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Via Conci
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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Die eine Querschnittsaufgabe der Politik

Wir sind verwöhnt, richtig verwöhnt. Vielstimmig im Chor, doch höchst uneinig in der Sache. Nun ist der Schritt zur nächsten GroKo also vollzogen – die großen Unwägbarkeiten bleiben, insbesondere hinsichtlich der Polarisierung, Fragmentierung, Entsolidarisierung weiter Teile unserer Gesellschaft.

Natürlich gibt es große Themen, die eine stabile, handlungsfähige Regierung gut angehen kann: den Brexit, die europäische Integration (Stichwort EU-Ost-Erweiterung), die Transferunion, den Euro, Griechenland, Italien, Spanien, puh, das wird schon viel, Sie merken es… Doch es kommt noch dicker: die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (ja, die Amerikaner tun‘s nicht mehr so wie früher), die teilweise maroden technischen Einrichtung der Bundeswehr (Stichwort Panzer oder U-Boote), die Sicherung der NATO-Außengrenzen, das Flüchtlingsproblem… Wir kommen noch darauf zurück.

Doch nun zu meiner Querschnittsaufgabe: wir brauchen dringend ein zusätzliches Ministerium! Nein, um im Rahmen der schwarzen Null zu bleiben, es geht auch eine Nummer kleiner. Ein Think-Tank würde ausreichen. Angedockt beim Bundeskanzleramt. Wozu? Um Gesellschaftspolitik als echte (!) Querschnittsaufgabe zu betreiben, was jetzt noch gesplittet ist zwischen Familien, Innen- oder Finanz- und Arbeitsressort, sollte gebündelt werden in der politischen Ausrichtung, ohne dafür die Strukturen grundlegend ändern oder erweitern zu müssen.

Was wäre die Aufgabe eines solchen „Tanks“? Analyse, Konzepte, Kalkulation, Umsetzungsschritte. Sie finden, das klingt nach ‚alter Hut‘. Ja, das stimmt. Aber: wir haben es bitter nötig!

Lassen Sie mich ein Paar Felder dazu aufmachen:

  1. Die hochgelobte Integrationsleistung der „Bürger Ost“ ist in weiten Teilen misslungen! Politische Extremhaltungen verbreiten und drücken sich in Wahlen aus.
  2. Den nachwachsenden Generationen gelingt auf immer breiterer Basis nicht der Einstieg (Aufstieg) in gesellschaftliche Entwicklungen, die vor 40 Jahren noch selbstverständlich waren – trotz des weltweit besten Ausbildungsmodells.
  3. Prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen trotz Hochkonjunktur nicht ab.
  4. Das gesellschaftliche Klima ist von zwei extremen Polen getrieben: auf der einen Seite die Interessen- und Teilnahmslosigkeit selbst im engen Umfeld (Nachbarschaft), was zur Entsolidarisierung führt. Auf der anderen Seite die fortgesetzten und aufpeitschenden „Shitstorm-Compainges“, die selbst den kleinsten Anlass nutzen, um ihren Hass in die Welt zu spucken.
  5. Die Unfähigkeit der Politik, dem zu begegnen. Sicher: es werden facebook und Co. zu entsprechendem Handeln verpflichtet. Doch hier wird die Ursache mit dem Symptom verwechselt.

Konsequenz: es muss ein gesellschaftliches Klima geschaffen werden („geistig-moralische Wende“ H. Kohl), dass eine Sozialkultur erzeugt, die trotz ihrer Vielfältigkeit integrativ wirkt. Wie kann man das hinbekommen?

Lassen Sie mich einen kurzen Blick zurück in die klassische Antike werfen: die alten Griechen sprachen ganz zu Recht von der stasis als der schlimmsten Form gesellschaftlicher Gefahr. Der Bürgerkrieg (noch heute gut nachlesbar bei Thykidides im Peloponnesischen Krieg) erschien als das staatszersetzende Moment schlechthin. Warum? Weil das aufgehetzte Volk völlig aus dem Ruder und schließlich Amok läuft. Ein anderes Beispiel? Ruanda 1994. Mehr brauche ich nicht zu sagen. Aber, denken Sie jetzt, hier? Das ist unmöglich! Ist es das?

Beginnen möchte ich meine Reise des Zweifels mit den Bemühungen der Integrationsministerin in Sachsen, Petra Köpping (SPD). Die Begegnungen mit den Menschen im Land haben sie zu der Überzeugung gebracht, dass sich im Wahlerfolg für die AfD ein ganz grundsätzlicher Protest artikuliert, der endlich (!) gesehen und ernst genommen werden muss. Wenn ganze Familien zu Vereinigungsverlieren geworden sind, obwohl die Ausbildung und der berufliche Lebensweg einen guten Anschluss verheißen hatten, Landstriche sich entvölkern, weil gerade junge und bestens ausgebildete Menschen in den Westen abwandern, am Weltmarkt konkurrenzfähige Unternehmen nach 1990 einfach abgewickelt wurden, dann hinterlässt das Spuren: in den Köpfen und Seelen der Menschen, in den Biografien, in der Selbstwahrnehmung. Zu Beginn ihrer Amtszeit in 2014 haben ihr die Menschen gesagt: „Sie mit Ihren Flüchtlingen! Integrieren Sie doch erstmal uns!“ Ein Satz der zu denken gibt. 2005 (!) waren in der Region Borna über 30% arbeitslos. Das empfanden viele als Demütigung. Eine Demütigung, die Wut erzeugt: ohne Job kein Geld, keine Teilhabe. Obwohl viele Jobs mit geringerer Qualifikation angenommen, Fortbildungen absolviert, Weiterbildungen unternommen haben. Doch mit den Jahren sind sie dann in einer Rente von knapp 700 Euro angekommen. Noch Fragen? Für diese Menschen haben sich keine „blühenden Landschaften“ (H. Kohl) aufgebaut. Was machen die wohl mit ihrer Wut, der Frustration, dem Gefühl des Zurückgelassenen? Dann 2015: „Wir schaffen das!“ Mit dem als enorm empfundenen Flüchtlingsstrom wurde die kritische Gefühlslage nochmals verschärft: Neid, Angst, prekäre wirtschaftliche Verhältnisse, mangelhafte Infrastruktur, hier artikulierte sich, was sich nun bei der AfD addierte: 27%.

Hätte man den Menschen doch früher zugehört, ihre Sorgen und Nöte ernst genommen. Und: die Menschen wollen reden, doch es hört (kaum) einer zu. Deshalb fordert Petra Köpping: die Nach-Wende-Zeit muss nochmals aufgearbeitet werden. Hören Sie etwas dazu – es waren doch gerade GroKo-Verhandlungen…?

Ein weiteres Feld, das nicht ‚speziell‘ auf den Osten der Republik zugeschnitten ist: die Schulen klagen schon seit langer Zeit darüber, dass nicht nur die Infrastruktur erneuert werden muss, die noch tiefgreifenderen Probleme sind immaterieller Natur. Wenn gestandene Lehrkräfte nach über 35 Dienstjahren resigniert den Kopf schütteln und sagen: so schlimm war es noch nie, dann gibt das zu denken. Werden etwa an Berufsschulen die Eltern eingeladen, kommen nur noch ganz wenige (in Zahlen aus Dortmund: 1600 Einladungen zu 16 Interessierten in 2016). Woran liegt das? Die Einschätzung der Lehrer: Überforderung, Doppel- oder Mehrfachbelastungen (Pflege), Komplexität des Alltags, das Fehlen verlässlicher Orientierungen, kaum Solidarität und Zusammenhalt. Richtig: wir reden über die Eltern, nicht die Kids. In den Hauptschulen sieht noch düsterer aus: hier ist die Aussage, dass pro Jahrgang etwa 20% der Schüler vermittelt werden können (Schule / Ausbildung). Und der Rest? 40% geht in Qualifikationsschleifen – mit ungewissem Ausgang. Die anderen 40% tauchen ab? Wie bitte? Ja, Sie lesen richtig: es sind wieder Aussagen aus dem Ruhrgebiet. Diese letzten 40% verschwinden einfach von der Bildfläche. Geht nicht? Haben die Schulen auch gedacht… Um es dabei bewenden zu lassen (die Probleme sind weit vielschichtiger): wir ‚produzieren‘ derzeit einen Sockel von jungen Menschen, die kaum je produktiv zur Mitte der Gesellschaft aufschließen können! Was machen wir mit denen? Jeder einzelne ein Schicksal.

Das nächste Feld: prekäre Arbeitsverhältnisse (sachgrundlose Befristung). Nun gut, da hat sich etwas getan in den Groko-Verhandlungen. Zum Verständnis: es handelt sich um mehrere Million Beschäftigungsverhältnisse, zumeist für junge Leute, die sich ein Leben erst noch aufbauen müssen. Planungssicherheit? Jetzt dürfen diese Verträge maximal 18 Monate laufen, vorher waren es 24… Sicher, die Betriebe brauchen Flexibilität, die Wandlungen an den Märkten sind extrem schnell. Dennoch: ein Unternehmer, der Arbeitsplätze anbietet, trägt auch gesellschaftspolitische Verantwortung! Wo ist die in weiten Teilen geblieben? Ein Beispiel dazu: ein Bewerber mit Fachabi stellt sich bei mehreren Unternehmen vor, er möchte den Ausbildungsberuf zum Anwendungsprogrammierer absolvieren. Diverse Praktika hat er schon in petto. Nun arbeitet er wieder zur Probe, stellt sich gut an, bekommt beste Noten in Sozialverhalten und Kommunikation. Dennoch wird er nicht genommen. Der Grund? Es gibt Bewerber, die haben bessere Vorkenntnisse, die brauchen weniger „Input“, laufen alleine. Geht Ausbildung heute so? Ja, muss man für diese Fälle sagen. Da will ein junger Mensch, ist motiviert, bringt sich ein, doch die Tür bleibt verschlossen. Auch das gibt es 2018 in unserer bundesdeutschen Wirklichkeit. Wie kommt das wohl bei diesem jungen Menschen an?

Um diese Sicht noch etwas weiter anzureichern: Fachleute sagen derzeit im Zusammenhang mit Digitalisierung und Industrie 4.0 voraus, dass viele Jobs wegfallen – auch wenn andere neu entstehen mögen. Das war in Zeiten des Wandels immer so und gehört dazu. Doch es haben sich einige Grundparameter verschoben: die angesprochenen Jobs verlieren zumeist gut ausgebildete Facharbeiter, Fachhochschüler, Akademiker. Diese Gruppe – der klassische Mittelstand – war bislang auch über Krisen recht gut hinweggekommen. Doch mit der Digitalisierung und damit verbunden der exponentiell fortschreitenden KI wird der Wandel ein strak maschinengetriebener sein, Maschinenwissen eingeschlossen. Entleiben wir uns damit? Das kann ich nicht sagen. Besorgnis empfinde ich dennoch: sollten wir nicht in der Lage sein, den technischen Fortschritt sozialverträglich zu gestalten (man wird auch über das bedingungslose Grundeinkommen nachdenken müssen), dann kommen zu den oben genannten ‚Modernisierungsverlieren‘ aus dem Osten, die aus dem Westen hinzu. Und die werden sich artikulieren! Sollen wir also darauf zusteuern, dass eine AfD mit kruden populistischen Parolen und dem Ruf nach krassen Sozialstaatsprogrammen diese Menschen an sich bindet? Noch möchte ich einen Vergleich mit der Geschichte scheuen.

Kurz noch zu den letzten beiden Feldern: ich hoffe, es ist eines bereits ganz deutlich geworden. Wir alle müssen anpacken, solidarisch sein im Praktischen, uns zusammenschließen und eine Wertegemeinschaft bilden. Unsere Verfassung liefert dafür die Blaupause. Allerdings müssen wir das mit Leben füllen. Hilfsbereitschaft, Nachbarschaftshilfe, überall da, wo wir sehen: da könnte ich helfen. Doch wir halten uns zurück. Das muss sich ändern, Hilfe wieder selbstverständlich werden. Natürlich auch bei der Integration von Geflüchteten. Da leisten viele Ehrenamtliche bewundernswerte Arbeit, die nur allzu selten auch öffentlich gewürdigt wird. Integration gelingt mit und über uns alle, im täglichen, bei der Arbeit, in der Schule, im Verein. Dann gewinnen wir zurück, was uns lange Zeit ausgezeichnet hat: eine solidarische und verlässliche Gemeinschaft, in der es sich wirklich lohnt Heimat und Zufriedenheit zu erleben.

Deshalb komme ich auf meine Querschnittsaufgabe vom Beginn wieder zurück: wir sollten nicht warten bis uns wieder neue Flüchtlingsströme erreichen, bis die Konjunktur eine Pause einlegt oder eine neue Europakrise heraufzieht. Jetzt ist die Zeit zu handeln. Mit der Erhebung von Daten, der Entwicklung valider Konzepte und der Verknüpfung von Zukunftsaufgaben, die weit über eine Legislaturperiode hinausreichen: Demografie, Renten, Fachkräfte, die Jugend und der Sozialstaat. Das sind Themen, die von den Fachressorts in Teilen zugeliefert werden können, im „Think-Tank“ gebündelt und für Konzepte vorbereitet werden können. Konzepte, die auf zwei (!) Generationen vorausplanen, die gesellschaftliche Strukturen entwickeln helfen, um disruptive Entwicklungen abzufangen und ein solides Planungssoll zu erstellen. Das würde vielen Menschen wieder Vertrauen geben, Vertrauen, das in weiten Teilen verloren gegangen, aber die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass wir auch weiter stabile gesellschaftliche und politische Verhältnisse in Deutschland wie auch in Europa schaffen können. Wir sollten einmal darüber nachdenken, es lohnt sich.

Eine Nachbemerkung mögen Sie mir noch gestatten, leider ist auch diese mit großen Sorgen verknüpft: die kommende Sicherheitstagung in München hat einen Text zur Vorlage bekommen, der neben den aktuellen Krisenbewertungen (Stichwort Flüchtlinge) in Nahost und weltweit, auf systemische „Gewalt“ hinweist. Sowohl die USA als auch China, Russland und andere Staaten verwenden derzeit ein zunehmend aggressives Vokabular, das an Kriegsrhetorik erinnert. Der „Munic Security Report“ weist etwa darauf hin, dass die USA die von ihr selbst geschaffene Ordnung sabotieren, was sich auch in einem feindlichen, revisionistischen Politikstil ausdrückt (Nationalismus), mit konkreten Gefahren etwa für den INF-Abrüstungsertrag. Parallel steigen die Rüstungsausgaben weltweit, nehmen kriegerische Auseinandersetzungen zu. Der Ton zwischen Nordkorea und den USA oder China und den USA war auf beiden Seiten schon nahe am „Drücker“. Es werden Handelsabkommen zur Disposition gestellt (NAFTA), Mauern geplant… Eine derartige Politik kann Spannungen hervorrufen, die sich in militärischen Auseinandersetzungen entladen. Ein Blick nach Venezuela in diesen Tagen, lehrt wie schnell ein Land im Strudel einer Krise versinkt. Hinzu kommen noch die globalen Bedrohungen über den internationalen Terrorismus, oder das Wiederaufleben des Nordirland-Konflikts im Zuge des Brexit. Und bei alldem habe ich noch nichts zum drängenden Problem der Erderwärmung gesagt… Es gibt Schätzungen, denen zufolge über Kriege, Umweltkatastrophen und den Klimawandel bis 2050 etwa 200 Millionen bis 1 Milliarde Flüchtlinge nach Europa und Nordamerika drängen könnten (siehe BAMF: 2. Stuttgarter Forum für Entwicklung: Migration weltweit – Impulse für Entwicklung). Erinnern wir uns kurz an 2015: 1,5 Mio. Geflüchtete kamen zu uns. Bei so einer Entwicklung würden Griechenland, Spanien und Italien schlichtweg überrannt. Es ist also höchste Zeit, sich mit all dem zu beschäftigen, denn alles hängt mit allem zusammen.

Gleichwohl wünsche ich uns allen auch in diesem Frühjahr wieder einen Apfelbaum zu pflanzen, sein Wachsen und Gedeihen über die Zeiten hin zu sehen, uns daran zu erfreuen. – Ganz so wie wir es auch mit der Gesellschaft könnten.

Eine gute Zeit wünscht Ihnen, Ihr
Ingo-Maria Langen