Annamária Fábián
Igor Trost (Hrsg.)
Sprachgebrauch in der Politik
Grammatische, lexikalische, pragmatische, kulturelle und dialektologische Perspektiven
Reihe Germanistische Linguistik (Bd. 319)
Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 2018
366 Seiten, 99.- €
Annamária Fábián ist Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Bamberg, darüber hinaus nimmt sie am “Förderprogramm Step by Step für Frauen auf dem Weg zur Professur” teil. Igor Trost ist Professor am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Passau.
Sammelband zu einer „Internationalen Konferenz zur politischen Sprache am Schnittfeld von Pragmatik, Grammatik und Kultur“ an der Universität Passau, Oktober 2015.
Der Band ist in vier Abteilungen gegliedert: Die Polizität von Sprache, die Funktion grammatischer Einheiten im politischen Sprachgebrauch, die Funktion morphologischer, lexikalischer und stilistischer Einheiten im politischen Sprachgebrauch sowie die Funktion der Varietäten und Identitätskonstruktionen im politischen Sprachgebrauch.
Die aufgewühlte Öffentlichkeit und ihre mediale Resonanz versperren den Blick auf eine analytische, wissenschaftliche Bestandsaufnahme sowie deren Bewertung von Politik und Sprache im Tagesgeschehen. Der Tagungsband will u.a. im Zuge der ausgreifenden Diskussion um den Satz Angela Merkels „Wir schaffen das!“ aus 2015 einen Beitrag zur Versachlichung von Politik und Sprache leisten.
Ein Satz – viele Kontroversen
Kaum ein Satz in der langen Amtszeit Angela Merkels hat derart heftige Reaktionen ausgelöst wie dieser. Sowohl innen- als auch europapolitisch standen sich die Lager unversöhnlich gegenüber. Nach einer anfänglich euphorischen Stimmung in der Öffentlichkeit gewannen die Kritiker deutlich an Oberhand, so dass kurzzeitig sogar die Koalition auf dem Spiel zu stehen schien. Der Beitrag von Annamária Fábián („Wir schaffen das!“) beleuchtet die Äußerungen Merkels in der BPK vom 31.08.2015.
Politikerreden dienen einerseits dem parlamentarischen Geschäft, andererseits sind sie angewiesen auf Öffentlichkeit als referenzielles Auditorium zur Legitimation politischen Handelns. Die Zielstellungen der Reden bewegen sich zumeist zwischen argumentativer und persuasiver Kommunikation mittels lexikalischer, grammatisch-semantischer und mentaler Prozesse. Eine Schlüsselrolle nehmen Modalverben (müssen, sollen, wollen) ein. Die untersuchte BPK unterscheidet sich von anderen Ansprachen insoweit, als dass ihr Appellcharakter den der Information als Mischelement überwiegt. Die Intention liegt in der Herstellung eines gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Konsenses im Sinne eines kollektiven Handelns der Gesellschaft zur Aufnahme von Menschen in Not.
Als identitätsstiftendes Moment nutzt Merkel die Verschränkung der Ebenen von Weltpolitik zu Europapolitik zu Bundes-, Länder- und Kommunalpolitik. Mittels der rhetorischen Figur des pars pro toto hebt sie in ihrer Rede Paarbeziehungen hervor, die über Form und Bedeutung einen selbstverständlichen Funktionsablauf in Institutionen und Gesellschaft demonstrieren sollen. Adverbiale Modalkonstruktionen („hier müssen“) verschränken Handlungsziel und Handlungsakteur. Pragma ist die Idee einer konsensualen Identitätsstiftung, verbunden mit dem Gefühl des Zusammenhalts, dem Aufgehobensein im politischen Netzwerkkontext der Europäischen Union, was ‚Gemeinschaft‘ als stark erscheinen lässt.
Vergleichbares zeigt sich im Abschnitt über Wohnen und Arbeit: Mittels der Modalkonzeption bindet sie Hochwertwörter („Wohnungs-, Arbeitsperspektiven, Qualifikationen“) zusammen, um eine positive Wertung der Sachebene zu erreichen. Soweit dem in der Umsetzung Schwierigkeiten entgegenstehen, setzt Merkel auf die Anapher: „Wir haben so vieles geschafft! Wir schaffen das!“ Fábián spricht von „archetypisch anmutender Suggestionskraft“. Verknüpft mit der Zusage des Bundes, alles zu unternehmen, um die gesteckten Ziele gemeinsam umzusetzen, entsteht ein „kommissiver Sprechakt“, der im politischen Raum (unausgesprochen) mit dem Vorbehalt versehen ist, dass die Umsetzung auch noch der Zustimmung anderer Beteiligter bedarf (Oppositionsfraktionen).
Über die Verknüpfungen entfaltet sich eine politische Botschaft, die als erstrebenswert, moralisch geboten erscheint. Eingebunden in einen funktionalen Netzwerkprozess kommt das dem „Charakter einer Direktive“ gleich, die letztlich rückgebunden auf „Wir schaffen das!“ einen gesamtgesellschaftlichen Grad von Autorität ausdrückt, getragen von einer positiven Stimmung in der Bevölkerung. Insoweit: ein Lehrbuchstück.
Auch der Anschlussartikel von Fábián und Anja Enzersberger (Sprachliche Konstruktionen der Einheit durch Substantive in Politikerreden) befasst sich mit einer Rede Merkels, der Neujahransprache 2015/2016, die eine Fortführung der Thematik aus der o.g. BPK darstellt. Im Unterschied zur ersten Form stellt eine Ansprache zu einem besonderen Termin andere Herausforderungen an den Text wie auch die Vortragsweise. Ihre Zielrichtung liegt in der Erzeugung eines kollektiven Identitätsgefühls, vermittelt über ein Narrativ von Gemeinschaftswerten, die über eine Jahresretrospektive deutlich werden (sollen). Gleichwohl hält die Spaltung sowohl der Parteienlandschaft als auch der Gesellschaft im Hinblick auf den Sommer 2015 an, nicht unbegründet kann man auch davon sprechen, dass die „AfD“ vor diesem Zeitpunkt fast in der politischen Bedeutungslosigkeit versunken wäre. Welche Auswirkungen können strategisch eingesetzte Substantive in einer Rede hervorbringen? Substantive besetzen Referenzräume. Diese lassen sich negativ oder positiv attribuieren. Die Autorinnen zeigen das anhand der Beispiele des „IS“ (Islamischer Staat) und „Terrororganisation IS“ auf. Dem wird positiv attribuiert die Leistung Deutschlands (und seiner Soldaten) im Kampf gegen diese Organisation entgegengesetzt. Der Zuhörer assoziiert damit den Kampf von Gut gegen Böse und ist geneigt dem genannten Identitätsgefühl zuzustimmen. Vergleichbares gilt im Zusammenhang mit Substantiven (als Eigennamen) von Staaten: Afrika, Syrien. Semantisch positiv aufgeladene Toponyme (Deutschland) finden wir im Rückbezug der Rede auf unsere Binnenverhältnisse: „Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Erwerbstätigkeit des geeinten Deutschlands.“ Das Partizipialattribut geeint steigert die positive Aufwertung noch. Das Personalpronomen „Wir“ operiert identifikationsverstärkend. Dies zeigt auch der Satz: „Aber es stimmt auch: Wir schaffen das, denn Deutschland ist ein starkes Land.“ Der intertextuelle Bezug zur BPK (1. Halbsatz) liest sich als Bestätigung für die Stärke Deutschlands, hervorgehoben noch durch die grammatische Struktur über den unpersönlichen Einleitungssatz sowie die Konjunktion denn in 2. Halbsatz. Beides zusammen erzeugt einen Anspruch auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit.
Die untersuchten Beiträge weisen strukturell auf das Herstellen von Bindungswirkung beim Publikum hin, mit geschickter Verknüpfung sprachlicher wie faktischer Mittel und daraus abgeleiteter Schlussfolgerung. Eigennamen, Appellativa und Personalpronomen erzeugen Nähe oder Distanz zum jeweiligen Thema sowie zur (emotionalen) Solidarisierung der adressierten Wertegemeinschaft. Die evozieren kognitiven Räume funktionieren als strategische Figuren auf einem politischen Schachbrett: Sie sollen eine Zustimmungsgemeinschaft spiegeln, die einen innerpersonalen Legitimitätsanspruch mental bekräftigt.
Deutungshorizonte
Der Beitrag H.W. Eroms („Syllogismen und Belehrungen in der Sprache der Politik am Beispiel einer Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages“) führt auf das Feld rhetorischer Beweisführung einer Argumentation in der speziellen Form des Syllogismus.
Politische Sprache als „öffentliche Sprache“ dient der demokratischen Öffentlichkeit, um die Verhandlungsgegenstände der Gesellschaft einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dabei befindet sie sich in einem „Dreiecksverhältnis“ gegenüber dem direkten Kontrahenten, den politischen Anhängern und den Interessierten (Unentschlossenen). Diese im politischen Schlagabtausch scheinbar ausgeschlossenen „Dritten“ sind aber die wirklich Adressierten. Öffentlichkeit herstellen heißt insoweit potentiell neue Anhänger gewinnen, nicht jedoch den politischen Gegner zu überzeugen. Sollen wir („die Öffentlichkeit“) in einen dialektischen Diskurs miteinbezogen werden, so wäre für uns die Primärrecherche notwendig, was in dieser Breite kaum leistbar erscheint. Da es vorliegend um Beweiskraft und Beweisführung geht, beschränkt Eroms sich auf die unmittelbare Auseinandersetzung der Kontrahenten.
Die Adressierung von Sprache in der Politik folgt funktionalistischen Mustern ähnlich den Fachsprachen aus Justiz und Verwaltung. Zu den Strukturmerkmalen in der Politiksprache zählen: Tendenzen zum „Grundsätzlichen“, Rückbezüge zu parteipolitischen Grundsatzaussagen und sie zeigen Züge ins „Abstrakte, Unkonkrete“. Werte wie „Vertrauen, Wahrheit, Bürgernähe“ oder parteiprogrammatische wie „Solidarität, Soziale Marktwirtschaft, Internationalität“ werden damit zu universalen Versatzstücken, die auch seitens der Bürger kaum mehr parteispezifisch zugeordnet werden. Sprach-inhaltliche Unschärfe ist die Folge. Damit der Kampf in der politischen Arena für das Publikum dennoch differenzierbar bleibt, müssen die Mandatsträger über „sprachliche Markierung“ versuchen, von grau-meliert zu schreiend-intensiv wechseln. Das trifft nicht nur die Formulierung, sondern auch deren Artikulation, die gerne auch polarisieren darf, oftmals muss.
Beliebt sind idiosynkratische Züge: Gemeint ist eine Häufung von spezifischen Eigenheiten eines Redners, die zusammengenommen eine Form von „Unverwechselbarkeit“ beim Publikum hervorrufen soll. In Reden sind das zumeist Begriffsbesetzungen und Wiederholungen in mäandernden Kontexten oder auch antagonistische Paarungen, soweit noch kein gesellschaftlicher Konsens dazu besteht. Ein Beispiel ist die gebetsmühlenartige Erinnerung an Tatsachen: „Der Bund habe die Kosten für die Grundsicherung übernommen. Dies muss man immer wieder in Erinnerung rufen.“ Kann die Opposition die Regierung vor sich hertreiben und (überzogene) Forderungen stellen, so steht sie selbst vor der Mühe und Pflicht ihr Regierungshandeln zu rechtfertigen. Daraus entstehen Formulierungen wie wir sie von Merkel oft hören: die grundsätzliche Alternativlosigkeit. In der analysierten Rede von Bundesfinanzminister Schäuble überlässt dieser die „Alternative“ allerdings der Opposition. Gleichwohl werden Formulierungen, die auf eingeschränkte Möglichkeiten (Handlungsoptionen) hinweisen, genüsslich seitens der anderen Fraktionen zerpflückt. So kontert Katrin Göring-Eckardt in der Sitzung damit, dass ein Ringen um Positionen der Demokratie inhärent sei, Alternativlosigkeit dagegen eher nicht: „Es ist eben nichts alternativlos, und es ist bitter, anzusehen, wie Sie es zulassen, dass jene Kräfte stärker und stärker werden, die sich von rechts als Alternative für Deutschland darstellen.“
Korrespondierendes zeigt sich im Abschnitt zu Syllogismen. Ihre Zusammenstellung bei Aristoteles findet noch heute Anwendung, wird in der politischen Sprache jedoch oft verkürzt angewandt. Häufig wird der modus ponendo ponens genutzt: Obersatz, Untersatz, Schlussfolgerung. Beispiel: Alle Menschen sind sterblich. Alle Griechen sind Menschen. Also sind alle Griechen sterblich. Angewandt auf die Rede Schäubles als „idiosynkratische Gesamtdefinition“ (Eroms): „Wachstum durch Innovation bedeutet übrigens Hightech.“ (Schäuble) Schwächer fällt dagegen die Form der Belehrung aus: Sie klingt schnell besserwisserisch, oberlehrerhaft und verzweifelt, weil es ihr an Kreativität und rhetorischer Prägnanz mangelt. Das können wir besser erwarten über Stilfiguren, etwa die anaphorische Reihung, Steigerung, Klimax oder auch die ikonische Verstärkung. Eroms bringt das Bild des Abgeordneten Lothar Binding mit einem ausgeklappten Zollstock, um die Problemlösungsfähigkeit von Politik zu messen. Eine Anekdote ist die Merkel-Raute, die es als ikonische Verstärkung sogar in die Liste der Emoticons geschafft hat.
Soweit Politik die Machbarkeit des Möglichen in Praxi bedeutet, ringen Gesellschaften stets um ihre Entwicklung. „Wir schaffen das“ ist ein Ausdruck dessen, ebenso „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert“ (Angela Merkel 2010 in „Die Welt“ v. 16.10. – zit. bei R. Th. Göllner). Ob für die Bundeskanzlerin dazwischen ein Erkenntnisprozess liegt, bleibt uns verborgen. Ralf Thomas Göllner („Multikulturalität versus Multikulturalismus“) versucht eine auf praktischen Kriterien beruhende Begriffsbestimmung in einem kontroversen politischen Umfeld europäischer Gesellschaften. Das Migrationsthema hat in West und Ost unterschiedliche Phasen durchlaufen, ist letztlich aber nie zu einer positiven Auflösung in den Mehrheitsgesellschaften gekommen. Im Gegensatz zu „klassischen“ Einwanderungsländern wie Kanada, Australien oder den USA, die in den siebziger und achtziger Jahren entscheidende Weichen für eine multikulturelle Gesellschaft stellten (während in den USA das Konzept des „melting pot“ mit dem des Multikulturalismus ringt), um eine positive Heterogenität von Gesellschaft zu fördern, gerieten die Überlegungen in Europa kaum über Duldungskonzepte hinaus. Kulturelle, rassistische und sozioökonomische Diskriminierung wurden im Interesse der Mehrheitsgesellschaft hingenommen. Damit war zugleich die Diskreditierung des „Multikulturalismus“ bedient. In Deutschland überlies man die mit viel Aufwand angeworbenen „Gastarbeiter“ sich selbst, denn sie waren nur zur Produktionsunterstützung des deutschen Wirtschaftswunders gedacht, man unterstellte stillschweigend ihre Rückkehr, sobald sie nicht mehr gebraucht wurden. Dies stellte sich bekanntlich nicht ein. Vielmehr strebten diese Menschen danach, ihre Familien nachzuholen. Da Integrationskonzepte, der politische und gesellschaftliche Wille sowie sozioökonomische Erfahrungen mit einer heterogenen Gesellschaft fehlten, waren Gettobildung und rassistische Anfeindungen Alltag für die betroffenen Menschen. Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen schickte sich insbesondere Kanada an, eine selektive Zuwanderung zu forcieren, Bildungsstand und weitere Integrationsfaktoren der Zuwanderer zu prüfen und durch konkrete Projekte sowie entsprechende Betreuung eine Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft zu ermöglichen. Demgegenüber ging man in Europa dazu über ein kulturelles Fürsorgeprinzip zu entwickeln, das die Menschen an der kurzen Leine führten, um ihre Probleme mit der Mehrheitsgesellschaft zu lösen, nicht aber für echte Teilhabe im Sinne von Integration zu sorgen. Damit verfestigten sich Segregationsstrukturen, die den Boden für Parallelgesellschaften bereiten. Teilhabe, Integration, Zugehörigkeit stellen sich allerdings weder durch eine spezialisierte multikulturelle Separatismuspolitik, noch durch eine Antidiskriminierungsgesetzgebung an die Mehrheitsgesellschaft ein. Zielführender ist der Ansatz der Multikulturalität, die auf Vertrauen basierende Kompromiss- und Werteteilung einer akzeptierten Gesellschaftsvorstellung, in der Minderheiten geschützt, aber ernst genommen werden und gleichberechtigt teilhaben können, ohne ihre kulturellen Traditionen gegenüber der Mehrheit einschmelzen zu müssen. Könnte Multikulturalität deshalb einen Lösungsansatz bieten? Göllner sieht es so. Voraussetzung dafür sei ein langfristiges Vertrauen, das eine kooperative Gestaltung des politischen wie sozioökonomischen Systems ermöglicht, um identitätsstiftenden Charakter, gesellschaftliche Kohärenz und Rechtsakzeptanz herzustellen. Freiheitlich-demokratische Gemeinschaften kommen ohne diesen Konsens nicht aus. Darüber wird man sich zudem immer wieder neu verständigen müssen, denn Werteverhandlung ist kein statisches, sondern ein dynamisches System.
Fazit: Eine anspruchsvolle Untersuchung zu Sprache und Politik auf der Nahtstelle von gesellschaftlicher Wertevermittlung und politischem Werturteil.
Ingo-Maria Langen, Dezember 2020