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Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Alice Hasters
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

bpb: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
224 Seiten, 4,50.- €

Alice Hasters ist eine deutsche Journalistin, Autorin und Podcasterin. Sie schreibt u.a. für die Tagesschau, Spex und den rbb.

 

 

Nie, nie genug.

Krisen sind Bestandteil des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens. Zumeist haben wir sie als vorübergehend, nicht existenziell bedrohliche Ereignisse kennengelernt. Eine Pandemie, die das Zeug zur existenziellen Bedrohung in sich trägt, kennen wohl nur noch sehr wenige Menschen unter uns. Krisen legen unbarmherzig die Sollbruchstellen eines Systems offen. Können wir in „normalen“ Zeiten manches an Fehlentwicklungen überdecken, verschweigen, kleinreden, so treten die Diskrepanzen in der Krise umso deutlicher hervor.

Fragen leisten einen wichtigen Beitrag dazu, Perspektiven zu öffnen. Warum finden sich in unseren Handlungsmustern so viele rassistische Zuschreibungen? Warum steht der Rassebegriff noch in der Verfassung? Kann man in einer postmigrantischen Gesellschaft Rassismus modellieren? Wo liegen überhaupt unsere Rassismuswurzeln? Wie erfährt ein Mensch mit anderer Hautfarbe unseren gesellschaftlichen Alltag? Welche Demütigungen werden ihm zugemutet? Welches soziale Stigma droht ihm?

Alice Hasters schreibt über eine deutsche Migrationsgeschichte. Geboren und aufgewachsen in Köln (mit Bezügen in die USA), beginnen nach den ersten Schuljahren Stigmatisierungs- und Rassismuserfahrungen. Wo kommst du eigentlich her? Na, wo sind deine Wurzeln? Witzig, dass du so gut Deutsch sprichst. Die vollmundig geführten Debatten in der Politik zur Integration, sie klingen hohl angesichts eines täglichen (verdeckten) Rassismus, dem sich aussetzt, wer nicht zum Stamm gehört. Ein schwarzes Mädchen – na klar, die kommt woanders her. Frühzeitig wird dem Kind bewusst: ich gehöre nicht dazu! Ich bin nicht gut genug, nie gut genug.

Alltagsrassismus in und mit uns

Wir kennen die Diskussionen um den „M**ren“ im Krippenspiel, bei den drei Weisen aus dem Morgenland, die karnevaleske Inkulturation afrikanischer Kulturtraditionen, ihre gedankenlose Vermarktung für europäische Konsumenten. Die Kurzatmigkeit solcher „Diskussionen“ hat noch immer dazu geführt, dass kein gesellschaftlicher Wandel zu diesem Thema einsetzte. Schließlich haben wir ja nicht so viele schwarze Menschen bei uns. Da lohnt der Aufwand kaum. Doch wir haben das, was die Autorin BIPoC nennt: Black, Indigenous and People of Colour. Diskriminierungserfahrungen sind vielfältig und oft tiefgreifend, gleich ob sie rassistisch, sexistisch oder anders grundiert sind. Wer täglich Lästerung über Hautfarbe, Herkunft, Religion oder anderes ertragen muss wird dünnhäutig, krank, massiv in seiner Lebensfreude betroffen. Eines von vielen Beispielen der Autorin: Bei einer Tanzveranstaltung, auf der die Damen von den Herren aufgefordert wurden, blieb einzig ihre Mutter sitzen. Sie, die professionelle schwarze Tänzerin, wurde von den Anwesenden abgelehnt, ausgegrenzt. Ein soziales Distingem, intuitiv-objektiv zur bewussten Segregation. Ihre Mutter gehörte nach der Ansicht der Anwesenden einfach nicht hierher. Gegen diese Form des Kaltstellens ist kaum eine Gegenwehr möglich.

Menschen leben in und aus Beziehungsgeschehen

Was macht das mit dem Selbstbild, dem Selbstwertgefühl? Hastings zitiert Carolin Emcke: „Nicht gesehen, nicht erkannt zu werden, unsichtbar zu sein für andere, ist wirklich die existenziellste Form der Missachtung. Die unsichtbar sind, die sozial nicht wahrgenommen werden, gehören zu keinem Wir. Ihre Äußerungen werden überhört, ihre Gesten werden übersehen. Die unsichtbar sind, haben keine Gefühle, keine Rechte.“ Menschen leben immer aus Beziehungsgeschehen heraus. Nur das lässt sie ihren Selbstwert erfahren, an ihm arbeiten. Wird ihnen das verweigert, erfahren sie sich als lebendig (sozial) tot. Das ist die perfideste Form von Diskriminierung.

Und überhaupt: Unsere europäische Selbstsicht ist spätestens seit der Renaissance geprägt von rassistischen Zuschreibungen. Shakespeares Othello – der M**r von Venedig mit der anthropologischen Zuschreibung des animalischen Triebverhaltens bei schwarzen Menschen, gepaart mit Blackfacing, weißen Darstellern, die als schwarze Figuren auftreten. „Weiß“ ist der Standard, an ihm wird gemessen was „schön“ ist, was sichtbar sein soll, was kulturell wertvoll. Das nennt sich struktureller Rassismus. Das Rassentheorem wurde von Weißen erfunden, ebenso kulturelle Dominanz und weißes Sendungsbewusstsein. Die Auswirkungen sind bis in subtile Verästelungen noch heute spürbar. Etwa über die Schönheitsindustrie, die schwarzen Menschen via Bleichmittel suggeriert, mit hellerer Haut sympathischer, attraktiver, sauberer (!) zu erscheinen. Die Verknüpfung mit Charaktereigenschaften scheint da nahe zu liegen (F. Blumenbach, Ch. Meiners). Hierarchisierung, die Ablehnung des Anderen, das Fremde (in mir), Freund-Feind-Mythos, aber auch das Gefühl des Ekels, der Abwehr, der Gefahr im Anderen. Es verbinden sich „theoretische“ Überlegungen mit mythischen, ideologischen und Stammesdenken. Reinheit, soziokulturelle Homogenität, physische Zuschreibungen oder religiöse Überformungen – sie alle bestimmen unser Vorurteilsverhältnis zum „Anderen“.

Diese unsägliche Entwicklung hat auch dazu geführt, dass sich schwarze Menschen einem „Colorismen“ verschrieben haben, einer Hierarchisierung dunkelhäutiger Menschen, mit negativer Repräsentation in Bezug auf ein eurozentristisches Schönheitsideal. Fernwirkungen rassistischer Politik! Eine weitere Zuspitzung ist die sexistisch-rassistische Behandlung schwarzer Frauen, denen eine urwüchsige Triebhaftigkeit unterstellt wird, die weiße Männer  gern ausleben möchten, während sie ihr kultiviertes Leben mit einer weißen Frau und die wahre Liebe (und damit das Wertvolle für die Gesellschaft) repräsentieren. Diese Bilder existieren in den Köpfen und die damit verbundenen Fantasien sind Ausdruck dunkler Herzen in uns. Die Scham darüber könnte nicht größer sein – für uns! Doch sie wird empfunden von den Menschen, denen wir Rassismus antun.

Fazit: Das Buch rüttelt an unseren Grundfesten, kratzt am Lack, stellt unsere selbstgefällige Liberalität infrage. Die M**ren-Diskussion hat das sinnfällig gemacht. Wir müssen die Bilder in unserem Kopf durchforsten, unsere Vor-Urteile durchwühlen und unsere Handlungen (Sprache!) daraufhin prüfen, welche rassistischen Muster sich in ihnen finden. Die goldene Regel gilt für alle Menschen und es wirkt auf uns selbst zurück wie wir mit diesen umgehen. Der Autor freut sich an einem bunten Umfeld, das Menschen mit ihren Fähigkeiten, ihren Wünschen, Hoffnungen und sicher auch Ängsten einlädt in Freude und Freundlichkeit miteinander zu sein.

 Ingo-Maria Langen, Dezember 2020