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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation

Dagmar Täube
Lucas Cranach der Ältere und Hans Kemmer:
Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation

Katalog zur Ausstellung im St. Annen-Museum, Lübeck

Hirmer Verlag, München 2021
Abbildungen in Farbe
304 Seiten, Hardcover, 24 x 30, 49,90.- €

 

 

Welt im Wandel

Thomas Mann, Repräsentant des Patriziertums Lübecks, setzte der Stadt mit den Buddenbrooks ein Jahrhundertdenkmal, das auch im Niedergang jener Kaufmannsfamilie noch glänzte. In seinem Vortag „Lübeck als geistige Lebensform“ von 1926 im Theater der Stadt stellt Mann in einem Abschnitt einen Bezug zur Familie Niederegger her: Wolle ihm jemand eins auswischen, wisse aber so gar nichts über ihn zu berichten, so müsse das alte Marzipan von Niederegger herhalten. Das nenne man dann literarische Satire. Gleichwohl liege hier eine tiefere Bedeutung zugrunde, die sich nicht auf den ersten Blick erschließe. Marzipan heiße offenbar panis Marci, das Brot des Markus und dieser sei ja der Schutzheilige von Venedig. Man könne nun spekulieren, diese Süßigkeit sei eine Art Haremskonfekt aus dem Orient, schließlich habe Venedig als Handelsgroßmacht für lange Zeit eine Brückenfunktion innegehabt. Venedig und Lübeck als Wahlverwandtschaft: die eine „am Ostseehafen, gotisch und grau, doch als Wunder des Anfangs noch einmal, entrückt, die Spitzbögen maurisch verzaubert, in der Lagune …“ die andere.

Handel und Wandel. Wir betreten diese Welt bereits mit dem Blick auf das Cover: Die Liebesgabe von Hans Kemmer. Eine Zeit der Auflösung alter Gewissheiten, Renaissance und Reformationen vor den Toren der Stadt, das Bürgertum gewinnt an politischer Macht, die Stellung als freie Hansestadt (nur dem Kaiser verpflichtet) ermöglicht den Beginn eines (schmerzhaften) Transformationsprozesses. Mittendrin: die Bürger Lübecks, ihre Kaufleute und ihre Künstler. Das wird Hans Kemmer nützen, er soll ein bedeutender Maler der Reformation in Lübeck werden.

Die Ausstellung kontrastiert Lucas Cranach d.Ä. mit Hans Kemmer, einem Meister, lange kaum gewürdigt und weit hinter die bekannten Namen Dürers, Grünewalds oder Holbein d.Ä. gerückt. Im Falle Cranachs begünstigte diese Entwicklung zwei Faktoren, die selten genug bei Künstlern praktische Bedeutung bekommen: den Aufbau eines Unternehmens, einer „Marke“, die hoch profitabel werden sollte und den Bekanntheitsgrad, der wiederum Zugang zu wichtigen Personen der Zeitgeschichte wie Luther eröffnete. Der Erfolg Cranachs verdankte sich seiner Kunst den Auftraggebern Werke des Zeitgeistes in entsprechenden Bildmotiven zu fertigen. Seine humanistische Bildung, die spezifische Auswahl seiner Mitarbeiter (oft selbst auf Meisterniveau) ermöglichten zudem einen Spagat: Die altgläubige Fraktion der Lübecker Katholiken verlangte nach entsprechenden Motiven, um der persönlichen Heilserfüllung im Sinne der katholischen Kirche nahezukommen, klassisch mit Heiligen- oder Trinitätsdarstellungen, Salvator Mundi oder Bildmotiven aus den Gleichnissen Jesu. Anders dagegen das aufkommende Luthertum: Der zentrale Streit um die Rechtfertigungslehre (die beide Kirchen bis an die Schwelle der 2000er Jahre – Gemeinsame Erklärung – beschäftigt hat) repräsentierte für die Lutheraner eine veränderte Sicht auf das Heil des Menschen. Nicht durch die Werke, sondern allein durch Gottes Gnade sei dieser gerechtfertigt. Das hatte zwar schon Augustinus ähnlich beschrieben, in der (seelsorgerischen) Praxis fanden jedoch oft Auffassungen von Werkgerechtigkeit ihren Platz. Hinzu trat eine zurückhaltende (nicht unbedingt ikonoklastische) protestantische Auffassung gegenüber dem bis dahin geltenden Motivstock. Die ausgezeichnete Forschungsdatenbank zu Cranach (lucascranach.org) ermöglicht vielfachen Einblick in das Werk des Meisters.

Hans Kemmer

Kemmer, geboren um 1500 in Lübeck, nimmt früh die Einflüsse der niederländischen Kunst auf. Bekannt ist in Lübeck zu dieser Zeit Jakob von Utrecht (Werkabbildungen im Katalog). Mit den Fertigkeiten eines Meisterschülers setzte er neben der künstlerisch-handwerklichen Arbeit auch jene der aus den Niederlanden bekannte Arbeitsteilung fort. Diese war Voraussetzung für die üppige Produktion der Cranach-Werkstatt mit mehreren hundert Bildern pro Jahr. Hinzu traten die guten Netzwerke der Hanse, die etwa über die Bergenfahrer nach Norwegen und allgemein in den skandinavischen Raum bis hin nach Finnland exportieren konnten. Auch die Leonhards- und die Antoniusbruderschaft, in der sich vermögende Bürger Lübecks engagierten, etwa Johann Wigerinck als Auftraggeber von ‚Christus und die Ehebrecherin‘ trugen zum Erfolg bei. Die eingangs bereits erwähnte „Liebesgabe“ (1529) zeigt Johann Wigerinck und Agneta Kerckring. Das detailliert ausgearbeitete Doppelporträt wohlhabender Kaufmannfamilien weist die erlernte Handschrift der Cranachwerkstätte bis in Landschaft und Blatt hinein aus, die Zinnflasche im kühlenden Bach. Zugleich aber auch den Umschwung in der Motivik: Hier steht nicht mehr die repraesentatio urbis im Vordergrund, sie wird vielmehr zum unterfütternden Ausstattungsmerkmal. Dem Betrachter präsentiert sich jetzt der intime Moment des besonderen Geschenks zur Liebesheirat. Neues Bürgerbewusstsein löst ständische Konventionen zugunsten individuellen Glücks auf. Das wird zum einen deutlich über den Ring im Mittelpunkt, der zugleich Reminiszenz an die Familiennamen der Liebenden ist, des Weiteren über den Blütenkranz aus Nelken und die Gänseblümchen in der Hand Agnetas Reminiszenz an den Marienkult ist. Der geschulte Betrachter erinnerte das lächelnde Pferd in der Szene als Zitat aus Cranachs Urteil des Paris. In der Folgezeit nahmen die Porträtszenen erheblich zu, ersetzten mehr und mehr die (alt)katholische Motivik. Eines der wenigen Porträts für Altgläubige von Kemmer ist jenes des Christoph Tiedemann (Kat. 18). Erst spät erfolgte 2007 laut Katalog eine Zuordnung zu Kemmer durch Anette Kranz. Ein schönes Beispiel für die oftmals detektivische Provenienzforschung. Die Veränderung im Zeitgeist lässt sich in diesem Porträt an einem scheinbar nebensächlichen Detail erkennen: „Eine versteckte Anspielung auf die in Lübeck herrschenden Konflikte zwischen den Konfessionen integrierte er in Form der einander anfauchenden Eidechsen auf der Fensterbank. Sie stehen symbolisch für das Streben zum göttlichen Licht und veranschaulichen die Heftigkeit der Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten.“

In den neuen protestantischen Bildthemen, die Cranach wohl in Absprache mit Luther und Melanchthon formte, erkannte gerade Luther pädagogische Möglichkeiten zur Verbreitung seiner Lehre. Oft enthielten die schnelllebigen Druckgrafiken politische Botschaften, die seriellen Gemälde hingegen zielten auf die Langlebigkeit der protestantischen Lehre. Dazu verband sich der Humanismus mit den reformatorischen Bildthemen und ermöglichte so neue Absatzkreise zu erschließen. Hans Kemmer setzte diese Linie geschickt fort, heiratete ins Lübecker Bürgertum ein und übernahm eine angesehene Malerwerkstatt. Ihm gelang es einen eigenen Stil zu kreieren und diesen bei seinen Mitbürgern und Kunden zu etablieren. Kemmer fand zunehmend eine Linie für die „Porträts der Protagonisten der Reformation, Darstellungen von Salome sowie Christus und die Ehebrecherin, die Trinität, Christus als Schmerzensmann und Salvator Mundi, der Gekreuzigte im Zwiegespräch mit seinem Stifter, die Bußpredigt Johannes des Täufers“ sowie dem wichtigen Motiv von Gesetz und Gnade, schreibt Dagmar Täube im Katalog.

Dieser Entwicklung kam eine Bewusstseinsänderung im Bürgertum seiner Zeit entgegen, das sich mehr mit dem gesellschaftlich angesehenen Individuum befasste, seine Stellung hervorhob und die feinen Unterschiede (Bourdieu) durchaus betont wissen wollte: im Ausdruck, im Schmuck, in der Kleidung oder anderen Insignien sozialer Bedeutung. Die serielle Produktion von Porträts unter Cranach hatte dieser Entwicklung bereits den Boden bereitet: Die Bildnisse von Luther und Katharina von Bora als Eheleute bezeugten ebenso einen gesellschaftspolitischen wie einen kirchenpolitischen Punkt als Statement gegen den Zölibat und das ausschließliche Regnum der Kirche bis hinein ins ganz Private. Hier wurde öffentlich bezeugt: Nonne und Mönch heiraten einander. Ein ungeheurer Bruch mit der katholischen Tradition. Kemmer führte diese Linie fort. Als Beispiel mag das Porträt von Hans Sonnenschein dienen (Kat. 9). Sonnenschein, wohlhabender Kaufmann und Mitglied der Bergenfahrer, lebte in der Mengstraße 42, unweit des Hauses (Nr. 4) der (späteren) Buddenbrooks. Offenbar wurde das Bild nach Sonnescheins Tod umfassend überarbeitet, die naturalistische Kaufmannsdarstellung mit entsprechenden Insignien zugunsten einer theologischen Überformung (eschatologische Heilsgewissheit) umgestaltet und so dem neuen Glauben angepasst. Vermutlich hatte die Witwe den Auftrag dazu erteilt. Die Umarbeitung verband den Dargestellten nun mit der Ewigkeitshoffnung. Zumal auf der Rückseite ein Memento-Mori mit der Aufschrift „Das Böse vermeid‘ und acht‘ auf die Zeit“ zu sehen ist.

Zeitenwende

Die sich wandelnden Auffassungen zu Mensch und Gesellschaft, Kirche und Heil machten auch vor bislang ‚klassischen‘ Deutungen nicht halt. So übertrug Cranach die alten Motive der sogenannten Weibermacht, die den Frauen die pure Sünde andichtete und ihnen unterstellte den Mann mittels Täuschung zu verführen, in den nun neuen protestantischen Kontext. Insbesondere die Heroinnen wurden von ihm mit prächtigen Kleidern und Schmuck versehen. So etwa das Judith-Thema. Die Gothaer Judithtafeln zeigen die Figur mit ihrer Geschichte im Zusammenhang mit dem Schmalkaldischen Krieg: „Dort ist Judith als Personifikation des protestantischen Widerstands zu verstehen“, stellt Dagmar Täube fest. Als Leitfigur und Leitbild drückte Judith die Entschlossenheit der Protestanten nach religiöser und politischer Unabhängigkeit aus (Straten, 1983). Das war durchaus heikel, denn es implizierte die Umkehrung eines traditionellen Grundverständnisses dieser Figur: Über das Tridentinum überhaupt erst kanonisiert, verdankte sich die Judith-Figur allein deshalb besonderer Anerkennung und Popularität, weil sie sich zur Ausdeutung der Ecclesia militans eignete. Bettina Uppenkamp (2004) bemerkt dazu: „Ihre tradierte theologische Bedeutung als Präfiguration Mariens und der Kirche, entsprechend die des Holofernes als Symbol des Bösen und der Häresie, trägt zu dieser Tauglichkeit bei.“ Diese Vorgehensweise von Carnach und seinen Kollegen war mithin nicht gefahrlos, zumal die päpstlichen Widersacher in den Augen Luthers die Pharisäer darstellten. Ein Glutpotenzial für Gewalt und Gegenreformation, das sich im Dreißigjährigen Krieg entlud und doch noch bis ins 18. Jahrhundert weiter zündelte.

Die protestantische Bildprogrammatik setzte sich darüber hinweg und tradierte damit ihren eigenen theologischen Anspruch der Bildstiftungen aus der Reformation: der Aufruf zur Buße, zur Umkehr und zur tätigen Nächstenliebe. Die kunsthistorische Betrachtung respektierte diese Kunstform erst spät, zu sehr lenkte der didaktische Ansatz in der Frühzeit davon ab. Gerade im Vergleich zur italienischen Renaissance wurde die spezielle Ästhetik der deutschen Renaissance zum Unterscheidungsmerkmal.

Schließlich noch ein Blick auf die Interpretationsebene. Mit Clifford Geertz (1973) und seinem Ansatz der „dichten Beschreibung“ könnte man auch der sich verändernden Kunstauffassung jener Zeit begegnen: Die symbolische Aneignung sozialer Energie über die Repräsentation sozialer Praktiken in künstlerischem Geschehen erzeugt eine intertextuelle Schnittstelle kontextbezogener Handlungsvarianten.

So ist der Katalog weit mehr als ein Ausstellungsbegleiter (bis 06.02.21). Unabhängig von den Exponaten lässt in ihm schmökern, viel über die sozioökonomischen Verhältnisse im damaligen Lübeck lernen, der „thick description“ eines Clifford Geertz trefflich nachspüren und damit einen Gewinn über die Bilder einer Ausstellung hinaus behalten. Insbesondere die Verschränkung von historisch-sozialen Entwicklungen im Mikrokosmos Lübecks zu den großen Linien der Europapolitik (Schmalkaldischer Krieg) im Makrokosmos und der Herausbildung einer sich verändernden Geisteshaltung, eingefangen in den Bildern jener Zeit, regt dazu an, je nach Belieben in einen Abschnitt einzutauchen und darin zu verweilen. Die erstklassige Aufmachung, die umfangreichen Literaturangaben und eine anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Sprache, bescheren ein ausgezeichnetes Leseerlebnis. Die exzellente Qualität der Abbildungen rundet diesen Eindruck ab. Ein Katalog als historisches Lesebuch.

Ingo-Maria Langen, Januar 2022