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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Der Mitläufer – Was Opportunisten für eine Gesellschaft bedeuten

Am 30. November 1918 erschien die erste Buchausgabe von Heinrich Mann „Der Untertan“. Ein Zeit(geist)analyse des Wilheminischen Obrigkeitsstaates. In eindringlicher und dafür auch so beklemmender Weise wird die Entwicklung eines Protagonisten geschildert, die aus heutiger Sicht, also 100 Jahre später (!), seltsam aktuell anmutet. Lassen Sie mich kurz schildern, was ich meine. Bereits im „Professor Unrat“ werden die Grundlagen des Staates der Kritik unterzogen. In beiden Romanen geht es um den Einfluss der Kirche, die Gewalt des Säbels, strikten Gehorsam und strenge Sitten. In seinem Aufsatz „Reichstag“ (1911) beschreibt Henrich Mann über den wilhelminischen Bürger als imperialistischen Widerling, eines Chauvinisten ohne Mitverantwortung, der in der Masse der Machtanbeter verschwindet, autoritätsgläubig wider besseres Wissen, als politischen Opportunisten und Vabanquespieler zulasten der Gesellschaft.

Bereits die ersten Seite des Settings weist die Richtung: „Dietrich Hessling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete… Wenn Diederich vom Märchenbuch aufsah… erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her! Fürcherlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Hessling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief. Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewusst: ‚Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zu wenig.“

Der Protagonist, Diederich Hessling, erfährt als Kind die für die damalige Zeit typischen Erziehungsmethoden. Er wird jedoch als „weiches Kind“ beschrieben, kein positives Selbstwertgefühl entwickelt, sich eher vernachlässigt, aber sich danach sehnt, anerkannt zu werden, und sich doch vor allem fürchtet. Aus dieser gewühlten wie erlebten Schwäche heraus, kultiviert Diederich Macht aus der Heimtücke heraus: er verpetzt seine Schwestern bei jeder Gelegenheit und zieht daraus ein Überlegenheitsgefühl. Das zeigt sich etwa in der späteren Schulszene, als er auf einem Pult ein Kreuz errichtet und den einzigen Juden der Klasse zwingt, davor niederzuknien. Der Beifall der Klasse, damit die Verteidigung der Christenheit zu symbolisieren, erregt ihn sehr. Wenngleich der Antisemitismus hier nicht in einer vordergründigen Position zu finden ist, so ist der allgemeine Rassismus gegen andere (Juden, dunkelhäutige Menschen) in jener beiläufigen Verachtung zu finden, die einen beim Lesen stocken lässt.

Demütigungen durch einen Stärkeren, der Eintritt in die schlagende Burschenschaft Neuteutonia, die Prägung durch die nationalkonservative Massenstimmung, schließlich wird er zum nationalistischen Agitator, doch vor dem Militärdienst hat er sich erfolgreich gedrückt. Er übernimmt die Fabrik seines Vaters, gründet eine Familie. Nun entfaltet er sein antrainiertes Können: als Agitator am Stammtisch, als Herr über einen Betrieb, als Eiferer gegen das Proletariat, der selbst die Erschießung eines Demonstranten begrüßt, als Beherrscher seiner Familie und als Zeuge in einem Prozess gegen einen jüdischen Mitbürger, der wegen Majestätsbeleidigung  angeklagt ist.

Die Fokusfigur entwickelt sich derweil zu einem intriganten Bürger, dessen Machenschaften es ihm ermöglichen, die Mehrheit an einem Konkurrenzbetrieb zu übernehmen, seine chauvinistische Haltung sichert ihm einen Orden durch den Stadtrat. Hessling schreit auf einer Kundgebung „Hurra“, schlicht weil es alle anderen auch tun, worin sich prototypisch ausdrückt, dass er keine Haltung hat, kein innerer Mensch, schon gar kein christlicher ist. Die Werte- und Haltungslosigkeit ermöglicht ihm im Gegenzug allerdings in jeder Situation opportunistisch zu reagieren. Kurt Tucholsky bemerkte zur Figur Hesslings, er sei kein Faschist, besitze aber alle Anlagen dazu, mit dem „deutschen Machtgedanken“, die so viele „kleine Könige in Deutschland“ ebenso in sich tragen…  Das Doppelgesichtige an Hessling tritt deutlich zutage: einerseits Tyrann in seinem Reich (Familie & Firma), andererseits Untertan als „Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismen“ wilhelminischer Zeit. Aus seinem Erleiden der Machtstrukturen destilliert er seine Lebensmaxime: „Wer treten wollte, musste sich treten lassen.“ So wird er trotz oder gerade aufgrund seiner persönlich niederschmetternden Erlebnisse mit der Macht und ihrer Struktur zu ihrem Verfechter und Erhalter. In seiner Rede zum Anlass der Ordensverleihung sagt er: „Die Seele deutschen Wesens, Verehrung der Macht“ überliefert und von Gott geweiht, kann man nichts machen… Gleich einem Strafgericht kommt jedoch die Apokalypse über das Kaiserreich.

Der Widerpart Diederich Hesslings, der alte Buck, der bereits die 48er Revolution erlebt und eine Jüdin geheiratet hatte, drückt die Hoffnung auf eine zivilisierte Gesellschaft aus. In dieser Spiegelung wirkt die Figur des Protagonisten noch dunkler. Die Mahnungen Bucks müssen uns heute (wieder) erschrecken: angesichts der rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa, besonders auch bei uns. Die „Feinde der Nation … und wären sie auch zwei Drittel der Nation“ leben wieder unter uns. Eine rechtspopulistische Minderheit macht die Mehrheit zum Feind. Buck appelliert: „Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmenschen! Das gebiete Ihnen Ihre eigene Menschenwürde.“ – Dem ist nichts hinzuzufügen.

Das Jahr 2018 hatte so viele bedenkenswerte historische Bezüge: 1618/48, 1848, 1918, 1938, 1948. Was haben wir gelernt, was leben wir aktiv?

Welche Haltung und welche Werte verkörpere ich? Täglich im Umgang mit meinen Mitmenschen? Schweige ich, wo ich reden sollte, Gesicht zeigen, ein Bekenntnis geben…

In diesem Sinne, herzlich Ihr

IML