterschiedlich geschrieben, sie umfassen mal einen Tag, mal ein ganzes Leben oder auch einen Bewusstseinsstrom, durchkreuzt mit dem Geschnatter der anderen. Hier schimmert Joyces Ulysses durch, lässt sich Londons Stadtteil Kilburn / Willesden über die Geräusche und Gerüche ebenso gut nachempfinden wie Dublin. – Vier Schulfreunde und deren Entwicklung in ihren Leben, nebenbei ein Porträt unserer Klassengesellschaft. Werke: Zähne zeigen (2000), Von der Schönheit (2005), London N-W (2012), Swing Time (2016) Auswahl. Plus Essays und Erzählungen.

 

Chimamanda Ngozi Adichie – *1977 Enugu, Nigeria. Hubert Spiegel schreibt zu ihrem Roman „Americanah“ aus 2014 in der F.A.Z. (10.05.2014): „Adichies Roman (ist) eine Streitschrift, die im erzählerischen Schafspelz der zwei Jahrzehnte umspannenden Liebesgeschichte von Ifemelu und Obinze auftritt, um gegen Rassismus und die ihn beschönigenden gesellschaftlichen wie sprachlichen Konventionen aufzubegehren. Das tut Adichie vor allem mit zwei Mitteln: Da ist zum einen Ifemelus immer wieder in die Handlung eingeblendeter Blog mit dem programmatischen Titel ‚Raceteenth oder Ein paar Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht-amerikanischen Schwarzen‘. Darin geht es sehr um die offenen und versteckten Formen der Diskriminierung von Menschen nichtweißer Hautfarbe wie um die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Hierarchien innerhalb einer Gruppe von Menschen, die allein dadurch zu einer Gemeinschaft werden, dass sie nicht weißhäutig sind. Das zweite Mittel ist die Figurenzeichnung. Adichie ist eine Meisterin des entlarvenden Dialogs und ihr Roman nicht zuletzt eine Abfolge von Schilderungen sehr unterschiedlicher Milieus.“

Colson WhitheadDie Nickel Boys.

Untergründig grundiert

Jüngere amerikanische Geschichte mit ihren Ausläufern in die Gegenwart: In Florida soll auf dem ehemaligen Gelände einer Besserungsanstalt ein Büroviertel entstehen. Archäologiestudenten stoßen bei Grabungen auf einen geheimen Friedhof einer „Industrieschule für Jungen“, die nach ihrem Leiter „Nickel Academy“ genannt wurde. Was die überwiegend schwarzen Jungs dort erlebten und wie manche den Tod fanden, sowie die gesellschaftlichen Auffassungen von damals (1960ff.), das schildert der Roman.

Besprechung Jan. 2021 unter „Bücher & Co.“ auf dem Blog

Wiederentdeckung:

Dorothy West – Die Hochzeit, Hoffmann & Campe, Hamburg 2021. Ein Generationen-Roman aus der Schwarzen Community der Fünfziger, in denen auch Familien der schwarzen Mittelschicht versuchen den amerikanischen Traum vom sozialen Aufstieg durch Arbeit und Leistung zu realisieren. Martha’s Vineyard spielt dabei als Kulisse eine tragende Rolle, dort soll eine gemischt-farbige Hochzeit stattfinden, doch auf beiden Seiten intensivieren sich die Vorurteile, eine kränkelnde Selbstwahrnehmung verstellt die Sicht und trotz Erfolgs, gerade auf der schwarzen Seite, zweifeln die Figuren an ihrer Selbstwirksamkeit. Ein fast zeitloses Porträt der „schwarz-weißen“ Gesellschaftsentwicklung in den USA.

Ingo-Maria Langen, November 2021