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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Straffers Nacht

Wolfgang Wissler
Straffers Nacht
Roman

Pendragon Verlag, Bielefeld, 2023
232 Seiten, 22.- €

 

Wunder werden aus Unwissenheit geboren

Der Schrecken – er ist überwunden, endlich! Die neue bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft, sie beschäftigt sich mit sich selbst. Spießbürgerliche Enge, spartanische Wohnverhältnisse, spärliches Einkommen und große Wünsche, Konsum und Wachstum zu erreichen sind bundesbürgerliche Ziele. Bald liegt nur noch ein blasser Hauch der Erinnerung einer Zeit der deutschen Geschichte über dem neuen Volk, beschworen zu offiziellen Gedenktagen, deren mehliger Geschmack mit einem frischen Bier in der Kneipe schnell heruntergespült wird, bevor der Stammtisch tagt. Diese neue Gesellschaft ist bei sich selbst angekommen: zwischen Wirtschaftswunder, Italienurlaub und eigener Waschmaschine. Die neue Moral lautet Wohlstand, Karriere, Leistungsgesellschaft, nationaler Wiederaufstieg.

Mit leiser, nahezu verhaltener Sprache beginnt Wolfgang Wissler sein tiefgründiges Figurenspiel in „Straffers Nacht“. Erich Straffer, Nachtwächter in einem großen Industriebetrieb mit (Schmelz)Ofen macht seine Runde. Routiniert durstreift er die riesigen Hallen, nachtschwarz, einzig die kleine Tischlampe in einem der Gebäude gibt etwas Helligkeit, strahlt unverdrossen in die Dunkelheit, lumen gentium. Das Licht für dieses Volk, so einsam es leuchtet, so einsam dreht Straffer seine Runde. Mit seiner Frau Magda und den beiden Söhnen Karl und Max repräsentiert er die deutsche Nachkriegsfamilie im Wirtschaftswunderland: „Am frühen Morgen, wenn er nach Hause kommt, sitzt die Familie, Magda und die beiden Buben, noch in der Küche beim Frühstück. Sie schmieren Margarine und dünn Marmelade auf das dunkle Brot. Sie sehen unglücklich aus. Straffer fragt sich, ob sie immer unglücklich sind oder bloß, wenn er dabei ist. Vielleicht ist um ihn so viel Zorn, Unzufriedenheit und Düsternis, dass sie nicht wagen, in seiner Gegenwart auch mal heiter zu sein. Vielleicht spaßen und lachen sie, sobald er die Tür hinter sich zugezogen hat. Nein, sehr unwahrscheinlich. Sie sind eine unglückliche Familie. Ein Blick auf Magda genügt. Sie muss einmal schön gewesen sein. Es muss so gewesen sein.“ Er plagt sich mit der unzufriedenen Ehefrau, die sich am Erfolg und Materialismus der Nachbarn arm sieht, das Geld für die Fußballschuhe muss in der Schule gesammelt werden, eine Schmach, die sie unendlich erzürnt. Die Einladung der Grünkes endet fast im Eklat.

Der düstere Eindruck des Protagonisten, er will so gar nicht zum neuen Glück des Landes passen und ist doch geradewegs ein besonderer Ausdruck dieses neuen Landes: das sieche Ringen schleichenden Gifts gegen republikanisches Selbstbewusstsein. Vieles ist Fassade. Straffer traut dem nicht. Denn er weiß: Jeder hängt sein Fähnchen nach dem Wind, will von nichts gewusst haben, war nirgendwo dabei, ist in Unschuld nach dem Krieg neu geboren. Paradigmatisch: Axel, der „Unsympath“ aus der Kneipe, der Straffer gegenüber aufschneidet, am Tresen lauthals schwadroniert: „Ich mach‘ im Moment vielleicht nicht viel her, jetzt, wo ich so an diesem Scheißtresen hocke. Aber ich sage dir: Was du hier siehst, ist nicht das, was ich bin.“ Denn früher in Russland, da war er Problemlöser des Führers, SS. „Ratatatata. So ging unsere Melodie.“ Und wenn ihm persönlich wer missfiel, dem gab er eine Sonderbehandlung: „Die hatten keinen schönen Tod. Und wir haben gelacht.“ Es war halt Krieg. Nachdem Straffer gegangen ist, rennt Axel hinter ihm her und bettelt nachgerade, er möge nichts von diesem Gespräch gegenüber Dritten erwähnen. Schließlich hatte man ja seine Befehle. Was der Krieg aus Menschen macht, ein ungelesenes Buch. Dessen Wurzeln gründen schon in der langen Zeit davor.

Straffer trinkt die schwarze Milch der Frühe. Bald bekommt er einen neuen Kollegen an die Seite gestellt: ein junger Mann namens Horovitz, Jude zumal, aus Tel Aviv. Gekommen, seinen Onkel Gideon zu rächen, allen Umständen auf den Grund zu gehen, dem (nicht geneigten) Publikum zu zeigen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland und ihr alle wart willige Helfer. Kompositorisch ist das ein gewagtes Spiel, bricht es doch die Erwartungshaltung des Lesers. Mit feinem Gespür für das mögliche Abgründige im Leben Straffers streut Wissler Informationen, die noch aktive Netzwerke aus der Nazizeit andeuten, wenn Straffer Dr. Laible unter Druck setzt. Der unscheinbare Nachtwächter war ein SS-General, Russland, Vernichtungslager, der Tod war sein Geschäft. Bis ins Hier und Heute reicht seine Macht, ist er psychologisch vielen alten Gefährten noch der Befehlsgeber, dem unwidersprochen zu gehorchen ist. Dieser Bruch in der Erwartung erweist sich jedoch als geschickter Kunstgriff, der als Dekonstruktion einer makellosen Nachkriegsvita zur schrittweisen Demaskierung des Protagonisten führt.

Entnazifizierung

Auch hier wieder ein kompositorischer Kniff: Wissler nutzt das Figurentableau kunstfertig, um über die Exposition scheinbar untadeliger, liebenswerter und humorvoller Personen, diese bald selbst zu dekuvrieren, als Handlanger des alten Systems zu zeichnen und über die Selbstreflexionen Straffers in alte Bezüge zu setzen. Beispielgebend: Alois Bechmeyr. Eingeführt als lustiger Bayern-Seppel mitsamt seiner gutmütig-tüchtigen Ehefrau Irmtraut, spielen sie die urwüchsigen Wirtsleute für die Straffers, die zum halben Preis den Urlaub im Gasthof verbringen. Bleibt es vordergründig zunächst bei der Enttarnung ihrer Kostümrolle im Umgang mit den Gästen, präpariert Straffer in der Folge den Kern des Gastwirts als skrupelloser Nazimörder und Massengewaltverbrecher. Dieser unscheinbare Seppel bricht mit seiner Nazivergangenheit kontrastiv die eigene Figureneinführung und raubt dem Leser jede Hoffnung auf das Gute im Menschen. Diese Desillusionierung wird ihn nicht mehr verlassen, sondern auf bestialische Weise begleiten.

Nur die Lüge gibt der Wahrheit ihren Platz

Die Figurenrollen diktieren den Platz in der Nachkriegszeit. Ein Abschnitt ist den alten Größen von damals gewidmet: Luxemburg, Bad Mondorf, Hotel Palace. Göring, Keitel, Rosenbaum, Ribbentrop, Jodel, sie mokieren sich über die „neuen Zeiten“, behandeln den Sergeanten wie ihren Sklaven, der ihnen zu Diensten zu sein hat und waschen sich von jeder Schuld rein. Später dann wird dieser Sergeant als Privatmann die Bundesrepublik im Auftrag seines Arbeitgebers wieder besuchen und als Bittsteller vorstellig werden, um eine Lizenz für den Nachbau von Gabelstaplern in den USA zu erhalten. Die Doppelbödigkeit und der perfide Hintersinn verschlägt dem Leser die Sprache. Bilder von Leichenbergen, aufgetürmt oder in Gruben, werden evoziert. Es wird klar: Es gibt kein Entkommen aus dieser Hölle, wir bleiben schuldig, auch über Generationen hinweg. Ethisch-moralisch können wir weder entlastet noch entlassen werden. Den damals wie heute von vielen gewünschten „Schlussstrich“ können wir nicht ziehen. Eine Schuld vergeben kann nur das Opfer. Ist das verstorben, ohne seine Vergebung zu erklären, bleibt die Bitternis überzeitlicher Schuld über der Gemeinschaft hängen. Um diesem Dilemma zu begegnen, sind Gedenktage, Gedenkorte und Kranzniederlegungen eingerichtet worden. So lobenswert, so unvollkommen und unbeholfen diese bleiben. Lumen gentium – dieses eine Licht wird bleiben. Unverdient.

Die Stimmung drückt aufs Gemüt. Mit dem Voranschreiten der Handlung wird die Unausweichlichkeit der Erkenntnis immer bedrückender: Alle lügen, verdrehen Wahrheit und Wirklichkeit, vergiften die Wahrhaftigkeit, nur Reuben Horovitz nicht … Um es mit Bertold Brecht zu notieren: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“ Alsbald wechselt das Narrativ als sinnstiftende Erzählung der Integration alter Nazis in die Umwertung der Motivik. Das Setting nimmt Züge eines „Thrillers“ an, Eigenschaften, die den Leser für Straffer einnehmen könnten, treten in den Hintergrund, während er mit Bechmeyr ein übles Komplott schmiedet.

Wissler gelingt es, dem Leser ein zwischen Abscheu, Bewunderung und Entsetzen changierendes Gefühl zu vermitteln, das Ohnmacht im Angesicht von Ruchlosigkeit spiegelt. Das vormals als „sardonisches Lachen“ Straffers wahrgenommene Spiel mit seinen Mitmenschen schmeckt der Leser gegen Ende als die schwarze Milch der Frühe auf der Zunge. Vertrauen ist ein Kapital des freiheitlichen Rechtsstaats, das dieser selbst nicht garantieren kann. Wissler bringt das Böckenförde-Diktum auf den paradoxen   Punkt: Nur die Lüge gibt der Wahrheit ihren Platz. Pablo Picasso hat es so formuliert: „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lässt.“ (1923)

Der Schrecken ist (auch heute) mitnichten überwunden, er kehrt in vielfacher Gestalt wieder, nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa und darüber hinaus. Ein nachdenkliches und substanzielles Buch, das uns wachrüttelt, achtzugeben auf unsere institutionellen und freiheitlichen Errungenschaften. Sie könnten uns zwischen den Fingern zerrinnen. Dem Buch ist ein breites Publikum zu wünschen.

Ingo-Maria Langen, September 2023