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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Tomás Nevinson

Javier Marías

Tomás Nevinson
Roman

Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Fischer Verlag, Frankfurt/M 2022

732 Seiten, 32.- €

 

 

„Nichts ist gewonnen, alles ist dahin – Steh’n wir am Ziel mit unzufried’nem Sinn“ (Lady Macbeth / Shakespeare)

Was zeichnet einen exzellenten Roman aus? Nicht selten gleich der erste Satz. Erste Sätze gelten als schwierig, manchmal uneinlösbar. Mit Scheitern verbunden. Gerade dieses tragische Scheitern macht sie dann zu großen ersten Sätzen. Marías gelingt die Kunst den ganzen Roman in diesem ersten Satz zu beschließen: „Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen.“

Tomás, Mittvierziger, Spanier, Ex-Agent des MI6, Ex-Ehemann von Berta, Kinder auf dem Weg ins Leben, wird nach Jahren des verdeckten Lebens in Spanien von seinem ehemaligen Führungsoffizier Tupra, einem Mann gegen die Fünfzig, für einen heiklen Auftrag in Madrid aufgesucht, zu erledigen in einer Provinz im Nordwesten des Landes. „Tomás Nevinson war mir als einziger Name noch gleichsam unversehrt und unverseucht geblieben, nie hatte ich ihn bei meinen dunklen Aktivitäten, bei seinen Aufträgen verwendet.“ Auch dieser Satz hätte sich als erster geeignet, obschon die gesamte Tiefe in dieser Klammer nicht beschlossen gewesen wäre.

Tomás, Protagonist und Ich-Erzähler, steht vor den Scherben eines ausgeräumten Lebens. Berta, die er immer noch liebt, sich das aber nicht eingestehen will, lebt allein in ihrer alten gemeinsamen Wohnung, man sieht sich hin und wieder, tauscht alte Gemeinsamkeiten aus und jeder geht wieder seiner Wege: „Mir schien, dass sie mich aus Eigensinn duldete oder aber aus abergläubischer Treue zur Vergangenheit, als wollte sie diejenige nicht ganz verraten, die sie jung und nicht mehr ganz so jung gewesen war.“ Tomás Weg aus der geronnenen Bedeutungslosigkeit bahnt sich mit der Annahme des Auftrags an, eine ehemalige Terroristin ausfindig zu machen, zu beschatten und letztlich zu liquidieren. Sie trägt zumindest die Mitverantwortung für einen Anschlag auf ein Haus der Supermarktkette Hipercor 1987. Im Hier und Heute, zehn Jahre später, erscheint dieser Auftrag irreal, zumal die Person nicht mehr in Erscheinung getreten ist.

Doch zunächst muss Tomás aus drei Fotos das richtige erkennen. Drei Frauen, eine Tat, eine Täterin, zwei Unschuldige. Nach langem Ringen, der Reflexion auf eigene Taten, die damit verbundene Schuld, die Reue oder deren Ausbleiben, der Rechtfertigung, beginnt er für den Auftrag zu brennen und sei es nur, um seiner alltäglichen Bedeutungslosigkeit zu entfliehen, wieder etwas von gesellschaftlicher Relevanz beizutragen, mittels seines reichhaltigen Instrumentenkoffers, seiner Bildung und eben auch dieser Berufserfahrung, die nicht jeder vorweisen kann. Letztlich einerlei, ob der verschlagene, gebildete und mit allen Wassern gewaschene Tupra ihn überzeugt, anstiftet, oder schlicht die Leidenschaft für seinen Beruf neu entfacht, Tomás steigt wieder ein.

Die Gesuchte ist halbe Nordirin, seit Jahren inaktiv, führt ein unauffälliges Leben zwischen arriviertem Bürgertum und Neuankömmlingen in dieser Stadt im Nordwesten. Marías breitet ein Spektrum der ETA und ihrer Anschläge in Spanien vor der Jahrtausendwende aus, zieht Linien zur IRA und bindet beide über die potentielle Terroristin Magdalena Orúe O’Dea, von der die Dienste annehmen, sie sei in diverse Terrorakte verstrickt.

Marías, Sohn des Philosophen Julián Marías Aguilera, komponiert in langen Bögen. Er setzt ein Thema, durchaus in einem Nebensatz, füllt dieses dann mit dialektischen und perspektivischen Mitteln auf, um im Anschluss die musikalische Leitmotivik fortzusetzen. Sein episches Können besticht: die Verknüpfung der einzelnen Stränge, ob zu Berta, zu Tupra, anderen Agenten oder immer wieder zu seiner eigenen Agenten Vita, bindet er zu einem kunstvollen Geflecht zusammen, unmerklich strebt die Handlung in kleinen Schritten vorwärts. Nicht der prototypische Thriller (etwa der Skandinavier) begegnet uns hier, eher der leise, mit erzählerischer Nuance im Alltag von uns allen wurzelnde Blick auf das Geschehen trägt uns weiter. Sicher nicht ohne Abschnitte drastischer Bilder (so das Foto vom Gendarmen, selbst getroffen, der ein verletztes Mädchen nach einem Anschlag auf den Armen trägt), die mit ihrer inneren Dramatik und Drastik explosive Spannungsmomente aufbieten, um kurz darauf den Leser wieder entspannen zu lassen. Dieses kompositorische Dehnen des Erzählverlaufs hat etwas mäanderndes, das mit seinen kleinen Nebengeschichten zusätzliche Bindung beim Leser aufbaut. Man folgt ihnen gern: gleich ob zu den historischen Hintergründen von IRA und ETA, dem Städte- und Gesellschaftspanorama oder kleinen Bildungsexkursen zu Shakespeare (und anderen). Geschickt montiert passen sie auf den jeweiligen Moment der Figuren.

Doch es gibt auch andere Passagen: Da werden großräumig Erörterungen über Themen von Schuld und Strafe (mal im Dialog, oft im Monolog) angestellt, immer wieder tritt das Thema des Tyrannenmordes auf die Bühne. In diesen Tagen gemahnt uns der Krieg gegen die Ukraine besonders. Das Thema, seit der Antike immer wieder durchdacht und durchgespielt, erfährt aktuellen Bezug, obschon Marías das Buch zu Beginn der Pandemie geschrieben hat. Am 11. September 2022 erlag er, nach einer Corona-Infektion, einer Lungenentzündung.

Thomás Nevinson, alias Centurión (für dieses Abenteuer), begibt sich auf die Suche und findet recht schnell, was er finden soll: Inés Marzán, die Gastronomin, die Undurchsichtige, Celia Bayo mit dem „hippologischen Gang“ und María Viana, „eine Sphinx ohne Geheimnis“. Er arbeitet seinen Werkzeug- und Methodenkoffer an den Frauen ab. Je tiefer er vordringt, desto größer die Zweifel an der Täterschaft jeder einzelnen. Es ist spannend, mit welcher Akribie Centurión vorgeht, wie ihm moralische Reflexionen immer neue Hürden auftürmen, die, gerade genommen, aus sich selbst wieder neue erzeugen. Es wird die Geschichte eines grotesken Scheiterns erzählt und daraus ihr größtes Potenzial erzielt. „Mein Auftrag war von dieser Art: Strafe oder Rache, nicht die Vermeidung eines einzelnen Verbrechens oder Massakers (…); ihn auszuführen, würde mich mehr Überwindung kosten. Und wenn es Rache war, dann nicht die meine. Sie war an mich delegiert (…).“

Tupra, der „Chef“ Nevinsons, zitiert nicht nur Shakespeares Figuren, er nimmt sich selbst als eine aus: gebildet, charmant bis knochenhart, elegant in der Rede, belesen, eitel und aufbrausend, doch blitzgescheit, manipuliert er Tomás fortlaufend. Für den Leser verbindet sich damit eine Wechselwirkung: Macbeth oder Richard III scheinen sich in Turpa nicht nur zu spiegeln, man liest deren Charakter ein Stück weit in seinen hinein. „Nichts ist gewonnen, alles ist dahin. Viel sicherer, das zu sein, was wir zerstört, als dass uns Mord ein schwankend Glück gewährt“, zitiert Tupra Lady Macbeth. Anders gewendet: Wir waren alle kriminell, es hat uns nichts genutzt. Noch tiefer drängt der Satz vom Volk, das sich mit absoluter Nachsicht bedenkt, entlastet von größten Verbrechen. Ein kompositorischer Genuss, der sich allerdings erst langsam, oft erst beim zweiten Lesen erschließt, die Figur dann aber umso dichter erlebbar macht. Verflochten damit ein Erzählduktus von unterschiedlichem Rhythmus und Tempo, vom Verweilen bis zur Dramatik der Ereignisse um einen Anschlag und wiederum räsonierendem Zweifel bei Nevinson.

Detailliert schildert Nevinson, alias Centurión, die Ausforschung der Frauen. Eine Legende als Englischlehrer hilft, sich ihnen zu nähern, mit Inés sogar auf Tuchfühlung zu gehen. Ist sie die gesuchte María Magdalena Orué O’Dea? Der Mord scheitert, letztlich obsiegen seine Zweifel. Und Zweifel anderer Art tauchen auf: Nach dem Mordversuch ist das Opfer plötzlich spurlos verschwunden, wie von langer Hand vorbereitet. Und es bleiben die bohrenden Fragen: Hätte ich letztlich den Tod von Vielen verhindern können, wäre das Opfer von meiner Hand gestorben? Angesichts der Gräuel im Weltgeschehen, im Krieg in der Ukraine, Fragen, die der Leser selbst beantworten muss, Marías lässt sie offen.

Die Wirklichkeit der brutalen Attentate von IRA und ETA (hier: der Anschlag im Hipercor von 1987 in Barcelona) mischt Marías mit der Fiktion einer Agententätigkeit von Tomás Nevinson, in eminent starkem Ausdruck, ganz so als wirke diese Zeit noch in die Gegenwart des Lesers. Über den Wechsel der Erzählstimme als Kunstgriff für einen Perspektivwechsel in der Figur des Tomás Nevinson erreicht Marías eine subtile „Verspannung“ des Protagonisten, die den Leser von der Innenperspektive auf eine Außenperspektive umleitet, der Figur Dreidimensionalität verleiht. Für Genreliteratur eher ungewöhnlich, fügt sich diese Finesse fast unmerklich in den Erzählverlauf und intensiviert den Thrill. Susanne Lange legt eine Übersetzung von großer Intensität vor, die noch jedes Jota in einen Glanzton verwandelt. Ihr gebührt ein großes Danke für die Wirkmächtigkeit des Romans in deutscher Sprache.

Ingo-Maria Langen, November 2022