Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 221
Internationale Theologische Kommission
Die Religionsfreiheit im Dienste des Allgemeinwohls
Eine theologische Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen
21. März 2019
Internationale Theologische Kommission: Die Religionsfreiheit im Dienste des Allgemeinwohls. Eine theologische Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen – Arbeitsübersetzung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz durch Prof. Dr. Karl-Heinz Menke (Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission) © Copyright 2019 – Libreria Editrice Vaticana / hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. – Bonn 2020. – 92 S. – (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls ; 221)
Feature:
Die Religionsfreiheit als verfassungsrechtliche Bestimmung zur freien Ausübung praktizierter Kultushandlungen ist vorliegend von einer Internationalen Theologischen Kommission im Vatikan gerade unter den Gesichtspunkten des Bezugs zum Allgemeinwohl untersucht worden. Untersuchungszeitraum waren die Jahre 2014 bis 2018.
Die Kommission stellt ihrer Studie einen ‚aktuellen‘ Kontextbezug (2019) voran. Sodann knüpft sie an die Erklärung Dignitatis humanae (über die Würde des Menschen) des Zweiten Vatikanischen Konzils als Grundlagentext an. In verschiedenen Kapiteln werden das Recht der Person auf Religionsfreiheit, das der Gemeinschaften sowie das Spannungsfeld von Staat und Religionsfreiheit beleuchtet. Allgemeinwohl wird in seinen verschiedenen Ausprägungen oft als sozialer Friede und gedeihliches Miteinander in Staat und Gesellschaft verstanden. – Zu überlegen ist, ob diese Ausdeutung einer kritischen Betrachtung standhält.
Die Untersuchung versteht sich ausdrücklich nicht als akademische Abhandlung, mit dem Ziel einer umfänglichen Betrachtung des Themas „Religionsfreiheit“. Stattdessen versucht sie eine „Rezeptionsgeschichte der konziliaren Erklärung Dignitatis humanae“ sowie „ein Resümee der teils anthropologischen, teils soziologischen Interpretamente, die den inneren Zusammenhang von individueller und kommunitärer Dimension begründen und erklären.“ (12) Die kirchliche Soziallehre soll dabei besondere Berücksichtigung finden.
- Der Kontextbezug
Zu Recht nimmt die Studie das Zweite Vatikanum als Ausgangpunkt für ihre Überlegungen. Es ist nicht nur das letzte Konzil der Neuzeit, sondern besonders eines des Aufbruchs, der Neuorientierung in der katholischen Kirche (erinnert sei nur an die ‚Würzburger Synode‘).
Ein wichtiger Befund im Kontext ‚funktional-ökonomisch denkender Zivilgesellschaften‘ ist die Aufgabe religiöser Gemeinschaften, dafür Sorge zu tragen, ihre Werthaltigkeit für das Allgemeinwohl zu bezeugen. Das ist – in diesem abstrakten Zusammenhang formuliert – die Auseinandersetzung zwischen staatspolitscher Aufgabe der politischen Repräsentation und der bezugnehmenden Glaubwürdigkeit (sowie praktischen Notwendigkeit) etwa der katholischen Kirche in Deutschland. Die Allgemeinwohlbindung, bereits im Titel prägnant, befindet sich allerdings in einem länger andauernden Erschütterungszustand (der zur Zeit der Beratungen bekannt war). Die innerkirchlichen sowie zivilgesellschaftlichen Skandale in Einrichtungen kirchlicher Trägerschaft wie die Kirche selbst, verlangen dem Leser schon zu Beginn eine erhebliche Toleranzschwelle ab. Denn: Kein Kontext ist abstrakt, immer hat er einen Lebens- und damit Menschenbezug. Formulierungen von „Meta-Aussagen“ bleiben insoweit wirklichkeitsleer. Hier hätte man erwartet, dass zumindest in der zusammenfassenden Kontextbeschreibung ein direkter Bezug zum Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche zu finden gewesen wäre. Denn: Der bereits in den Neunzigern und dann sehr stark angestiegene Vertrauensverlust seit den Zweitausender Jahren kumulierte mit den Missbrauchsskandalen weltweit – und er ist bis heute weder abgearbeitet noch auskuriert. Die strukturelle Erschütterung der Kirche hätte mithin erwarten lassen, dazu einen erklärenden Sachbezug in der Studie zu finden. Dieses Manko belastet die nachfolgenden Ausführungen umso mehr, als hier der hohe Anspruch der Freiheitlichkeit (positiv wie negativ) von Religionsausübung eingefordert wird. Ein fader Nachgeschmack, den man leider über das gesamte Dokument im Geschmack behält.
Anknüpfend an die Begriffsgeschichte der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten liberal-demokratischer Prägung, die sich aus dem politischen Liberalismus speisen, rekurrieren die Autoren darauf, dass der Politischen Theorie bereits christliche Prinzipien von der Würde des Menschen sowie der „Verwiesenheit des ‚Ich‘ auf das ‚Du‘“ (7) zugrunde liegen, deren neuzeitliche Aufarbeitung in der Wissenschaft erst mit dem Zeitalter der Aufklärung begonnen hat.
In „Dialektik der Säkularisierung“[1] argumentiert Habermas, die normativen Grundlagen des modernen Verfassungsstaates beruhten auf nichtreligiösen, nachmetaphysischen Bedingungen, die insbesondere über diskursive Verfahrensprozesse der Legitimation erschlossen und erhalten werden. Ein (wie auch immer gearteter) Rückgriff auf scholastische Lehren insoweit überholt. Die Politische Philosophie wie auch die Rechts- und Staatswissenschaft haben dazu das Gerüst liberaler Verfassungsprinzipien geschaffen, die selbstreferenziell und interaktiv über Repräsentationsmechanismen Formen des wertneutralen Staates ermöglichten. Diese (vermittelten) Rechtssetzungsakte (national wie international) konnte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 ins Werk setzen. Insoweit war die nicht kultur- oder religionsgebundene Deklaration ein Instrumentum abstractum als causa generalis für das Völkerrecht. Intersubjektivität, Legitimation durch Verfahren sowie hinreichende Abstraktivität ermöglichten einen Rechtskontext, der weltumspannend Geltung beanspruchen konnte.
Demgegenüber das Böckenförde-Theorem: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“[2] Dem liegt die Annahme zugrunde, säkulare Staaten könnten aus sich selbst heraus kein soziales Kapital bilden. Beginnend mit dem Investiturstreit über das Zeitalter der Glaubenskämpfe bis zur Französischen Revolution und in deren Folge der Beginn des Laizismus, nahm die politische Ordnung in der Frühmoderne Bezug zum Naturrecht (wie die katholische Kirche noch heute). Im Anschluss an die politischen Umbrüche bis hin zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 differenzierten sich geistliche und weltliche Macht aus. Die Herausbildung eines wertneutralen Staates brachte auch die Religionsfreiheit als individuelle (positiv/negativ) Freiheit für das Gemeinwesen mit sich, allerdings auf privater Ebene im Rahmen des allgemeinen gesellschaftlichen Lebens. Böckenförde: „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat. Die verordnete Staatsideologie ebenso wie die Wiederbelebung aristotelischer Polis-Tradition oder die Proklamierung eines ‚objektiven Wertsystems‘ heben gerade jene Entzweiung auf, aus der sich die staatliche Freiheit konstituiert. Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören.“[3]
Ist ein Staatswesen darauf angewiesen, vorpolitisch-sittliche Überzeugungen religiöser oder nationaler Gemeinschaften für die eigene Entwicklung grundzulegen?[4] Habermas antwortet auf diese (eigene) Frage: Versteht man das demokratische Verfahren nicht positivistisch, „sondern als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität (…) entsteht kein Geltungsdefizit, das durch ‚Sittlichkeit‘ ausgefüllt werden müsste.“[5] Dieser rational-funktionalistische Ansatz, schlüssig in sich selbst, geht ein Stück weit an der Fragestellung vorbei. Böckenförde präzisiert: „Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art ‚Gemeinsinn‘ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion.“[6]
Wir haben es mithin mit einem komplexen und verschränkten systemischen Kulturzusammenhang zu tun, der trotz aller Bemühungen ein interdependentes Abhängigkeitsverhältnis schafft: das Verwiesensein diverser Kulturprozesse aufeinander. Ethos, Sittlichkeit, Legalität und Legetimität erzeugen ein Insich-Gefüge von Selbstreferenzialität. Sie schließen einander nicht aus, sondern ein. Das schwierige daran in postmodernen Gesellschaften ist: Aufgrund der Vielzahl von Akteuren, Interessen und Einflüssen, verliert der Einzelne die Übersicht, er fühlt sich überfordert, kann das Richtmaß für das eigene kleine Leben oft nicht mehr erkennen.
Politischer, religiöser oder ideologischer Fundamentalismus, so schreibt es auch das Gutachten der Internationalen Theologischen Kommission, gedeihen auf solchem Nährboden. Menschen suchen nach Orientierung; wird sie ihnen nicht angeboten, greifen viele zu Botschaften aus extremistischen Ecken. Die Verfasser werben dafür Ethik und Religion als Werteprozesse sichtbar zu machen im prozeduralen Miteinander eines wertneutralen Staates.
Insofern ist die geistfördernde These der gegenseitigen kulturellen Befruchtung von Verfahren und Ethos zielführend, weil sie den Menschen Orientierung (Maßstäbe) für ihr persönliches Leben gibt und zugleich mittels überprüfbarer Verfahren Rechtsstaatlichkeit ermöglicht.
Joseph Ratzinger greift in „Dialektik der Säkularisierung“ dazu auf einen „alten“ Terminus zurück: das Hören. So wie sich die Grenzen der Vernunft (verstanden im Sinne Kants als schlussfolgernde Instanz) nur langsam verschieben lassen im Weltverständnis, so ist es uns möglich Vernunft, Aufklärung und Freiheit in Zusammenhang mit überlieferten „Glaubenswahrheiten“ zu bringen, um einen gegenseitigen Prozess der „Reinigung und Heilung“ zu vollziehen.[7] Über das Hören erlauben wir uns eine Korrelation von Glaube und Vernunft, die zu einer Komplementarität führt, inhaltlich gefüllt und mit Orientierung ausgestattet.
Die religiöse Komponente bietet einer Zivilkultur deshalb auch die Möglichkeit ihren Humanismus quasi vom Kopf auf die Füße zu bekommen: Rudolf Bultman sieht im Humanismus einen geadelten Glauben an den Menschen als Geistwesen, der Bestimmung des Wahren, Guten und Schönen in Wissenschaft, Recht und Kunst verpflichtet. Damit sei die Welt die Heimat für den Menschen. Im Gegensatz dazu das Christentum: hier ist die Welt die Fremde. Christlicher Glaube entweltlicht den Menschen: Als Sünder braucht er die Gnade Gottes, um ihn zu einem Geistgeschöpf zu machen. Was im Umkehrschluss bedeutet: christlicher Glaube braucht keinen Humanismus. Karl Barth deutet auf den Humanismus Gottes. ER heiligt den Menschen über seine Gnade, indem ER ihn auf sich selbst (Gott) hin. Demgegenüber ist aus Barths Sicht weltlicher Humanismus nur ein „abstraktes Programm“ gegenüber der Verkündigung der Gotteskindschaft in den Evangelien.[8]
Die Wissenschaft radiert die Religion mithin nicht aus. Die Studie weist deshalb zurecht darauf hin, dass Religion sich bemühen muss, „ihre Interpretation von Welt und Gesellschaft so zu vermitteln, dass sie auch außerhalb der eigenen Grenzen verstanden und gewürdigt wird.“ (9) Das ist die zentrale Herausforderung für Religion, Theologie und Kirche zusammen. Je besser sie diese bewältigt, desto glaubwürdiger, desto mehr Akzeptanz in der Zivilgesellschaft und im (formalisierten) Staat. Dazu gehört die Gewissensfreiheit des Einzelnen ebenso wie das Angebot der Evangelisierung und das Verstehen und Erklären, dass christlicher Glaube stets offen für die Suche nach Wahrheit und dem Guten ist, verbunden mit dem Eintreten für eine solidarische Menschheit. Das lässt sich mit dem Begriff der Zivilisation beschreiben.
- Die Erklärung „Dignitatis humane“ – Deutungshorizonte
Die Internationale Theologische Kommission hebt in ihrem Gutachtgen hervor, dass Johannes XXIII mit der Enzyklika Pacem in terris bereits zur Eröffnung des Zweiten Vatikanums die Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als völkerrechtlich verbindliche Perspektive begrüßte und darauf hinwies, Konflikte über vernunftbegabte Verfahren zu regeln und über Verträge beizulegen.
Die Erklärung Dignitatis humanae nimmt Bezug auf die Würde und Freiheit des Menschen: Das Recht auf freie Religionsausübung müsse im Rahmen der Gesellschaftsordnung zum bürgerlichen Recht werden. (19) Innere Freiheit des Menschen kann nicht von deren öffentlicher Bekundung getrennt werden. Der Mensch sei aus theologischer Sicht angelegt auf das Gute (Wahrheit u. Gerechtigkeit) als integrierende Berufung seiner Person. „Er ist geschaffen als capax Dei und also wesentlich verwiesen auf die transzendente Wirklichkeit.“ (20) Diese „Gottfähigkeit“ ist das Fundament der Religionsfreiheit (ebd.). Verbunden damit, so der Text weiter, ist die „Pflicht des Menschen, die Wahrheit zu suchen.“ Dies geschieht zumeist im dialogischen Prozess sozialen Austauschs: mitteilend, argumentativ (begründend), fruchtbar. Auch an dieser Stelle erinnert man das Schweigen zu Beginn der Studie. Denn, gehört die Wahrheitssuche zum Menschen und soll sie fruchtbar für die Gesellschaft sein, so fehlen die Hinweise zur eigenen (kirchlichen) Fehlbarkeit um so schmerzhafter.
Das trifft auch in (abgeschwächter) Form das weitere Argument, die Religion müsse um ihre Wirkung „in die zivile Öffentlichkeit hinein wissen.“ (22) Denn die Gläubigen stünden in einer doppelten Teilhabe: als Staatsbürger und Konfessionsangehöriger. Sie sehen sich also einem dualistischen Pflichtenkanon gegenüber, der es auch aus dieser Perspektive gebieten würde, selbstkritisch den Finger in die Wunde zu legen. Schließlich verweisen die Autoren kurz darauf, dass die Religionsfreiheit in der Gewissensfreiheit wurzle und erhebliche anthropologische, politische und theologische Implikationen beinhalte: Der Mensch sei „durch seine der Reflexion fähige Geistbegabung, die ihn zur Selbstüberschreitung befähigt“ zur religiösen Selbsttranszendenz und damit zur Teilnahme am göttlich Leben fähig. A maiore ad minus: dann wäre die Selbstreflexion zu irdischem Handeln erst recht geboten. Im Text heißt es an anderer Stelle: „Jede Religion muss sich im Lichte einer vom Glauben erleuchteten Vernunft dem Prozess ständiger Läuterung und Umkehr unterziehen.“ (27)
- Recht der Person auf Religionsfreiheit
Der Mensch ist ein relationales Wesen, das heißt er ist immer schon vorherbestimmt auf ein soziales Mit-Anderen-Sein. Insoweit kann das Wohl des Einzelnen nur im Wohl der Gemeinschaft aufgehen. Beides steht in einem reziproken Kausalverhältnis und bedingt ethischen Fortschritt wie kulturelle Entfaltung. (31) Problematisch ist, personale Entwicklung von einer Anerkennung in der Gesellschaft her zu argumentieren, um die Würde und Selbstbestimmung des Menschen bestimmbar zu machen. Handelt es sich hierbei doch um einen (nichtlinearen) wechselseitigen Prozess, der bis zum Lebensende des Menschen nicht abgeschlossen ist. Diese Sekundärsozialisation genannte Entwicklung umfasst das Wechselspiel anthropologischer, soziologischer und psychologischer Einflüsse. Was macht das Wesen der Würde des Menschen aus, woran die Erklärung Dignitatis humanae anknüpft? Zu Recht verortet die Studie diese in der unbedingten (ontologischen) Einzigartigkeit jedes Menschen. Sie ist „in Ethik und Moraltheologie die Grundvoraussetzung aller intersubjektiven Beziehungen.“ (33) Dieser Einzigartigkeit (Unableitbarkeit) erwächst die Würde der Person und ermöglicht nach Thomas von Aquin[9] ihre „Einbindung in das Geflecht der geistigen und leiblichen Welt.“ (34)
Der Text zitiert Papst Benedikt XVI vor dem Deutschen Bundestag (2011): „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst.“ (35) Er wird hingeschenkt und muss dieses Geschenktsein empfangen. Nur so wird die Gewissensentwicklung in die Entwicklung gebracht. Darin gründet das aktive Beziehungsgeschehen sowohl als Geist-Person als auch Sozial-Person. Beides zusammen ergibt die Freiheit der Religion der Person inmitten der Freiheit der Gesellschaft. Der persönliche Eintritt in ein Beziehungsverhältnis zu Gott und Welt (Mitmensch) deutet nicht nur die soziale Dimension aus, sondern zugleich die (doppelte) Verantwortung im Hier und Jetzt. Freiheit ohne Gebundenheit ist nicht vorstellbar, mindestens dann nicht, wenn eine Werteorientierung menschlichem Handeln zugrunde liegt.[10]
Die Personenwürde, als ein Apriori der conditio humana, liegt jeder individuellen Entwicklung bereits voraus. Anders gewendet: Sie ist auf keinerlei Voraussetzung außer der conditio humana selbst verwiesen. Daraus lebt (!) die Gemeinschaft: Sie muss dem Individuum unveräußerliche Rechte zusprechen und diese (proaktiv) verteidigen, um Vielfalt und Differenz zu ermöglichen. Nur daraus wächst ein freiheitliches Fundament, auf dem sich der Einzelne ungehindert seinen Fähigkeiten und Neigungen gemäß entwickeln kann. Das damit verbundene Recht auf Selbstbestimmung ist nicht dispositiv. Daran messen sich zugleich Gerechtigkeit und Humanität. Beide werden maßgeblich gestaltet über das Gewissen: „Das Gewissen ist die verborgene Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein mit Gott ist.“[11] (40) Dazu braucht es die Freiheit, in der die Wahrheit wächst, während die Wahrheit ein Klima der Freiheit braucht. (42) Insoweit benötigt jede liberale Gesellschaft die unverbrüchlich geschützte Personenwürde ganz im Sinne Kants, dass der Mensch immer das Ziel, nie das Mittel sein darf.[12] (43)
- Recht der Gemeinschaften auf Religionsfreiheit
Die dem Einzelnen in seiner persönlichen Entwicklung zugebilligte und zugemutete Freiheit findet ihre natürliche Ergänzung in der Autonomie der religiösen Gemeinschaft, denn nur hier können die spezifischen Gemeinschaftswerte in praktischer Anwendung gelebt werden (Bsp. Eucharistie). Der Text hebt den inneren Freiheitsraum der Gemeinschaften hervor und konstatiert, dass der „Würdegleichheit der Frau“ bislang nicht das rechte Maß zugekommen sei. Die Bibel sei nicht dazu angelegt, eine natürliche Überlegenheit des männlichen über das weibliche Geschlecht festzuschreiben. (46) Gleichwohl stehe man in dieser Erkenntnis erst am Beginn möglicher christlich-zivilgesellschaftlicher Konsequenzen. (ebd.) – Diese Aussage schmerzt. Frauen müssen es als zutiefst verletzend und herabwürdigend empfinden, wenn strukturelle Diskriminierung fortbestehen sollte, etwa mit dem Hinweis auf die Unterschiedlichkeit beider Geschlechter (ebd.). Die Bezugnahme auf das Apostolische Schreiben Mulieris dignitatem von Johannes Paul II (1988)[13] weist seinerseits nicht über die übliche Rollenzuschreibung von Mann und Frau hinaus. Es wird darin etwa bekräftigt, dass die Frau zuerst der Sünde verfallen ist, diese dann an den Mann weitergegeben hat. Das ist für unseren heutigen Gesamtkontext (Maria 2.0 usw.) nicht nur enttäuschend, sondern strukturell diskriminierend, weil damit die grundsätzlich gleichen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Frau mit einem Makel versehen werden. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Kirche keine Erlaubnis (?) habe, Frauen zu ordinieren (JP II in: Orinatio Scerdotalis [mit einem Rückbezug auf Mulieris dignitatem] 1994), denn Christus habe aus freiem Willen nur Männer berufen. Dabei adelt die Kirche Maria Magdalena als ‚Apostolin der Apostel‘, zu Recht, immerhin war sie es, die dem Herrn zu erst begegnete, seine Botschaft an die Männer-Apostel brachte. Auch das dreifache Amt Christi spricht deutlich gegen eine solche Beschränkung und Minderqualifizierung.[14]
Im Zusammenspiel der zivilgesellschaftlichen Instanzen und Kräfte sind die „Zwischenkörper“ von besonderer Bedeutung. Sie vermitteln gegenüber staatlichen Instanzen, setzen sich für die Rechte Einzelner ein und sind damit „subsidiäre Institutionen im Interesse des Gemeinwohls.“[15] (53) Daran schließt auch die (praktische) Aufgabe der Sendung der Kirche an: die Evangelisierung. Sie dringt in die Mitte der Gesellschaft mit ihrer Botschaft und stiftet christliche Bindungen, gesellschaftliche Solidarität, Subsidiarität (kath. Soziallehre) und gestaltet den politischen Humanismus im privaten wie im öffentlichen Leben mit. Sie steht damit für Ethos und Zusammenhalt der Zivilgesellschaft. (54)
- Staat und Religionsfreiheit
Bereits im Alten Testament wird der Bund als vertraglicher Gestaltungsakt (im Sinne der Rechtslage zur Zeit Abrahams) in Freiheit verantwortet geschlossen. (Gen. 15, 18) Später schloss Jesus mit seinen Brüdern den neutestamentlichen Bund (Lk 22, 19-20). Brot und Wein sind dessen Zeichen, die Eucharistie ihr feierlicher Ausdruck.
Die geforderte Bundestreue inkludierte in der Zeit der Könige die Unterscheidung zwischen politischer und religiöser Macht. Jesus knüpfte daran mit seiner Botschaft zur ökonomisch-politischen Macht und der religiösen Sorge zur Heilsgeschichte Israels an. Gottestreue ist Bundestreue, ist Gehorsam gegenüber dem (rechtmäßigen) weltlichen Herrscher. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ (Mt 22,21) In Röm 13, 1-4 weist Paulus auf die Achtung der (als gerecht [rechtmäßig] empfundenen) weltliche Macht hin. Ergänzend dazu ist darauf zu verweisen, das anbrechende Reich Gottes sei nicht „von dieser Welt“. (Joh 18,36) Deshalb besteht für Christen die oberste Maxime im Gehorsam gegen Gott. Das Gewissen ist dafür die Instanz. Ist die weltliche Ordnung für das Volk bedroht, leidet es Kummer, lebt es im Sklaventum, so darf die bedrohte öffentliche Ordnung (im Sinne Gottes) durchaus infrage gestellt werden. Eventuell ist ein Umsturz die einzige Möglichkeit, den ursprünglichen Bund wiederherzustellen: „Wer seinen Glauben lebt, kann vor eine Situation gestellt werden, in der er seinem Gewissen nur dann gehorcht, wenn er sich einem Gesetz des Staates widersetzt. Zivilgesetze, die dem natürlichen Sittengesetz widersprechen, können das Gewissen nicht verpflichten.“ (77 f.)
Da jedoch jede Form der Machtausübung missbraucht werden kann, stimmt auch Augustinus einer Kontrolle der religiösen Macht zu. Allerdings gilt es zu bedenken, dass seinerzeit Schismatiker sich an die weltliche Macht wandten, um die religiöse zu diskreditieren und ihr die Rechtmäßigkeit abzusprechen. Im Konzilsdokument Gaudium et spes wird die gegenseitige Verwiesenheit der Autonomie beider Bereiche hervorgehoben, um der Entwicklung gesellschaftlichen Wohls zu dienen. (63) Insoweit muss jede Macht, die von Menschen über Menschen ausgeübt wird, vor Gott gerechtfertigt werden.[16]
- Religionsfreiheit als Beitrag zum Zusammenleben und sozialen Frieden
Zusammenleben ist für jede Gemeinschaft ein hohes Gut für sozialen Frieden und gesellschaftliche Entwicklung. Es bedarf insoweit keiner gesonderten Herleitung. (72) Die Migrationsbewegungen zeigen stellvertretend für die vielfältigen Konflikte in der Welt, welchen hohen Stellenwert der soziale Friede hat. Er inkludiert das Bedürfnis nach Sicherheit und knüpft an die individuelle wie kollektive (staatliche) Verantwortlichkeit füreinander an. Religionen können in diesem Wirkungszusammenhang integrativ wirken, indem sie über die niemanden ausschließende Liebe die Gemeinschaft zusammenbinden und das Mit- und Füreinander fördern. Damit schafft Religion Sinnressourcen, die Indifferentismus und radikalem Relativismus widerstehen. (74)
Im Schlussteil rekurriert der Text auf die von Papst Paul VI promulgierte Enzyklika Ecclesiam suam, dass die Kirchengeschichte nicht mit der Heilsgeschichte des Christentums in eins gesetzt werden kann. Wohl aber, dass die Menschheitsgeschichte über Gottes Liebe zu Rettung gelangen kann. Gleichwohl sei auf diesem Weg über die Vermittlung der Kirche – „trotz bester Absicht“ – (88) auch gegenteilig gehandelt worden, stehe man im Widerspruch zum eigenen Glauben. Jedoch sei sicher, „dass der Herr seine Kirche nie verlässt und durch den Heiligen Geist so begleitet, dass ihr Weg durch die Geschichte nie abweicht von der wahren Bezeugung des göttlichen Heilhandelns im Leben aller Menschen und Völker.“ (88)
Kritsch sei dazu bemerkt: Wie konnten dann Verfehlungen solch skandalösen Ausmaßes erfolgen? Über Jahrzehnte? Ein Papst wie JP II etwa die (bekannten) Missbrauchstaten eines Marcial Maciel (Legionäre Christi) ignorieren, weil ihm politisch anderes opportun erschien?[17] Persönliche Schuld der Repräsentanten der Kirche Glaubwürdigkeit nachhaltig beschädigt haben? Schaden an Leib und Seele Betroffener (sowie deren Familien)? Wem ist da die Gnade Gottes abhandengekommen? Kann das ein lauwarmes ‚mea culpa‘ auswischen? Der Versuchung zum Bösen ist die Kirche selbst ausgesetzt. Sie spricht aber nur in abstrakter Form von Tätern, nicht aber davon, dass sie selbst den Grund für die systemische Versuchung zum Bösen gelegt hat. Denn das würde bedeuten, sich für Veränderung offen zeigen zu müssen. Genau das diente dem Allgemeinwohl!
Kirche, kirchlicher Dienst, hat mit „dienen“ zu tun, mit Demut vor dem Einzelnen wie auch dem Schöpfer. Der Hochmut, der in Teilen des Textes durchleuchtet, ist nicht dazu angetan, das Grundvertrauen in die Kirche und ihre Leitung wiederherzustellen.
Fazit: Summa summarum vielfach redundante Argumentation mit diversen Belegstellen, die dem Erkenntnisfortschritt nichts weiter hinzufügen. Für eine nichtwissenschaftliche Studie ist das (auch an Belegstellen) überrepräsentiert. Diktion und Komplexität der Darstellung sind zumindest in Teilen wissenschaftsaffin und damit für den durchschnittlichen interessierten Leser zu anspruchsvoll. Für diesen fällt das Resümee daher ernüchternd aus: Ein auf dreißig Seiten (mit nur wenigen – wichtigen – Belegstellen) entwickeltes Papier hätte erheblich größeren Nutzen gestiftet. Für die Fachpresse und Fachkollegen mag dies anders sein. Gleiches empfinde ich auch für die Redundanzen. Sie sind eher hinderlich, da sie die Zuspitzung des Themas behindern, um mittels überschaubaren Umfangs zu einem Ergebnis zu kommen. Als Zumutung muss der fehlende selbstkritische Blick im Kontext der vielfältigen Missbrauchsskandale in der Kirche gesehen werden. Den eigenen (gerechtfertigten) Anspruch auf gesicherte Rechtspositionen und Auswirkungen bis in die Mitte der Gesellschaft („Dienst des Allgemeinwohls“) zu reklamieren hinterlässt einen sehr bitteren Beigeschmack, der nicht wenige Leser dazu verleiten könnte, sich kopfschüttelnd abzuwenden. Ich empfehle das ausdrücklich nicht, aber das Befremden ist groß und es wird mich lange begleiten. Das ist dem (wichtigen) Thema und allen Menschen, die kritisch, kraftvoll und überzeugend in der Kirche Dienst (am Allgemeinwohl) tun, ein Bärendienst.
Ingo-Maria Langen
April 2020
[1] Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung, Herder 2007 (18 f.)
[2] E.W. Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Suhrkamp, 1991, 112f.
[3] Ebd.
[4] Habermas, ebd., 20
[5] Ders., ebd. 20
[6] Interview FR v. 01.11.2010 „Freiheit ist ansteckend“ S. 32 [Quelle Wikipedia: Böckenförde-Diktum, FN 13]
[7] Dialektik der Säkularisierung (FN 1), 57
[8] Wikipedia: Artikel Humanismus
[9] Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, (II Abs. 68), Bd. 2, S. 286 ff., hrsg. v. Karl Albert und Paulus Engelhardt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Sonderausgabe 2001
[10] „Wir haben beim Hüten der Erde, unseres Hauses und unseres Gartens, und beim Hüten unserer Geschwister versagt. Wir haben gegen die Erde gesündigt, gegen unseren Nächsten und letztlich gegen den Schöpfer, den guten Vater… Und wie reagiert die Erde? Es gibt dazu ein sehr klares spanisches Sprichwort, das geht so: Gott vergibt immer, die Menschen vergeben manchmal, die Erde vergibt nie. Die Erde vergibt nicht!“ Papst Franziskus bei der Generalaudienz 22.04.2020 (https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-04/papst-franziskus-generalaudienz-umwelt-schoepfung-katechese-amaz.html)
[11] Zweites Vatikanum, Pastorale Konstitution Gaudium et spes. 16.
[12] I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe VII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Suhrkamp 1978, S. 210
[13] http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1988/documents/hf_jp-i_apl_19880815_mulieris-dignitatem.html)
[14] Siehe dazu auch die Besprechung: Balance of Powers von Thomas Ruster
[15] Der Begriff „Zwischenkörper“ ist eine Zuschreibung Papst Leo XIII in der Enzyklika Rerum Novarum (1891). Leo gilt zu Recht als der Begründer der katholischen Soziallehre. Stichworte hierzu: Recht auf Privateigentum (mit Sozialbindung für das Gemeinwesen), Konflikte sollen die Sozialpartner einvernehmlich lösen, Streikrecht wird zuerkannt, Solidarität und Subsidiarität gefordert. Folge: christliche Arbeitervereine, christlich-soziale Bewegungen, der Begriff „Christliche Demokratie“ entsteht. S.a. Besprechung: Jörg Ernesti, Leo XIII – Papst und Staatsmann.
[16] Insoweit konsequent: die Ablehnung der Ratifizierung der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte durch die UNO 1948. Die Kirche beruft sich auf ‚höherwertigeres‘ Recht: das Naturrecht, gegeben durch Gottes Ordnung.
[17] Dazu „Revolutionär und Reaktionär“, Interview Matthias Drobinski, in: Unsere Kirche Nr. 18 / 26. April 2020, S. 5; Zum Buch: Johannes Paul II – Der Papst, der aus dem Osten kam. Verlag C.H. Beck, 2020