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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Taube und Wildente

Martin Mosebach
Taube und Wildente
Roman

dtv Verlag, München, 2022
335 Seiten, 24.- €

 

 

 

„Gute Abrechnungen sind das Fundament langer Freundschaften“

Kreativität ist eine Sache für sich: Leerer Bogen, Idee im Kopf, Formulierungen fallen auf das Blatt, Begriffe beargwöhnen sich, drängen sich vor das Auge des Verfassers, vernebeln nicht selten die Zielsetzung. Ruprecht Dalandt, Inhaber eines kleinen Verlages, kämpft mit seinem Vorhaben, einen Dante-Essay zu schreiben. Nicht die einzige Herausforderung, der er sich stellen muss.

Mosebach entführt uns zunächst in den Südwesten Frankreichs auf das Landgut La Chaumière. Ein uriges südfranzösisches Anwesen, ehemals Eigentum Cornelius de Kesels, dessen Tochter Marjorie die Verwaltung des Hauses übernommen und für ein sommerliches Stelldichein einen erweiterten Familienkreis eingeladen hat. Hier darf in Kunst geschwelgt werden: jener der wundervollen Provence, weniger jener der Kulinarik. Gleichwohl ist für alles gesorgt. Über das Ehepaar dos Santos, das sich um Haus und Küche kümmert oder den skurrilen Maler Damien Devereux, Engländer seines Zeichens und künstlerischer Gestalter eines Teils des Interieurs. Sein Domizil ist eine kleines Pförtnerhäuschen am Beginn des Anwesens. Das Haus, reparaturbedürftig, wie auch manche seiner Gäste, bietet neben reichlich Patina Kunstwerke formidabler Herkunft: Cézanne, Balthus, Utrillo, Corot (Schule von Barbizon) – die Diskussion zum Umbruch in die postakademische Malerei als Folie des Eigentlichen: das Bild Otto Scholderers „Taube und Wildente“. Was es damit auf sich hat, welche mythische Tiefendimension sich aus ihm erschließen lässt, ist Herzstück des Romans.

In zwei kammerspielartigen Sequenzen werden wir Zeugen diverser Reifungsprozesse der Figuren oder auch ihrem Scheitern. Das erste Setting, La Chaumiére, führt die Anfälligkeit der Lebensentwürfe ihrer Gäste vor Augen. Der verstorbene de Kesel: ein Präzisionsmensch, Hausregeln für die Tischgemeinschaft, die Gartennutzung, die Hausbewirtschaftung samt damit verbundenem Personal, alles durchgetaktet, Zufall oder Spontanität nicht vorgesehen.

Im Abglanz seines Dahinscheidens müht sich die Hausgesellschaft zunächst mit den überkommenen Vorschriften. Insbesondere das Ehepaar dos Santos versucht die Traditionslinien noch fortzuführen. Sie scheitern mit ihrer boshaften und hinterhältigen Taktik letztlich an sich selbst, Marjorie wird beide über einen juristischen Kniff, zu dem sie den Stiftungsvorsitzenden Dr. Tobler verleitet, los. Es wird ihr kein Glück bringen, denn der Haushalt ist zu umfangreich, schnell scheitert sie daran, ihn umfänglich zu führen.

Paula, die Tochter von Ruprecht und Marjorie, besucht mit der Enkelin Nike (der Name ist Programm), die Gesellschaft, zerstört mit ihrer Wut und aggressiven Verhaltensweisen mitunter ganz bewusst einen Moment der (drohenden) Harmonie. Nur gegen Ruprecht ist sie auffällig zurückhaltend und selbst Nike, gewöhnt den Willen einer Siebenjährigen durchzusetzen, hält sich bei ihm zurück. Marjorie hingegen kann das Kind nicht leiden, geht oft schroff mit ihm um, Paula zahlt mit gleicher Münze heim. In dieser Szene mischt dann noch ihr Freund Max mit, glückloser Pianist, Opfer von Paulas Tiraden und Missstimmungen. Mit feinem Faden spinnt Mosebach den Verlauf, der Leser spürt: hier lauert noch etwas unter der spiegelnden Oberfläche gebildeter Gespräche über Gemälde und Kunsttheorie. Ruprecht setzt für alle überraschend in einem frühen Moment zu einer improvisierten Apologie des Bildes „Taube und Wildente“ von Otto Scholderer an, die ebenso kenntnisreich wie emotional hochfahrend ist. Ein Genuss des Lesens, der zudem die Atmosphäre knistern lässt, sind doch noch zwei Verlagskollegen anwesend, die später zu einer existenziellen Wendung beitragen werden: Fritz Allmendinger und Sieglinde Stiegle. Zunächst entfaltet sich für den Leser jedoch ein bizarres Familiengeheimnis, das Patrick Bahners in der „F.A.Z“ kenntnisreich mit dem sechsten Canto der Comedia divina Dante Aligheris in Verbindung bringt: Paolo und Francesca in der Hölle auf ewig verbunden. Taube und Wildente, ein unnatürliches Paar, Ruprecht und Paula ein verbotenes, dessen Paradiesfrucht ihm keinen dauerhaften Sieg bescheiden wird.

„Im Elend sich vergangenen Glücks erinnern zu müssen, ist der größte Schmerz.“ (Francesca bei Dante)

Der erste Kuss vor „Taube und Wildente“ nach sieben Jahren getrennter Leben, ist der Auftakt zur endgültigen Lösung dieser „Beziehung“ zwischen dem alten Mann und der jungen Frau. Die feinnervige Beschreibung, ihre psychologische Ausdeutung, kontrapunktierend zu den emotional heftigen Ausbrüchen Paulas, ihre oft so unerbittliche Unerträglichkeit, ziehen den Leser mitten in das Beziehungsgeschehen, ihm selbst bleibt die Identifikation mit der Figur überlassen. Geschickt bindet Mosebach über die Figur Ruprechts diese Entwicklung zurück an das Bild Scholderers: mit zarten Grautönen, „in einer verzauberten Blässe“, wird es von ihm beschrieben, der rote Punkt zum Erkenntnisgrund stilisiert. „Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß er selbst der erste war, der den geistigen Akt erkannte, den dieser zinnoberrote Punkt darstellte. Der fiel ja eben nicht schreiend aus der Komposition heraus, er stiftete in seinem Anderssein keine Unruhe. Eine geistige Großtat hatte in Ruprecht vielleicht den einzigen Zeugen. Hätte er sie nicht entdeckt, wäre es ihr ergangen wie so vielen genialen Einfällen, die niemals von irgendwem bemerkt worden sind. (…) Ruprecht schraubte die Lampenschirme wieder fest. Das war, als verwische er die Spuren seines Abenteuers.“

Von Dauer ist allein das Glück im Herzen

Auch Marjorie ist (k)ein kurzatmiges Glück beschieden, die amouröse Liebschaft im Pförtnerhaus, deren Reiz wohl auch in der Anwesenheit der Gäste und Ruprechts liegt, mündet in einer kleinen Abfindung an den Liebhaber von 60 Tausend Euro. Geld, das durchaus in die Renovierung des Hauses hätte fließen sollen. Eine gewitzte Wendung um „Taube und Wildente“ bringt es ihr zurück, wenngleich es dann an anderer Stelle fehlt. Damit kommen wir ins zweite Setting.

Marjorie und Damien bleiben in La Chaumiére, die dos Santos nur noch für eine kurze Weile. Ruprecht und Paula fliegen heim nach Deutschland in die Winterwohnung. Dort entspannt sich das bereits vorbereitete Drama um den Verlag. Kollege Allmendinger setzt alles daran, den Verlag zu übernehmen, notfalls von außen. Er schreckt nicht davor zurück, die neue Lektorin zu instrumentalisieren und Ränke mit einem am Kauf interessierten Großverlag zu schmieden: „Was erwartest du von mir? Was bitte soll ich tun? – Sie klang abwehrend. Noch nie war ihr Allmendinger so wenig anziehend vorgekommen wie jetzt. Noch nie zuvor empfand sie seinen Ehrgeiz als derart peinlich – er strampelt vor Eifer, dachte sie.“ Die lange schwärenden Konflikte zwischen Allmendinger und Dalandt um die wirtschaftliche Führung des Verlags spitzen sich zu. Schließlich gelingt die Übernahme und Ruprecht findet in seine neue Rolle im Verlag, die ihn mit vielen Freiheiten ausstattet, zugleich erlöst um die Mühen der Kostensituation.

Und noch etwas klärt sich. Paula findet in die Beziehung zu Max zurück, ein Abschluss mit Ruprecht im Schmerz und doch mit einem Gefühl des Aufbruchs in einen neuen Abschnitt ihres Lebens, ihre Siegesgöttin eingeschlossen. Es scheint, etwas Lebensharmonie kehre ein in die Vorweihnachtszeit. Doch der Schicksalslauf hält nicht inne. Paula und Max bereiten einen Weihnachtsbaum vor, hübsch geschmückt, zu Nikes großer Freude. Marjorie kommt überraschend hinzu, die Familie findet in die gebührende Vollständigkeit. „Der schwere Rotwein begann zu wirken. Die leisen Gespräche verdichteten sich zu einem Summen, das über dem Tisch lagerte. Das wirkte beschwichtigend auf ihn. Das Gefühl von Zeitlosigkeit entstand.“

Was bleibt nun zu „Taube und Wildente“ zu sagen? Vielleicht so viel: Der Aufwand, die Aufregung, die Händel, Sorgen, aber eben auch Freuden, sie lösen sich in einem Ereignis mit weitreichenden Folgen auf. Und führen zu einer unerwarteten Wieder-Begegnung.

Ein Roman als pures ästhetisches Vergnügen, komponiert mit anspruchsvollem bildungsbürgerlichem Bühnenwissen über Kunst und Literatur, einfühlsam in der Psychologie der Figuren mit allen Ecken und Kanten ihrer jeweiligen Sozialisierung, nie überbordend oder die Wurzel vergessend, wachsen diese doch in den entscheidenden Momenten über sich hinaus, erleben Größe darin, sich zurückzunehmen. Versetzt mit einer ordentlichen Prise Selbstironie und Humor, um auch Unerträgliches noch erträglich zu machen.

Ingo-Maria Langen, Dezember 2022