Neue Rundschau
134. Jahrgang | 2023 | Heft 3
Utopie Zukunft Gesellschaft Glück
126 Seiten, 17.- €
- Fischer Verlag, Frankfurt/M 2023
Die Angst – und die Mühen des Umbruchs und Aufbruchs
Betrachten wir Maslows Bedürfnispyramide, stellen wir fest, die Sicherheitsbedürfnisse rangieren direkt oberhalb unserer physiologischen Grundbedürfnisse. Der Mensch sehnt sich nach einem Rahmen, der für ihn verlässlich erscheint, ihm den Eindruck vermittelt, auch in naher Zukunft noch seinen Gewohnheiten nach gehen zu können. Unsere Gesellschaften befinden sich allerdings in einer Phase des Übergangs, der Disruption und Transition. Gesellschaften als Edukationsressourcen brauchen Narrative, um Phasen der Ungewissheit und der Neuausrichtung zu bewältigen, damit ihre kreativen Fähigkeiten erhalten bleiben und für den Neustart genutzt werden können.
Im Nachkriegsdeutschland war dies die Erzählung vom Wirtschaftswunder, der Sozialen Marktwirtschaft und dem Versprechen, auch noch der Einzelne werde nicht zurückgelassen. Ein derartiges Erzählkontinuum gibt es heute nicht mehr. Das letzte seiner Art war dasjenige der „blühenden Landschaften“ kurz nach der „Wende“ 1990. Im Anschluss gab es nur noch Reparaturen („Agenda 2010“). Heute kann niemand sagen, wohin wir uns in Deutschland, in Europa, ja in der Welt entwickeln: Klimakrise, Kriege, zurück zur multipolaren Welt. Das bereitet vielen Menschen Sorge, macht Angst. Auf (möglichen) Verlust reagieren wir archaisch: mit Angst, Trotz, Verweigerung, Ablehnung. Selten mit konstruktiven Lösungen, noch seltener mit Resilienz.
Der vorliegende Band der „Neuen Rundschau“ positioniert sich aus verschiedenen Perspektiven dazu. Gesellschaftlichen Umbrüchen gingen zumeist „Utopien“ voraus, lange bevor eine kritische Grenze erreicht war. Die Utopie soll helfen eine Vorstellung von einem besseren Leben in einer nicht allzu fernen Zukunft für eine Gesellschaft zu entwerfen, die als „prinzipiell realisierbares Gegenmodell“ (Johannes Schmidl – Die Utopiefalle) vorgestellt wird. Was einst als „utopisch“ galt, ist später häufig Realität. Das Beispiel unserer Tage, die Dekarbonisierung, war den Studien der Erdölindustrie seit den Siebzigern bekannt, nur öffentlich nicht und politische Handlungsspielräume ergaben sich nicht. Wachstum galt als Zauberformel, der Waldschadensbericht eher für „Ökos“. Werden wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen? Werden wir mit unserem (noch wachsenden) Wissen und Können einen Weg einschlagen, der uns vor der größten Katastrophe des Planeten bewahrt? Oder erliegen wir erneut einer schönen Erzählung neuer Energien, die uns sauber und nachhaltig machen ohne etwas von unserer verschwenderischen Sucht des (westlichen) Lebensstils aufzugeben? Ignorieren wir die Jahrzehnte, die es brauchen wird, neue (umweltschonende) Wirtschafts- und Lebensformen zu entwickeln, indem wir Versprechen geben, die nicht zu halten sein werden? Schmidl wirft einen (nicht abschließenden) Blick auf unser Verharren, unseren Wunsch nach Glaubensbotschaften und unseren Trotz uns nicht ändern zu wollen.
Fragen des Verzichts
Hat die Klimakrise etwas mit Ungleichheit zu tun? Mit imperialer (in Ablösung der kolonialen) Lebensweise im „globalen Westen“? Ist unser (individueller) ökologischer Fußabdruck eine statistische Größe (stört nicht weiter), die wenig mit unserem täglichen Leben zu tun hat? Indem wir die Kinder zum Kindergarten (Sport, Treffen usw.) mit dem Auto fahren, um sie zu behüten, sie nicht krank werden dürfen (da haben wir keine Zeit dafür), das E-Bike eben komfortabler ist (der Strom kommt ja aus der Steckdose), der Flug nach Lanzarote oder die Kreuzfahrt in die Dom-Rep auf unserem Jahreszettel steht, schließlich müssen wir für unsere sozialen Beziehungen auch einiges unternehmen (vorweisen), damit wir weiter mithalten, dabei sein, akzeptiert sein können. Warum wird es nur so ungemütlich mit dem Eintritt ins Anthropozän? Warum wird uns alles verboten? Ulrich Brand (Von der imperialen zur solidarischen Lebensweise) geht der Frage nach, was passiert, sollten wir den Ressourcenverbrauch nicht um, sondern auf 20% verringern (müssen). Was würde das für unser Wohlstandskonzept bedeuten? Können wir uns mit „Grünem Kapitalismus“ vor Verlusten schützen? Doch die Frage ist falsch gestellt: „Grüner Kapitalismus“ ist eine contradictio in adiecto, sie impliziert Wachstum und Profit. Beide Begriffe sollen signalisieren: so geht es uns gut! Veränderungsmanagement in sozialen Systemen ist deshalb so schwierig (und scheitert häufig), weil Einzelne oder Gruppen Widerstand organisieren, der sie vor Verlusten schützen soll. Langfristig führt das zu sklerotischen Bedingungen und damit zum Absterben des Systems. Die Klimakrise könnte uns genau das (im Norden / Westen) bescheren. Auswege könnte die „Sorge-Wirtschaft“ bieten, die „sozial-ökologische Infrastrukturen zur Daseinsvorsorge“ vorhält. Oder die Konzepte des in Lateinamerika aktuell diskutierten „Buen Vivir“: andere Sichtweisen (als die Extraktionswirtschaft) aus früheren Zeiten (und indigener Wirtschaftsform) zu überlegen, anzupassen oder weiterzuentwickeln. Schlicht, eine andere Perspektive einzunehmen, um zu einem „guten Leben“ mit einer inklusiven Wirtschaft zu kommen. Das bedeutet jedoch (gerade für uns) unabdingbar: Verzicht! Gelingt es uns Verzicht als Handlungsmaxime zu rehabilitieren? Ihn aufzuwerten als eine wesentliche Konzeptgröße für ein „glückliches Leben“?
Noch ein Blick auf Ciceros „Gespräche in Tusculum“, auf die sich Hektor Haarkötter (Das Damokles-Debakel: verurteilt zum Glück) bezieht. Der Legende nach ein saturierter Höfling, unzufrieden mit seinem Leben, fordert der Tyrann ihn auf eine Kostprobe auf das Leben des Herrschers zu nehmen. So nimmt dieser an der Tafel des Herrschers Platz, doch über seinem Kopf, aufgehängt an einem Rosshaar das Schwert. Bleibt die Zukunft da noch offen? Oder ist sie schon besiegelt? Der Faden ist die Bedrohung. Oder ist es die Fehlinterpretation des Damokles, das gefährliche Lustmahl schon unbeschadet zu überstehen? Oder wird es seine Henkersmahlzeit sein? Doch nur der wird daran Freude haben, der nicht weiß, dass dies die letzte seines Lebens ist. Der Verzicht des Protagonisten gründet mithin in der Furcht, sein Leben zu verlieren. Schließlich sichern auch Reichtum und Macht nicht den Schutz vor Gefahren, sie verursachen diese gerade erst. Ein geschicktes Stück, das Haarkötter mit unserer Psychologie (und ihren Hormonen) verbindet, etwa bezogen auf die Erkenntnis, warum wir beim Erschauern uns nicht abwenden, sondern lustvoll hinschauen, mit einem sardonischen Lächeln genießen…
Eine rundum gelungene Ausgabe, die ohne Umschweife zum Punkt kommt und dabei sehr unterschiedliche Beiträge und Formen (das Libretto „Der universelle Kompass“ von Hermann Kretzschmar / Ilja Trojanow sei erwähnt) bietet, Perspektivwechsel inklusive.
Ingo-Maria Langen, November 2023