Hubert Wolf
Verdammtes Licht
C.H.Beck München 2019
314 Seiten 29,95.- Euro
Zusammenfassung:
Spannungen und Widerstände – davon ist das Verhältnis des Katholizismus zur Aufklärung geprägt. Eine „katholische Aufklärung“ müsste zunächst einmal Selbstaufklärung im Sinne von Selbstvergewisserung leisten. Anknüpfen ließe sich an das dem Christentum inhärente kritische Bewusstsein: das Denken eines transzendenten Gottes impliziert die Kritik an der Welt. Der Glaube ist durch das Wort in die Welt gekommen. Und wir müssen uns rational mit ihm auseinandersetzen. Hier hilft das Licht der Erkenntnis. Dieses Licht hat die „katholische Aufklärung“ über viele Laien und Priester in die Gemeinschaft getragen, auch wenn die Institution Kirche einen langen Prozess benötigte, um das aufklärende Licht des Zweiten Vatikanums zu erreichen. Von diesem Weg berichtet das Buch.
Hubert Wolf, Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, forscht u.a. zu den Archivbeständen der Inquisition und der päpstlichen Indexkongregation. Mit seinem Sachbuch „Die Nonnen von Sant’Ambrogio“ (2013) publizierte er einen Klosterskandal aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Buch „Krytpa. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte“ (2015) legte er bislang unbekannte Traditionsstränge der katholischen Kirche frei. Zum Spannungsfeld von Katholizismus und Aufklärung liegt nun das Buch „Verdammtes Licht“ vor.
Das krumme Holz des Menschen
Wolf beginnt mit dem Titel des Buches: Christoph Martin Wieland und dessen Gedicht, „Die Feinde der Aufklärung“. Das Licht, das dem dunklen Schwärmer seinen Geist vertreibt und ihn in die helle Welt wirft. Wieland zählte zur Weimarer Quadriga (Herder, Goethe, Schiller), stammte aus einem pietistischen Elternhaus und hielt wohl bereits aus dieser (nicht unbegründeten) Perspektive die katholische Kirche für einen Ort mystischer (also nicht aufgeklärter) Dunkelheit. Die verschuldete Unmündigkeit des Einzelnen in einer konservierten Institution. Dennoch arbeitete bereits das Evangelium (Joh. 1) mit der Lichtmetaphorik: das Licht besiegt die Finsternis, der ewige Logos kommt in die Welt und kündet von Gott und legt damit das Samenkorn der (Selbst)Aufklärung. Lumen Christi: Auferstehung und ewiges Leben. Damit ist dem Katholizismus dem Grunde nach die Aufklärung bereits eingeschrieben. Was allerdings nicht bedeutete, der Mensch könnte nicht hinter die gewonnene Erkenntnis zurückfallen. „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.“ (Kant) Dazu brauchte es eine Stütze: den bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir!
Ecclesia semper reformanda
Soweit das Individuum jenseits der Aufklärung auch gefragt war, es galt zunächst diesseits zu untersuchen, welcher Kirchenbegriff im Spiegel der Aufklärung überhaupt Bestand haben konnte. Neuscholastisch war die Sache klar: der Ewigkeitscharakter und ihr Absolutheitsanspruch (Wahrheit, Gehorsam, Glaube) in Stein gemeißelt. Die Kirche galt als vom unveränderlichen Gottessohn gestiftet in eine unveränderliche Welt. Eine Reform per definitionem demnach unmöglich. „Katholische Aufklärung“? Undenkbar! Wenn das aber so ist, dann folgt daraus ein Einheitskatholizismus. So folgerte etwa der Ultramonismus (ultra montes), den es als Strömung nach der eigenen Logik eigentlich gar nicht geben könnte. Überhaupt sind Einheitlichkeitsbestrebungen ein spätes Phänomen, das es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts so nicht gegeben hatte. Kennzeichen für „Katholizismus“ waren unterschiedliche Strömungen, die innerhalb oder außerhalb nach Bewegungsfreiheit suchten (Luther). Die Zentralisierungsbewegungen im Vorfeld des Ersten Vatikanums lesen sich heute als Abwehrreaktionen („Dei filius“) gegen eine rationale Infragestellung der christlichen Offenbarungsreligion. Die menschliche Vernunft sollte auch 1870 noch von der göttlichen Wahrheit abhängen. Erst das Zweite Vatikanische Konzil schaffte die Öffnung hin auf die Welt und ihre Erkenntnisse, schlussendlich auch in dem Bewusstsein, dass die Kirche eine Institution ist, die eines kontinuierlichen Wandels bedarf. Dabei gilt es, das „Zurückformen“ (reformare) immer wieder neu an Christus auszurichten und zugleich den Anforderungen wie auch Erkenntnissen in der Welt gegenüber aufgeschlossen zu sein. Hierin liegt sowohl die tiefere Bedeutung „katholischer Aufklärung“ als auch ihrer Zukunftsfestigkeit: der aufgeklärte Mensch ist sich der Grenzen seiner Vernunft bewusst und damit zugleich offen für die Offenbarung.
Cantus firmus
Bis in die Moderne hinein war die Angst der Päpste, Revolutionen zu erleben und von ihnen hinweggefegt zu werden, jener feststehende Gesang, der mit den Umwälzungen der Französischen Revolution begonnen hatte, jenem Totalschaden im Laizismus. Erst der Wiener Kongress restituierte 1815 den Kirchenstaat, der allerdings im Rahmen des italienischen Einigungsprozesses wieder verloren ging, um dann abermals und bis heute über die Lateranverträge mit Benito Mussolini und Pius XI wieder hergestellt zu werden. Recht besehen, ist diese Angst bis heute virulent. Sie zeigt sich in den Kämpfen der Konservativen (Woelki, Müller, Vorderholzer, Burke, Sarah) gegen Franziskus. Gegen eine weitere Öffnung, gegen Ismen der Zeit, gegen die weitgehende Selbstbestimmung der Gesellschaft.
Katholikentage – Heerschau des politischen Katholizismus
Wolf arbeitet akribisch heraus, dass gerade auf Seiten der katholischen Laien ein Modernisierungsschub für die Kirche erarbeitet wurde. Im Zusammenhang mit dem Entwurf der katholischen Soziallehre auf dem Hintergrund der Industriellen Revolution, Wirtschaftsordnungen wie Kapitalismus, Liberalismus oder Sozialismus, veröffentlichte Papst Leo XIII (der „Arbeiterpapst“) die Enzyklika „Rerum novarum“ (1891). Sie gilt als Mutter aller Sozialenzykliken. Leo konstatiert darin, die Überführung von Privat- in Gemeineigentum sei nicht nur rechtswidrig, sondern schade auch der Arbeiterklasse. Da der Mensch für seine Arbeit einen angemessenen Lohn zu erhalten habe, über den er frei verfügen könne, sei die Umwandlung von Privateigentum in Gemeingut eine Missachtung des Eigentumsanspruchs. Was der Gesellschaft zukomme, könne am Individuum oder der Familie nicht vorübergehen. Dies zu gewährleisten wie auch eine aktive Sozialpolitik, fordert Leo ausdrücklich von Seiten des Staates ein.
Die Katholikentage (Nr. 1: 1848) griffen diese Entwicklungen auf und führten sie mit Forderungen nach gerechter Sozialpolitik fort. Innerkirchlich fanden Auseinandersetzungen statt über die päpstliche Unfehlbarkeit, Toleranz und Mitbestimmung (Subsidiarität). Wolf schreibt: „Ohne 100 Katholikentage sähe aber nicht nur die Kirche ganz anders aus, weil es keine selbstbewussten, eigenständig agierenden Laien in diesem hierarchischen System gäbe. (…) Katholikentage waren vielmehr die öffentliche Inszenierung des sozialen und politischen Katholizismus, der die deutsche Gesellschaft nachhaltig geprägt hat. Ohne sie gäbe es den Sozialstaat, wie wir ihn kennen, nicht.“ Wohl auch das Grundgesetz nicht mit Gottesbezug oder den immer wieder in die Mitte der Gesellschaft dringenden Diskurs der Katholiken zu gesellschaftlichen Themen.
Circostanze
Die folgenden Abschnitte: „Friedenslichter? Matthias Erzberger und der Vatikan“ sowie „Verdammte Finsternis? Die römische Inquisition und der Rassismus“ lesen sich als realpolitische Exkurse kirchenpolitischer Entwicklungen sehr schön, zeigen sie doch den Kampf Erzbergers wie auch Eugenio Pacellis (später: Pius XII) im Ringen um die rechte Haltung eines Katholiken (Erzberger) im Widerstreit von kirchlichem Gehorsam mit staats- und geopolitischen Herausforderungen. Die mehrfachen Grenzüberschreitungen Erzbergers zum Wohle Roms (Verwendung deutscher Steuergelder) oder die Zurückhaltung Pacellis in seinen Noten gegenüber dem Vatikan in Sachen „katholischer Reformer“, machen eine Perspektive zweier Männer im Dienste Roms ebenso wie im Dienste Europas und des Friedens auf. Vergleichbares unter innervatikanischen Gesichtspunkten liest man über die Auseinandersetzung zu Rassismus und Nationalismus (die Akten der CDF sind ja offen). Allerdings bilden die beiden Abschnitte – so interessant und ergebnisorientiert sie auch sind – doch einen konzeptionellen Bruch in Bezug auf das Thema des Buches.
Gewissen der Gesellschaft
Die zwei Quellen der katholischen Kirche (Schrift & Tradition) bedeuteten in wichtigen Abschnitten der Geschichte ein katholisches Dilemma: den weltlichen Herrschern steht der weltliche Gehorsam zu, der Kirche jener in Glaubensfragen. Um dem ein Stück weit zu entkommen, würdigte Pius XII die Demokratie als Regierungssystem, das der Würde der Bürger am besten Rechnung trage. Johannes XXIII ging im Vorfeld des Zweiten Vatikanums noch einen Schritt weiter und erkannte die Grundlagen des modernen Verfassungsstaats an. „Pacem in terris“ widmete sich den Menschenrechten. In der Folge („Dignitatis humanae“) tat die Kirchen den entscheidenden Schritt: von der „Wahrheit“ hin zum „Recht der Person“ (Religionsfreiheit). „Gaudium et spes“ hob 1965 nochmals ausdrücklich die Demokratie als Staatsform hervor.
In der Betrachtung dieser Entwicklung wird die wechselseitige Bedingtheit von politischer Gemeinschaft und Kirche deutlich: ihre grundsätzliche Unabhängigkeit dient doch denselben Menschen. Diese Gemeinwohlorientierung, die bereits im Urchristentum angelegt und nach der Schrift genauso gewollt ist, ist ein Pfund, mit dem die Kirche noch immer „wuchern“ könnte, wenn sie es denn richtig einzusetzen vermöchte.
Fazit:
Das eigentlich „überraschende“ ist das Wesentliche und doch eben auch die Basis: „den“ Katholizismus gab es nie. Er ist eine Erfindung im Ausgang des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf gesellschaftliche Gegenkräfte. Gerade in dieser „Uneinheitlichkeit“ liegt aber das große Potential: die verschiedenen Ausprägungen des Katholizismus haben ihn als äußerst widerstandfähig gegen alle Umwälzungen gemacht. Zudem war es ihm möglich, eine katholische Aufklärung zu entwerfen, die bedeutende Entwicklungen (Soziallehre) angestoßen hat und noch heute Bindungspotential entfalten könnte. Das ist allerdings in diesen Zeiten einer der schwersten Glaubwürdigkeitskrisen sehr schwierig geworden. Dennoch: es kann sich lohnen!
Ingo-Maria Langen, November 2019