Joshua Cohen
Witz
Dalkey Archive Press, Champaign, Urbana / London 2010
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/M 2022
908 Seiten, 38.- €
Joshua Cohen bei Schöffling: Vier neue Nachrichten, Buch der Zahlen, Solo für Schneidermann, Auftrag für Moving Kings. Pushcart Prize (2012), Mantanel Award for YoungPromising Jewish Writer/Poet (2013). Von „Granta“ (2017) zu einem der zehn besten zeitgenössischen Jungautoren gewählt. 2017/18 Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU Berlin.
Ulrich Blumenbach lebt in Basel, übersetzt aus dem Englischen u.a. Stephen Fry, Arthur Miller, Dorothy Parker. Die Übersetzung von „Unendlicher Spaß“ (2009) von David Foster Wallace erhielt vielfache Auszeichnungen etwa von der Ledig-Rowohlt-Stiftung. Für die Arbeit an „Witz“ zeichnete ihn die Stadt Basel mit dem Kulturpreis aus (2017).
In einem Stapel in der Mitte
Am Anfang kommen sie zu spät. – Der Auftakt ein dystopischer Nullpunkt: Kurz vor der Jahrtausendwende sterben zu Weihnachten 1999 nahezu alle Juden in den USA. Ausgenommen sind die männlichen Erstgeborenen – eine religionshistorische Anspielung auf die zehnte Plage aus der Genesis, die bekanntlich die Ägypter traf. Die jüdischen Erstgeborenen werden auf Ellis Island in Quarantäne gebracht, jener Insel, über die seit dem 19. Jahrhundert ein Strom von jüdischen Immigranten angekommen war. Die neue Plage überlebt als einziger der Agnostiker Benjamin Israelien. Der wird von nun an zu einem neuen (unfreiwilligen) Messias des Neujudentums aufgebaut und massenmedial vermarktet. Irgendwann kann Benjamin das nicht mehr aushalten und flieht vor seinen Jüngern ebenso wie vor der Welt des Showbiz. Derweil entfaltet sich das Neujudentum über die Welt und bringt Konvertierungsverweigerern den Tod im polnischen Lager Wasimmerwitz.
Cohen rät im Vorsatz dazu, sein Buch immer in der Mitte eines Stapels zu halten, dann wird es sozusagen abgefangen von einem Oben und Untern, das die bösartig-satirische Komposition mindestens ein wenig im Zaum hält.
Der Titel „Witz“ ist programmatisch: aus dem Jiddischen (nicht dem Deutschen) ins amerikanische Original überführt widerspiegelt er ein Trugbild. Einerseits füllt es die Bedeutung von Scherz (Komik), andererseits als Suffix von Namen für „Sohn von“ – Abramowitz bedeutet Sohn von Abram. Lapidar gesellschaftliches Unterhaltungsmoment trifft auf die Wurzel aus der Erde, der du entstammst. Die Welt ist notgedrungen selbstreferenziell. Da liegt der invertierte Gedanke nah, sie mit aristotelischem Maß aus dem Blick der Komödie zu betrachten. In seiner Poetik lesen wir davon, die Komödie sei ein Instrument der Wahrheit. Cohen versucht sich auf eine literarisch veränderte Weise dem Thema der Shoa anzunehmen. Dazu setzt er raffiniert auf Satire in der Form der Negation. Lebt jene von Überzeichnung, Verzerrung und Groteske, zeigen sich diese Elemente auch bei(m) Witz.
Nach Auschwitz
„Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich wird, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“ (Th. W. Adorno, Primes – Kulturkritik und Gesellschaft I, Suhrkamp, GW, 1977, LA WBG 1998, 30) – Eine überflüssige Rückerinnerung? Der geisteswissenschaftliche Kampf um den vielleicht wichtigsten ästhetischen Diskurs der Nachkriegszeit (G. Bornheim, 2002) sieht sich aktuell doppelt herausgefordert. Einerseits über ein politisches Wiedererstarken von „Rechts“, der Diskurs um rechte Verlage auf der letzten Buchmesse in Frankfurt zeugte davon. Denn was anderes als gesellschaftspolitische Implikationen sollen davon ausgehen? In einer Zeit, in der Rechtspopulismus weite Teile der Gesellschaft wieder erfasst und von diesen getragen wird. Andererseits, und hier wird es literarturtheoretisch interessant, ein bedrückendes Thema wie die Shoa mit Instrumenten der Komödie anzugehen, mag ein gewagtes und im Falle von Cohen geglücktes Experiment sein. Grundsätzlich hatte dies schon H.M. Enzensberger in der Replik auf Adorno mit seiner Feststellung, Dichtung müsse diesem Verdikt standhalten, vorweggenommen. Paul Celans „Todesfuge“ gibt als ein Beispiel beredtes Zeugnis.
Über die Lesbarkeit der Welt
„Den Vorhang der Buchstaben aufzuziehen“ (Aleida Assmann – Im Dickicht der Zeichen, 2015), das gelingt dem Leser in einer zunehmend chiffrierten Welt nicht mehr. Blumenbach spricht von einem „irritierenden Spagat“, den Cohen meistert: Ein Trümmergrammatiker (Blumenbach), der Sprache dekonstruiert, zerlegt, zerschmeißt, und doch dem Genozid noch Sonorität im Ungeheuerlichen abringt. Ebenso formal: Ein Bruch mit der aristotelischen Theorie, das Auflösen von ehernen Formprinzipien, es schafft ein frisches Literaturverständnis, jenseits gewohnter Regelhaftigkeit (etwa der Grammatik), das Grenzüberschreitungen zu neuen Lebenserfahrungen macht (ohne die Oulipo zu vergessen). Der Mangel an Einheit von Ort und Handlung oder der Kausalität in der Abfolge, sie kommen dem Literatursinn in der Vorausschau Blumenbergs auf die Avantgarde in der Literatursprache nahe, wenn Bilder nicht aufgehen, beruhigende Interpretationen unmöglich werden. Cohen erschafft neue Bedeutungsgehalte, Aufladungen, die befremdlich bis disruptiv sind, behutsames Lesen sie aber erschließen lässt.
Im Interview mit Jan Wiele (FAZ 01.02.22) beschreibt Blumenbach drei Varianten sprachlicher Klangform von „Witz“: die „normal“ erzählte Geschichte der Familie Israelien, der hohe Ton religiöser Schriften und der niedere praktischer Festtage, Typenkomödien, satirischer Kommentare der Weltlage oder Parodien. Dazu nutzt Cohen gebrochene Erzählstimmen oder auch den unvermittelten Umbruch einer hohen Tonlage in jene einer flapsigen Stand-up-Comedy.
Früh klingt das Thema der Shoa an: „Ihr Blut ist die Fahrkarte, zu gepfefferten Preisen erworben oder weit im Voraus für ‘n Appel und ‘n Ei. (…) Sie sind paarweise aufgestellt, zwei von jeder Art, je ein Männchen und Weibchen. Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren. In der Luft hängt die Essenz der letzten Sommersprossen, flaues Parfum – oder ist es Rauch, sonderbar süß… Menschen bücken sich am Rinnstein, beugen die Knie, werfen die Finger aus und angeln in den Rosten des vormaligen Regimes und den Spätnachmittagspfützen nach allem noch nicht Verwehtem: lappigen Seiten, blotiken Blättern, Daf-Jomi-Flecken, vergilbten Zeitungen, deren Druckerschwärze mit der Gattin von gestern weggelaufen sein wird, Schnipselfetzen, Pergament oder ist das einfach Haut, GOtt, das ist Haut.“ Das bedrückend-dumpfe kontrastiert analytisch-klarer Sicht, schraubt den Erwartungshorizont hoch. „Gossenwasser wird aus den Jarmulka gewrungen, Dreck mit Spucke weggerubbelt. Die Menschen klauben die Fetzen auf, breiten sie gegen die Windstöße an der Tür mit Daumenmessern auf glasig kahlen Schädeln aus, als ob ihre Köpfe ohne diese alles verkorkenden Fitzel und Zettel gen Himmel stieben würden. (…) Windgezaust küssen sie den markierten Türpfosten. Ein Uneingegliederter an der Tür verteilt Bücher mit eingelegtem Ablauf, beides wird ebenfalls auf die Jarmulka gedrückt.“
Wieder fällt ein Land in Angst, diesmal die USA. Die Plage, unbenannt, doch mit vielen Antworten kommentiert, alle falsifiziert, fängt alle Juden ein. Obgleich niemand Jude genannt wird, das Judentum oder die Pogrome nicht, sind es doch die Nachfahren des erwählten Volkes, die hier sterben. So wird Benjamin Israelien zur unfreiwillig-komischen Figur, geboren nach dem großen Sterben, in vollendete Form gegossen mit Brille, Bartwuchs und beschnitten. Das Unheil nimmt seinen Lauf, die Vermarktungsmaschine läuft an. Selbst der amerikanische Präsident will daran teilhaben. Jenseits exaltierter Szenen, schüttelnd-komischer Einwürfe, mit großer Sprachgewalt und feiner Ziselierpraxis ausgestattet, erspart Cohen uns nicht das Grauen: Polen, das Konzentrationslager Wasimmerwitz. Die Konvertierungsverweigerer interniert.
Unausweichlichkeit, man selbst zu sein (J. Cohen)
Entstanden in Europa (Deutschland, Litauen, Polen und Russland), in Zeiten der großen Umbrüche, steht die zentrale Frage nach dem letzten Juden. Was wird das mit uns, unserer Kultur, mit mir machen? Der letzte Teil des Romans ist die Geschichte der Familie des Vaters und der Mutter, das beschriebene Haus in Köln-Braunsfeld, Scheidtweilerstraße, enteignet, von der SS genutzt. Mit der Übersetzung in die Sprache der Täter schließt sich ein Kreis.
Ein bös-bissiger Schelmenroman, der uns erheitert, über Strecken artifiziell wirkt, uns mit feiner Nadel Irritation und Erschrecken unter die Haut treibt. Ein Kulturbaustein für die Zivilisation. Πολλὰ τὰ δεινὰ κ’ οὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει – Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Mensch (Antigone), so zu finden bei Sophokles und Hölderlin.
Ingo-Maria Langen, Februar 2022