Geert Keil
Wenn ich mich nicht irre
Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit
Reclam Verlag Ditzingen 2. A. 2019
96 Seiten, 6.- €
Geert Keil, Lehrstuhlinhaber für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Universität, Berlin.
Des Menschen Irrtum ist sein Leben – Irrtum!
Zu den kulturellen anthropologischen Konstanten zählt der Irrtum. Mit vielleicht einer („gestatteten“) Abweichung: der Unfehlbarkeit des Papstes in der strengen Form der Verkündigung von Glaubenssätzen. (Dazu später).
Irrtümer erleben aktuell eine weltweite Blütezeit. Die vielfältigen Kanäle der Informationsbeschaffung (social media) haben nicht dazu geführt, Transparenz, Validität und Verlässlichkeit auf den Schild zu heben. Das Gegenteil ist der Fall: Echokammern, Meinungsblasen, Verschwörungstheorien geistern durch die Netzwelt, laufen dem seriösen Journalismus den Rang ab und stilisieren sich zum Gral der Weltweisheit – je nach Sicht und Lage der Dinge. Keil zitiert Nitzsche: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“ Denn Recht haben und im Recht sein sind zwei verschiedene Positionen. Recht haben wird schnell zur Rechthaberei und damit zum Hindernis auf dem – ohnehin schwierigen Weg – der Erkenntnis.
In einer solchen Situation ist es angemessen, innezuhalten und eine kritische Bestandaufnahme dessen zu liefern, was die Grundlage aller unserer Entscheidungen im Leben ist: Wissen.
Gefragt sei: Wann darf ich glauben „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu handeln, wann der Überzeugung sein, verlässliches Wissen mein Eigen zu nennen, es zur Handlungsgrundlage für mich (und andere) machen zu können? Wissen als operationale Größe, gewonnen aus intersubjektiver Erkenntnis prozessualer Vorgänge, bildet die Grundlage unser Handlungsorientierung. Gebunden zumeist an Verfahrenstechniken, Modelle, Prüfmöglichkeiten. Die vage Seite der Erkenntnis besteht demgegenüber aus: Gewissheit, Meinen, Empfinden (heute auch: gefühlte Wahrheiten / Fakten). Bei aller Prozeduralität, die als Abstraktum höher zu gewichten ist als der einzelne Fakt, muss immer der Vorbehalt der Fallibilität bedacht werden. Wissenschaft lebt im Raum der Fehlbeurteilung. Denn Wissen ist kontext-, methoden- und modellabhängig (Stichworte: theoretische vs. empirische Wissenschaft). Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diese Abhängigkeiten so zu reduzieren, dass allgemeine Überzeugungen der Wahrheit so nahekommen, um sie als Axiome zu verwenden. Beispiele sind hier die Frankfurter Transzendentalpragmatik oder der Kritische Rationalismus. Das Projekt der Letztbegründung etwa soll unhintergehbare Argumentationslinien und Normbegründungen liefern (K.O. Apel).
Nach Aristoteles gehört das Prinzip vom Ausschluss des Widerspruchs unmittelbar zur Grundlage dessen, etwas zu behaupten oder zu bestreiten. Hier liegt die positive Voraussetzung vor, dieses Prinzip selbst nicht bestreiten zu können, ohne damit auszuschließen, dass die Äußerung zugleich auch das Gegenteil zuließe. Keil zitiert Brecht: „In Bertold Brechts Geschichten vom Herrn Keuner wird Herr K. einmal gefragt, woran er gerade arbeite. Seine Antwort: ‚Ich habe viel Mühe, ich bereite gerade meinen nächsten Irrtum vor.‘“ Ein performativer Widerspruch? Ein Widerspruch zwischen Sprechakt und Sprachaussage? Der Kern ist: die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit.
Es ist stets das Subjekt, das fehlt. Nicht die Fakten, nicht die Modelle (sofern sie richtig funktionieren). Letztere stehen immer unter dem Vorbehalt neuer Erkenntnisse, die Anpassungen oder auch das Verwerfen lange für richtig und passend gehaltener Axiome nötig macht. Irren ist eine subjektgebundene Eigenschaft, die auf allen Ebenen und bei allen Menschen zu ihrem Dasein gehört. Sie ist nicht ausschließbar. Das ist die einzige Konstante. Insoweit steht die Erkenntnis der Wissenschaft über die Wahrheit immer unter dem Vorbehalt der Fallibilität.
Unfehlbarkeit? Oder von der päpstlichen Irrtumsfreiheit.
Das Erste Vatikanum bestimmte dazu, der Papst habe in seinen verbindlichen Lehräußerungen als Repräsentant der Gesamtkirche die Bedingungen der Universalkirche zu berücksichtigen, dürfe nicht losgelöst davon handeln. Ein Schisma könnte ihm drohen. Das ist der schlichte, aber wichtige Rahmen. Wenn der Papst also solche Lehrmeinungen verkündet, dann mithilfe des Beistands des Heiligen Geistes, so das Konzil. Dazu formuliert der Papst ex cathedra: definimus et declaramus (wir bestimmen und erklären). Dieses begrenzte Amtscharisma soll über den Beistand des HG dazu führen, substantielle Glaubensirrtümer zu vermeiden. Die Herleitung der Irrtumsfreiheit ruht auf schwachem Boden (Mt. 16, 18, Joh. 16, 13). Die „Tradition“ hat ausgeholfen, was nach 2000 Jahren noch immer gelehrt wird („apostolische Sukzession“), kann nicht falsch sein. (Belege sollen sein: Apg. 6, 14, 20 / 1. Klemensbrief)
Die erhoffte und gewünschte Irrtumsfreiheit kristallisiert sich an noch einer anderen, sich nicht direkt aufdrängenden, Stelle. Die Konzilsteilnehmer waren nicht selbst Träger der „Unfehlbarkeit“. Süffisant fragt Keil „woher sie denn wussten, dass der Papst unfehlbar ist.“ Die Kardinäle waren uneins, ein Fünftel des Konzils lehnte die Irrtumsfreiheit ab und nahm nicht an der Abstimmung teil. Mit Rückgriff auf die göttliche Offenbarung erklärte das Konzil diesen Glaubenssatz als letzt- und rechtsverbindlich. Höherer Beistand allenthalben. Was gäbe es dazu zu irren?
Erkenntnistheoretisch problematisch ist die Scheidung „echter Offenbarung“ von einer Privatoffenbarung oder anderen Vorstellungen. Dazu braucht es Mittel und Wege institutionelle, verfahrenstechnischer und prüfrelevanter Methoden. Am Beispiel der Kritik von Ludwig Kardinal Müller an „Amoris Laetitia“ zeigt Keil eine petitio principii: Müller beruft sich in seiner Kritik darauf, Gott habe das Sakrament der Ehe gestiftet, worüber die Kirche aus eigenem Recht nicht verfügen könne. Folglich sei Ehebruch immer eine Todsünde. Wiederum fragt Keil spöttisch: der Kardinal halte die Wahrheit für nicht verhandelbar und stelle diese so über die Autorität des Papstes. Zugespitzt: „Woher will Kardinal Müller denn sicher wissen, dass die unauflösliche Ehe von Gott gestiftete Realität ist, wo doch selbst der Papst diesbezüglich keine epistemische Autorität besitzt?“
Fazit: eine kenntnisreiche wie teilweise luzide Darstellung unserer Irrtumsanfälligkeit, eine Konstante, auf die wir getrost vertrauen können.
Ingo-Maria Langen, September 2020