2
frontpage-slide1
Via Conci
1
Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Wohin geht unsere offene Gesellschaft?

Bruno Heidlberger
Wohin geht unsere offene Gesellschaft?
1968 Sein Erbe und seine Feinde

Logos Verlag, Berlin 2019
395 Seiten, br., 34,90.- €

Bruno Heidlberger, Dr. phil., Studienrat für Politik, Philosophie und Geschichte, Lehraufträge an der TU Berlin, Dozent an der MHB Brandenburg. Verfasser von Essays und Rezensionen in philosophischen und politischen Fachzeitschriften.

 

Feature

Die in zwei Teile gefasste Studie beschäftigt sich mit den Ursachen der 1968er Umbrüche wie auch mit den bis heute anhaltenden Folgen. Hierzu muss es dem Autor als besonderes Verdienst angerechnet werden, die Verknüpfungen aus diesen Umbrüchen der sogenannten „Studenten- und Hippie-Revolte“ mit den Wegmarken der bundesdeutschen Geschichte bis in unsere Tage zu führen. Des Weiteren ist zu würdigen, dass es gelingt die universellen Muster rechtskonservativer bis rechtsradikaler Politik freizulegen, die es den aktuellen Protagonisten ermöglichen ihre Spaltpilze bis in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.

Stickige Enge, alte Kader

Der nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten ermöglichte und besonders von Frankreich forcierte staatliche Wiederaufbau Deutschlands, diesmal als republikanischer Bundesstaat, als repräsentative Demokratie mit einem relativ „schwachen“ Staatsoberhaupt, dafür aber mit einer starken Verfassung, relativ selbständigen Teilstaaten und einer Gerichtsbarkeit, die fundamental entpolitisiert und unabhängig (Art. 97 GG) arbeiten sollte, war die formale wie völkerrechtliche Formgebung als Grundlage für ein freies und geeintes Europa der Nachkriegszeit. Soweit der juridische Blick. Soziologisch sah das schon anders aus: Viele mittlere und manche größere Figuren der nationalsozialistischen Zeit wuchsen in die neue BRD als entnazifiziert hinein. Die „Persilscheine“ waren aus der Sicht der Alliierten ein notwendiges Übel, um die Funktionalität des neuen Staates gewährleisten zu können. Ihre Hoffnung, nachwachsende Generationen würden das Alte überwuchern und ein gesundes Maß hervorbringen erfüllte sich nicht. Sowohl in der Politik (Beispiel Röpke) als auch in der Verwaltung oder der Justiz fanden sich ehemals bekennende Nationalsozialisten wieder, die nun den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates fördern sollten. Schon Ende der Fünfziger machte das Wort vom „Schuldkult“ die Runde, mit dem unterstellt werden sollte, dass die Deutschen eigentlich Opfer seien, nicht Täter. Die Nazi-Zeit sei quasi als „Betriebsunfall“ über sie gekommen, weshalb man unbedingt eine Schuldknechtschaft (zu der keiner aufgerufen hatte) vermeiden müsse. Sie machte das Framing dieser Zeit aus, erstickte die soziopolitische Neuorientierung für die Masse. Selbst den berühmten „Mittwochgesprächen“ in der Bahnhofsbuchhandlung Ludwig in Köln, die dem Format nach schon nahe an unseren „Talk-Shows“ lagen, die sich durchaus mit kritischen Themen beschäftigten (Todesstrafe, Wiederbewaffnung) und Größen wie Böll, Fink, Erhard, Bamm oder Mende befragen konnten, folgte nur ein bildungsbürgerliches Publikum. Zudem war nach 260 Sendungen im Jahr 1956 schon wieder Schluss.

Narrativa

Die Frische solcher Veranstaltungen täuschte nicht darüber hinweg, welches gesellschaftliche Klima herrschte: Obrigkeitsdünkel, Befehl und Gehorsam, das Buckeln vor „Autoritäten“, die väterliche Vorgabe im Haushalt, die Frau als Heimchen. Bis in die Siebziger musste sie den Mann um Erlaubnis bitten, eine Arbeit aufzunehmen, bis 1968 durfte sie kein eigenes Konto führen – die Gleichberechtigung stand doch längst in der Verfassung. Die Lebens- und Rechtswirklichkeit sah anders aus. Für den Machterhalt des Mannes und die faktische Aufhebung der Gleichberechtigung trat sogar der BGH seinerzeit ein. Erst das Gleichberechtigungsgesetz von 1977 änderte das zugunsten der Frauen. Der gesellschaftspolitische Mehltau dieser Jahre veranlasste die Jugend zu protestieren und mehr Freiheiten einzufordern. Als die herausgeforderte Staatsmach erst mit Ohnmacht und dann mit Polizeigewalt antwortete, schlugen die zunächst friedlichen Proteste in die Eskalation um. Die Folgen sind bekannt: APO, Bildung der RAF, Anschläge, Entführungen, Notstandsgesetze. Die Entzündung des Gemeinwesens lag im Kern in der Tabuisierung der Aufarbeitung der NS-Zeit, der unterschwelligen Kontinuitätslinien und der Präsenz ehemaliger NS-Funktionäre im öffentlichen Leben (Hans Filbinger, Kurt-Georg Kiesinger). Hinzu kamen Vorgänge wie die „Spiegel-Affäre“ („Bedingt abwehrbereit“), die „Fischer-Kontroverse“ (Kriegsschuldthese), in der Belletristik Rolf Hochhut („Der Stellvertreter“) oder Peter Weiss („Die Ermittlung“). Nicht zu vergessen: der erbitterte Kampf um die Deutungshoheit der Presse. Etwa 70% der damaligen Presseorgane Westberlins waren unter dem Dach des Springer-Verlages gebündelt mit der „Bild“ als Zugpferd. Die „Gegendarstellung“, heute in allen Landespressegesetzen vorgesehen und ein wirkmächtiges Instrument zur Korrektur von Presse, gab es damals nicht. Die Aussage Gudrun Ensslins zum Tod Benno Ohnesorgs: „Mit einer Generation, die für Auschwitz verantwortlich ist, kann man nicht diskutieren“, wird angesichts der Hass- und Hetzkampagnen in der Presse gegen die aufbegehrende 68er-Revolte verständlich. Repression war die einzige Antwort der Staatsmacht auf die dringenden Fragen nach der Selbstreinigung der Gesellschaft. „Links“ wurde zum ultimativen Feindbild bürgerlicher Fassadenpolitiker, oft reichte ein Funke, um eine aufgeheizte Stimmung umschlagen zu lassen, einen Lynchmob aufzustacheln, Jagden auf einzelne oder Gruppen unter den Augen der Staatsmacht loszutreten. Ein Klima von Hass und Gewalt, das dem Zweck diente, einer gesellschaftlichen Aufarbeitung („Tätervolk“) entgegenzuwirken. Verstärkt wurde diese gesellschaftspolitische Bruchlinie über das Wiedererstarken neurechter politischer Positionen und ihrer Publizistik. Hatte die historisch-kritische Wissenschaft erhebliche Publikations- und Forschungserfolge bis in die Siebziger zu verzeichnen, entbrannte über Ernst Nolte zu Beginn der Achtziger der sogenannte Historikerstreit, dessen Kern ein neuer Geschichtsrevisionismus mit der Frage nach einem identitätsstiftenden Geschichtsbild der Deutschen, gemessen an der Shoa, darstellte.

Das Boot ist voll – Deutschland ist kein Einwanderungsland!

Die neu aufgekommenen sozialen und politischen Bewegungen kulminierten zu Beginn der Achtziger in der Gründung der Grünen-Partei. Mit ihr verfestigte sich das links-liberale bis alternative Spektrum zu einer parlamentarischen Kraft, deren Gestaltungsfähigkeit bis heute stetig zugenommen hat. Ihre Ansätze zu Multikulturalismus, Internationalität, Integration, Wertepluralismus, Migration und Flüchtlingsproblematik sind der Gegenentwurf zur kruden Blut-und-Boden Ideologie der Neurechten. Heidelberger zitiert Navid Kermani: „Dass Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen – dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme.“

Geleitet von der Befürchtung Wähler am rechten Rand zu verlieren, schwenkt die CDU unter Kohl mit der sogenannten „geistig-moralischen Wende“ zu rechtspopulistischen Aussagen, beschwört das Nationale, das Deutschtum, die Heimat, die Homogenität. Doch die Neurechte hat sich längst etabliert, ist über die „Republikaner“ zum politischen Faktor geworden. Geistesgrößen wie Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck, Günther Rohrmoser stehen Pate für die Neurechte, die sich schließlich mit der Formierung der AfD zu einer langfristigen politischen Größe entwickelt. So schreibt etwa David Berger, römisch-katholischer Theologe und Mitglied im Vorstand der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung auf seinem Blog „Philosophia Perennis“, die 68er APO habe im „linksgrünen System Merkel“ als Reaktion die rechtskonservative APO erzeugt. Glaubt der Mann, was er da von sich gibt?

Um das Bild der Narrativa nochmals aufzunehmen: es tobt ein Streit um Deutungshoheit. Welches Narrativ setzt sich letztlich durch? Damit verbunden ist eine Richtungsentscheidung: Bleibt die Gesellschaft mehrheitlich bei einem eher linksliberalen Kurs, bleibt sie offen, verletzlich, aber auch aufgeschlossen und integrativ oder verfällt sie dem Gift des Nationalistischen, der Abschottung, der Reinheit und des homogenen Volkskörperglaubens? Schon beschwört die AfD eine neue Männlichkeit, den Kampf gegen den inneren Feind, den Mythos des deutschen Helden, der sich für eine neue Erinnerungskultur einsetzt und gegen ein Denkmal der Schande wendet (Höcke), das System neu starten will, verbunden damit, dass die Verantwortlichen sich dann zu verantworten hätten. Das erinnert treffend an die Weimarer Zeit, in der die Parteien nicht für die Republik arbeiteten, sondern für ihre eigene Ideologie mit dem Ziel der Abschaffung des Parlamentarismus. Hetz- und Hasskampagnen waren ein ebenso beliebtes Instrument wie antisemitische Verschwörungsfantasien, die Dolchstoßlegende, der Marxismus oder Bolschewismus.

Das Kontinuum pädagogischer Sozialisation

Intolerante Menschen, die mit apodiktischer Strenge Gehorsam verlangen, werden im späteren Leben oft zu diktatorischen Politikern. Das Elternhaus und die frühe Umgebung sind Sozialisationsträger, die uns einen Prägestempel mitgeben, von dem wir später kaum mehr abweichen. Je enger dieses Muster, desto schwächer die Ambitionen, sich daraus zu befreien. Begriffe wie Autorität, Loyalität, Reinheit empfinden wir dann als sinnstiftend, werden diese verletzt, entsteht Abscheu (Ekel) aus der moralischer Zorn folgt. In einem solchen Fall ist unser Selbstbild übereinstimmend mit der verletzten Norm. Unsere personale Autonomie ist an den Sachverhalt gebunden. Unser Empörungsgefühl lässt eine selbstkritisch-reflexive Distanzierung nicht zu. Das zeigen auch die BIG-5-Merkmale aus der Psychologie: Hier der aufgeschlossene, lesefreudige, künstlerisch interessierte Mensch, der sich ausprobiert, dort der Gegenentwurf mit strengem Pflichtbewusstsein, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Gehorsam, Arbeitstreue, Loyalität. Diese Merkmale ändern sich über das Leben hinweg kaum. Und sie sind grundlegende Charakterfilter, die zu moralischen und politischen Vorlieben führen können. Individual- oder Gruppenaversionen, gespeist von Ekel, moralischem Überlegenheitsgefühl, „Reinheit“ und „Rasse“ sind binnenweltliche Erlebnishorizonte, die vielen als archimedische Punkte in einer komplexen und komplizierten, als bedrohlich empfundenen Welt gelten. Kombiniert man diese innerweltliche Geschlossenheit mit anderen ängstlich geduckten Persönlichkeiten entstehen Strickmuster für Verschwörungsmythen. – Ein zufriedenes, selbstbestimmtes, sich kräftig und kreativ anfühlendes Leben sieht anders aus. Daraus schlägt die Neurechte ihr Kapital.

Das Reservoir der Unzufriedenen und Unsicheren

Die politische Rechte sammelt die Unzufriedenen aller Schichten ein, schart sie hinter ihre Freund-Feind-Ideologie, indoktriniert sie mit der Überlegenheit, der Reinheit des homogenen Volkskörpers und stilisiert alle anderen zu potenziellen Feinden. Ein alle Schichten bindender Klebstoff ist der Antisemitismus, der aktuell mit Verschwörungsmythen aufgeladen wird, um Angst, Furcht, Unsicherheit und niedere Gefühle zu wecken, anzustacheln und in Hass umzuwandeln. Illiberale politische Bewegungen orientieren sich an anthropologischen Konstanten wie dem Streben nach Suprematie, Unterdrückung oder auch Auslöschungsfantasien unterprivilegierter (oder sich dafür haltender) Gruppen, die ihre nervöse Unsicherheit kompensieren wollen. Horizontal suchen diese Menschen nach emotionaler Bestätigung aus vergleichbaren Kreisen, vertikal nach geistigem Überbau der Bildungsschichten, die ihnen damit ihre persönliche Verantwortung abnehmen, auf deren Beteiligung am eigenen Gesinnungsethos man sich bequem berufen kann. Dieser Dispens von Verantwortung korreliert einem eklatanten Mangel an Herzens- und Menschenbildung, beides wäre sonst in der Lage die pathologische Bildungshybris zu enttarnen. Gerade auch unter Verzicht auf den eigenen Vorteil.

Fazit: Eine quellengesättigte Studie, die sowohl ein umfangreiches rechtskonservatives bis rechtsradikales Netzwerk beschreibt und dessen Bezüge in die aktuelle Politik aufzeigt als auch die gesellschaftlichen Verwerfungen miteinbezieht, die nach ihrer Motivation beschrieben in der Quintessenz einen von vielen Schichten in Deutschland getragenen Ungleichheitsansatz verfolgt, der bis hinunter auf Prekariatsebene (oder noch niedriger) mitgetragen wird, solange er einen persönlichen Vorteil verheißt: etwa gegenüber Frauen (Sexismus), Einwanderern oder Flüchtlingen. Die wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechende Untersuchung (Prämissen, methodische Zusammenhänge, Fußnotenapparat, Literaturverzeichnis) lässt ein einschlägiges Inhaltsverzeichnis vermissen. Das ist hinsichtlich des Umfangs sowie der Vielfalt der Anknüpfungspunkte misslich, verhindert es doch den gezielten Einstieg. Die kurzen inhaltlichen Vorsatzhinweise pro Kapitel ersetzen dies nicht. Der Studie ist zu wünschen, dass sie breit rezipiert wird, es ergeben sich vielfache Seitenthemen, Vertiefungsansätze und strategisch-politische Überlegungen. Auch eine Verknüpfung mit den Feldern der Kognitions- und Emotionsforschung wäre ein aussichtsreiches Arbeitsfeld.

Ingo-Maria Langen, Februar 2021