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Via Conci
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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Meisterblätter

Schneede, Uwe M.

Edvard Munch – Meisterblätter
Katalog Internationale Tage Ingelheim 2022

Altes Rathaus bis 10. Juli 2022

Hirmer Verlag, München 2022
Abbildungen in Farbe / sw
160 Seiten, Hardcover, 21 x 27, 29,90.- €

 

Ein Leben malen

Jede neue Kunstrichtung beginnt mit einem Irrtum – so ließe sich larmoyant der Kritik entgegenhalten. Festgefahren im Althergebrachten übersieht diese Umbrüche, neue Entwicklungen. Ihrem ästhetizistischen Urteil verfallen Neuerscheinungen, gefällt sie sich doch um ihrer selbst willen. Munch hatte zu Beginn der 1890er Jahre bereits eine beachtliche Ausbildung abgeleistet. 1882 studierte er zunächst bei seinem Landsmann und Naturalisten Christian Korhg, in Paris bei Léon Bonnat nahm er Einflüsse der Impressionisten auf. Van Gogh, Gaugin und die Kunst der Symbolisten beeindruckten ihn zu dieser Zeit.

Der Fall Munch

1892 erhielt Munch eine Einladung des konservativen Vereins Berliner Künstler um Anton von Werner. Munchs Bilder lösten einen ungeheuren Furor bei Publikum und Kritik aus, das Sperrfeuer reichte von anarchischer Provokation bis hin zur Fülle an Trivialitäten der Kunstausstellung, Profanierung und Proletarisierung, befand der Kunstkritiker Karl Scheffler. Von Schmierwerken, Formlosigkeit, Rohheit, Brutalität der Malerei war die Rede (Adolf Rosenberg). Die Presse hetzte gegen Munch. Statt einer Rückbesinnung auf das Bewährte fand sich eine neue Gruppe von Künstlern zusammen, die den Aufbruch in die Moderne wagte. Der Munch-Skandal als Katalysator.

Welchen Anknüpfpunkt erkannten die Kritiker in den Werken Munchs? Die Holz- oder Metallschnitttechniken, oftmals brachial in den Stock getrieben, springen den Betrachter unmittelbar an, zeugen von einem Brüllen der Natur gegen den Menschen („Mädchen auf der Brücke“) und bewirken beim Umbruch auf Papier jene Subtilität, die das Unmittelbarkeitserlebnis balanciert. Das erfolgt bei den Lithografien über die Farbkombination, die über eine Mehrschrittigkeit zu ihrem finalen Tiefenausdruck finden. Sie repräsentieren oft widerstreitende Gefühle, alterierte Seelenzustände, die dem Harmoniebedürfnis des Betrachters widersprechen und gerade darum einen so starken Ausdruck entfalten. Gleich einer (visuellen) Vorwegnahme der um 1900 entstehenden Psychoanalyse deuten die Bilder Munchs vielfach extreme Seelenzustände aus. In Verbindung mit der gewählten Technik hatten seine Bilder das Potenzial den Betrachter zu verstören. Die Kombination verschiedener Verfahren (Aquinta- und Kaltnadeltechnik) erlaubte es durch Akzentuierungen Spannungen von Hell zu Dunkel zu beschreiben. Paradigmatisch im Ausdruck dazu die Lithografien. „Die Madonna“ fokussiert eines seiner Lebensthemen: die aus Sicht des Malers oft verhängnisvolle Beziehung zwischen Mann und Frau. In Ausdruck und Nachwirkung der Fin-de-siècle-Stimmung temperiert er dunkle Farbschleier, aus der die Madonna in Erscheinung tritt, nackt, mit schmerzerfülltem Ausdruck und fließend langen Haaren verschmilzt sie wiederum mit der Kulisse. Der Kopf in einem roten Kreis, einem Heiligenschein gleich, ätherisch, unheimlich, fast bedrohlich. Dem Zwiegespaltenen in Munchs Beziehungen zu Frauen verleiht er hier einen ephemeren Ausdruck. Sinnlich-verheißungsvolles Begehren droht von einem verschlingenden Dämon ins Schattenreich gezogen zu werden. Die rhythmisch geschwungene Linienführung um die Figur erzeugt eine holografische Tiefe, gleich einem Durchgang, Paradies oder Hölle, kaum zu deuten. Ähnlich die Gesichtszüge der Madonna: trägt sie die schmerzensreiche Erkenntnis oder die arrogante Herablassung? Es ist dieses individuell Ausdeutbare, das den Spannungsbogen für den Betrachter hält. Dessen je eigene Erfahrung wird die Sinnstiftung prägen. Munch blieb dem Mythos der „Femme fatale“ verhaftet, seine Beziehungserlebnisse stehen dafür Pate.

Widerborstige Empfindungen – die Seele sezieren

Persönliche Schicksalsschläge („Das kranke Kind“), das Erleben basaler Gefühle mit heftigen Ausschlägen (Angst, Freude, Glück, Trauer, Krankheit, Tod, Depression) prägen Munchs Arbeiten. „Der Schrei“ als Repräsentation der eigenen Angst (vor dem Tod) lässt den Betrachter förmlich die Existenzgefährdung (des Malers) fühlen. Systemisch gesprochen: Spüren wir uns mit geschlossenen Augen ein, die Bedrohung vor dem inneren Auge, können wir die Furcht körperlich in uns empfinden. Ein plastischer Ausdruck, der durch die Psychoanalyse in den Folgejahren seine theoretische Fundierung erfahren sollte. Bereits die frühen Bühnendarstellungen etwa mit Masken des japanischen Nō-Theaters arbeiten mit vergleichbaren emotionalen Eindrücken. Je nach Neigung können die Masken einen unterschiedlichen Gefühlsausdruck spiegeln und den Zuschauer so anrühren. Bis in unsere Zeit haben diese Masken (in Verbindung mit dem Bühnenspiel) nichts von ihrer Faszination verloren. Maskenhaft sieht uns auch das Gesicht in Munchs „Schrei“ an. Robert Rosenblum stellte 1978 die These auf, Munch habe bei seinem Paris-Aufenthalt 1889 während der Weltausstellung Mumien des peruanischen Volkes der Chachapoya gesehen, die ihm als Vorlage gedient haben könnten. Ein Nachweis dazu findet sich nicht. Allerdings hatte bereits Paul Gaugin Zeichnungen zu diesen Figuren in sein Skizzenbuch eingetragen. Munch: „So wie Leonardo da Vinci das Innere des menschlichen Körpers studierte und Leichen sezierte – so versuche ich, die Seele zu sezieren.“

Auf seinem Weg vom Naturalismus über den (französischen) Realismus hin zum Expressionismus nutzte Munch diverse Materialien und Techniken, um die Ausdrucksfähigkeit zu erhöhen. Experimente mit unterschiedlichen Farben, Steinen oder Holzstöcken führen zu Reihen von Grafiken. Die verwendeten Werkstoffe werden so Teil des künstlerischen Ausdrucks. Diese Form des künstlerischen Arbeitens hatte es bis dahin nicht gegeben, bis dato wurden Drucktechniken rein handwerklich genutzt. Über die Reihen entstanden zahlreiche Unikate, dasselbe Motiv mal in Aquarell, Tusche oder als Gouache.

Der renommierte Kunsthistoriker Uwe M. Schneede führt den Leser fachkundig durch Katalog und Ausstellung. Thematische Zuordnungen mit kurzem Aufriss erleichtern den Einstieg in die einzelnen Bereiche. Dabei entsteht ein Epochenbild zu Kunst und Gesellschaft am Beginn der Moderne.

Ingo-Maria Langen, Juli 2022