Die Krise der Kirche – eine Krise der Gesellschaft nach 68? [1]
Inzwischen kennen Sie mich, liebe Leserin, lieber Leser, als ein der Kirche grundsätzlich zugewandter und wohlgesonnener Zeitgenosse, der sich eher sorgt um das Kirchenwohlergehen, als zu kritisch mit ihr umzugehen. Schon, weil ich ganz einfach befürchte, dass ein „Ausfall“ dieser Institution (gleich ob röm.-kath. oder ev.) einen irreparablen Schaden an unserer (noch) funktionierenden Gesellschaft hervorriefe. Leider lassen die vielfältigen Entwicklungen (Mitgliederzahlen, Reputationsschaden, Reformunwillen, Ignorieren von beherzten (!) und engagierten Menschen in und um Kirche herum) gerade dies befürchten. Uns ist der gesellschaftspolitische Leitfaden abhandengekommen, vielfach wird nur noch gehetzt, geschrien, niedergemacht, zerstört. Andererseits beklagen die lieben Zeitgenossen mangelnden Respekt, Höflichkeit, fehlendes Miteinander, die Sehnsucht nach Harmonie. Mich erinnert das ein wenig – Sie verzeihen mit den kindischen Spaß – an Goofy (Mr. Walker) als Autofahrer. Erinnern Sie sich? Als Fußgänger in New York, Himmel, er muss fast um sein Leben fürchten, er versteht die Welt nicht, in der so viel Rücksichtslosigkeit gelebt wird. Setzt er sich in sein Auto wird er zu Mr. Wheeler: Er übt dieselbe Rücksichtslosigkeit wie die anderen, über die er so erstaunt war. Disney versah den Kurzfilm 1950 (!!) mit einer kleinen Moral. Sie gilt heute noch: Die goldene Regel.
Genug der langen Vorrede. Was soll der Titel? Im Frühjahr 2019 hat Papst em. Benedikt XIV sich in einem langen Aufsatz zu den Krisenentwicklungen in der katholischen Kirche („Klerusblatt“ April 2019) geäußert. Allgemein gesprochen führt Benedikt die Krise insbesondere rund um die Missbrauchsthematik auf Gottlosigkeit und eine Entfremdung vom Glauben zurück. In einer ersten Reaktion ist man schnell geneigt dem zuzustimmen. Aber m.E. ist es denn doch nicht ganz so einfach.
Wie war die ‚Ausgangslage‘? Mit dem (in manchem sicher übertriebenen) Sturm durch die ‘68er wurde ein Knoten für die gesellschaftliche Entwicklung gelöst. Bis dahin galten insbesondere Konventionen in kirchlichen Dimensionen als sakrosankt. Die Kirche hatte weitreichenden Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen (Gewerkschaften, Sozialstaat, Erziehung, Moral…) Die Aufhebung des § 175 StGB (Verbot homosexueller Handlungen) erfolgte erst mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz im Mai 1994. Die fünfziger und sechziger Jahre der jungen Bundesrepublik waren geprägt von einem bigotten Grundzug, konventionellen Fesseln rundum (wollte die Ehefrau arbeiten gehen musste sie bis weit in die siebziger den Ehemann um „Erlaubnis“ bitten, mehrfach vom BGH mit teils abenteuerlichen Begründungen bestätigt). Das Bedürfnis der Nachkriegsgesellschaft, die Grauen des Nazi-Regimes „zu vergessen“ war so nachvollziehbar wie falsch. Man gab sich daher Regeln, die allerseits befolgt wurden. Punkt. Dafür musste man nicht Zurückschauen, durfte die neue Freiheit (am internationalen politischen Gängelband) mit dem Wirtschaftswunder genießen – keine Zeit für Kritik. Frankfurter Schule? Nur Insidern bekannt. Adorno, Marcuse, Habermas? Oh weia. Nicht verschwiegen werden soll: Es gab durchaus viele politisch kritische Formate wie die journalistischen Bahnhofsgespräche. Aber an Breite konnten die nicht gewinnen. Selbst der sonntägliche „Frühschoppen“ blieb eine Insel. Kurzum: mit den ‘ 68ern schlug das Pendel nun in die (extreme) Gegenrichtung. Freie Liebe, die Auflösung von konventionellen Familienstrukturen (die Inkraftsetzung des Bundessozialhilfegesetzes hat mit diesen Weg bereitet), die Infragestellung von Autoritäten, es ging, wie es so schön heißt, ans Eingemachte. Nun zieht Benedikt den Anknüpfungspunkt für die Pädophilieskandale in der ‘68er Bewegung, die dafür offen bis prädestiniert war. Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese Auffassungen ‚freier Liebe‘ existiert haben. Sogar die „Grünen“ haben noch in den achtziger Jahren vereinzelt ihre Schwierigkeiten damit gehabt. Aber den Kausalschluss daraus zu ziehen, dass die Kirche über diese Entwicklung im eigenen Haus Schaden genommen hat, empfinde ich doch als sehr gewagt. Denn, schließlich war sie dort immer Herr im eigenen Haus. Wenn nun ausgesagt wird, dass die jungen Seminaristen bereits „gestört“ von der o.g. Entwicklung in der Kirche angekommen seien, dann wäre es doch an den Seminaren gewesen, sich darum zu kümmern, diese Menschen wieder in die Gesellschaft zurückzuschicken…
Papst Benedikt hebt etwa darauf ab, dass in Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen Pornofilme in (zumeist) Bahnhofskinos zur Aufführung kamen, die Menschen dort in Massen hinströmten, (fast) nackte Paare auf Litfaßsäulen zu sehen waren, bis hin zur völligen Normvergessenheit und Gewaltbereitschaft. Diese Diagnose verbindet er mit dem „Zusammenbruch“ der katholischen Moraltheologie in jener Zeit. Wurde die Moraltheologie bis zum II. Vatikanum durchweg naturrechtlich begründet, so erhob sich mit der „Kölner Erklärung“ aus 1989 ein großer Widerstand, der auf die Bischofsernennungen aus Rom sowie der Verweigerung der kirchlichen Lehrerlaubnis an Theologinnen und Theologen reagierte. Man empfand eine zunehmende „Entmündigung der Teilkirchen“. Johannes Paul II reagierte darauf mit der Enzyklika „Veritatis splendor“, der zufolge sich die Kirche nicht der Welt angleichen dürfe (womit darauf hingewiesen wurde, dass kirchliche Entscheidungsverfahren wie auch moralische Bewertungsmechanismen aus eigener Kraft erfolgten (mit Rückgriff auf Röm. 12, 2)). Hieß in Kurzversion: Es kann Handlungen geben, die nie gut werden können, Güter, die nie zur Abwägung stehen können, Werte, die auch über dem Erhalt des physischen Lebens stehen. So kann auch das Martyrium für einen Christen gefordert sein, wenn es um des Glaubens Willen geschieht. Denn anderes würde die Leugnung Gottes bedeuten, was zur Folge habe, dass dieses gelebte Leben dann ein Unleben sei.
Der Verlust an kirchlicher Autorität fand auch seinen Niederschlag im priesterlichen Leben und den Seminaren, stellt Benedikt fest. Auch dort gab es Unsäglichkeiten wie homosexuelle Clubs und einige Bischöfe agierten bei der Vorbereitung der Priesteramtskandidaten auf höchst eigenwillige Weise, um diese widerstandsfähig gegen die Anfechtungen der porfanen Welt zu machen. Im Zusammenhang mit strafrechtlichen Fragen, etwa bei Pädophiliefällen, wurde zuvörderst Wert auf den sog. Garantismus gelegt, eines Verfahrensinstruments, das es dem angeklagten Theologen ermöglichte, sein Recht auf Verteidigung soweit auszudehnen, dass Verurteilungen praktisch kaum mehr stattfanden. Aber, so kritisiert Benedikt, hier wird außer Acht gelassen, dass auch der Glaube als solcher ein schützenswertes Rechtsgut ist, was aber nicht mehr ausreichend betrachtet wird. Denn letztlich wird bei Straftaten von Priestern auch und immer der Glaube mit beschädigt. Der Glaube ist aber von enormen Gewicht für die Kirche, weshalb eine Strafprozessmöglichkeit vor der Glaubenskongregation geschaffen wurde, mit der Möglichkeit den Angeklagten aus dem Klerus auszuschließen. Das musste in seinen Augen der Weg sein: In Gehorsam und Liebe auf Jesus Christus zu vertrauen und mittels dieser Liebe das Böse in der Welt zu besiegen.
Im Rückbezug auf die Gesellschaft als solche bedeute das: Eine Gesellschaft, die Gott als abwesend behandelt, ist eine Gesellschaft ohne Maß. Diese Abwesenheit, die der Papst em. als Zeichen der Zeit diagnostiziert, hat dann letztlich auch die Pädophilie „gesellschaftsfähig“ gemacht. Denn in der Abwesenheit Gottes liegt auch der Verlust unserer Würde. Das drückt sich in Entwicklungen wie der Pädophilie u.a. aus. Könnten wir dem zustimmen? So vielleicht nicht. Aber anders gewendet: Wird der Mensch zum Maßstab für sich selbst, reicht sein Einfluss über alle Grenzen hinaus. Gott hat uns seinen Sohn als Menschen geschenkt. Er durchlitt das Martyrium für unsere Sünden. Wir kennen das. Aber wir beherzigen es nicht. Kindern Gewalt anzutun – nein das geht nicht! Pädophilie aber schon? Und das reicht dann in der Tat zurück in die Mitte der Gesellschaft: Die unzähligen Missbrauchsfälle in den (beiden) Kirchen, aber auch staatlichen Heimen, Schulen (Odenwald), oder der Missbrauch von Nonnen, der geistliche Missbrauch, der Machtmissbrauch. Sie sehen schon…
Benedikt verweist noch auf etwas anderes. Er zitiert Romano Guardini: „Ein Ereignis von unabsehbarer Tragweite hat begonnen; die Kirche erwacht in den Seelen.“ Doch er kehrt den Satz um: „Dir Kirche stirbt in den Seelen.“ So wenig man m.E. die Ausgangsthese (Überschrift) als soziologische Kernaussage unwidersprochen stehen lassen kann, so wenig zweifelhaft ist die simple Wahrheit beider Zitate. Dazu beigetragen hat auch die Kirche selbst: Sie lässt es durchaus zu, von ihr als reiner gesellschaftspolitischer Institution zu sprechen, nicht aber vom Hort geistlicher Spiritualität. Erforderlich ist daher die Rückbesinnung auf die Ursprünge der Kirche, nicht aber auf eine selbst gemachte Kirche, so Benedikt. Doch soll das auch heißen, das was heute an Teilhabe gefordert wird, etwa die Frauenordination, oder die Freistellung des Zölibats, die Übergabe bischöflicher Leitungsfunktionen an Laien, soll weiter verhindert werden? Ich denke ja, genau so ist Benedikt zu verstehen. Um diesen Einschätzungen den Schneid abzukaufen, bemüht er einen argumentativen Kniff: Mit dem Verweis auf die Hiob-Erzählung betont der alte Papst, dass es dem Teufel letztlich darum ging die Schöpfung schlechtzureden. Mit einem kühnen Schritt übersetzt er das dann auf die heutige Zeit, in der die Kirche in allem schlechtgeredet werde. Deshalb sei die Idee einer von uns selbst gemachten Kirche „in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels“, mit dem er uns von Gott abbringen wolle. Diese Lügen und Halbwahrheiten aufzudecken, sei unsere Aufgabe. „Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch die heilige Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche Gott, der liebende Gott sich uns zeigt. Gott hat auch heute seine Zeugen (‚martyres‘) in der Welt. Wir müssen nur wach sein, um sie zu sehen und zu hören.“ – Soweit dazu.
Nun gibt es in der September-Ausgabe der Herder-Korrespondenz eine Duplik von Benedikt auf die Replik etwa von Birgit Aschmann von der HU Berlin, die ihm entgegenhält, eine basale „Normenlosigkeit“ habe es so nicht gegeben (Herder-Ausgabe Juli 2019), in der er wiederum Frau Aschmann vorhält, ihr Beitrag sei „ungenügend und typisch für das allgemeine Defizit in der Rezeption meines Textes.“ Denn, Gott, den er zum Zentralthema seiner Ausführungen gemacht habe, komme in ihrer Antwort überhaupt nicht vor. Die Ignoranz der Wissenschaft, der Kritiker, der Gesellschaft? Da mag jeder seine eigene Auffassung entwickeln.
Entscheidend wird für den Fortbestand der Kirche, ihres Auftrags und ihres Platzes in der Gesellschaft sein, dass wir im Gespräch bleiben, im Austausch. Der Kern, wieso sollte der über Bord gehen, wenn wir Neues hinzugewinnen an Überzeugungen, an Werthaltungen, an Liebe füreinander? Darin kann ich nichts Schlechtes finden. Das Alte bewahren und im „Neuen“ lebendig sein lassen. Dazu mag es gerne auch frische Kleider geben. Die der Damen zumal J
Ganz herzlich, Ihr
Ingo-Maria Langen, September 2019
[1] https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/benedikt-xvi-68er-sind-verantwortlich-fur-missbrauchsskandal