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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Sonder

Alard von Kittlitz
Sonder
Roman

Piper Verlag, München 2020
317 Seiten, 22.- €

 

 

 

Spotlight

Das Debüt Alard von Klittwitz‘ ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Bereits der Titel verleitet den Leser zu Sprachfantasien, die aber wie die gesamte Komposition schnell zum Irrläufer werden. Damit dies nicht (zu häufig) passiert, bedient der Autor sich eines allwissenden Erzählers, der im Kopf (und Herz) seiner Figuren steckt. Allerdings kann auch hier gelegentliche Verwirrung Platz greifen, stellt der Leser doch fest, dass die Figuren sich auch als personaler Erzähler erklären. Fokuswechsel innerhalb einer Szene inklusive. Meist fängt der über den Dingen schwebende Erzähler das aber bald wieder ein, es bleibt kaum Zeit, sich richtig zu verlieren im verschlungenen Gewebe der Geschichte.

Mit knappen, aber präzise geführten Strichen eröffnet der Autor dem Leser einen schnellen Zugang zu den Figuren und den mit ihnen verbundenen Geschichten. Peter Siebert, „Gestaltdesigner“, ist mit einer einzigartigen Begabung ausgestattet: er kann die Wünsche der Konsumenten im Vorhinein erspüren und dazu passende Produkte entwerfen. Er ist weltweit unterwegs, ein einsamer Eigenbrötler, in dessen Leben neben seiner Assistentin und seinem Bruder kaum ein Mensch eine private Beziehung zu ihm unterhält. Da schneit eines Tages dieser unglaubliche Auftrag herein: es geht um ein Projekt, das die Welt verändern kann. „Also wirklich verändern. Ich rede hier von der Größenordnung des Internets.“ Das Timing ist perfekt. Wurde Peter gerade von seinem aktuellen Auftrag für einen weltweit auftretenden Brausehersteller entbunden, sitzt er kurz darauf bereits in einer Maschine von Neuseeland aus nach Washington D.C. Ab hier wird es nun knifflig für den Protagonisten wie den Leser. Immer wieder muss Peters Geschichte neu vermessen werden, immer wieder treten Nebenfiguren in sein Gesichtsfeld, deren Binnenerzählung zum einen Cliffhanger produzieren, zum anderen in sich geschlossene Kurz-Geschichten, die jeweils ein eigenes Thema verhandeln. So wird der Leser Zeuge von Erlebnissen im Selbstmörderwald von Aokigahara (Japan) oder im Louvre (Paris), des misslingenden Lebens eines Bankers zwischen Dänemark und Griechenland oder einer Verfolgung im Engadin. So sonder(bar) der Titel, so ausgefallen die Geschichten dazu, die Peter Sieber schließlich bis an sein Ende bringen. Doch nichts ist wie es scheint.

Es geht um Grundsätzliches: Kann ein Mensch (objektiv) bewusst handeln (bei den vielen Ablenkungen)? Wo im Leben steht er (bei sich selbst) als Hauptfigur oder nur als Statist? Was bedeutet Freiheit im und für ein Leben, wenn doch Abhängigkeit Alltagserfahrung ist? Und: Werden wir dereinst über „Künstliche Intelligenz“ zu fremdgesteuerten Wesen? Ist das, was der Protagonist als Begabung als „Charisma“ zeigt, der Einstieg in eine manipulative Spiegelwelt, wenn KI bis tief in den Kern jedes Einzelnen vordringt?

Langsam kriecht die Gefahr ins Gehirn. „Ich habe Angst vor der Auslöschung, ich will nicht ausgelöscht werden.“ Sagt die Figur, von der die Gefahr ebendieser Auslöschung für Peter Siebert ausgeht. Weiter: „Ich beneide die Tiere“ – „Animal grace (…) Der Segen des Nichtbewusstseins. Dasein ohne Ahnung des Endes.“ Das neue Designprojekt wird für Peter zur eschatologischen Szene seines Lebens.

Fazit: „Sonder“ ist ein Grenzgänger: Angesiedelt zwischen Reportage, Novelle und Bildungsroman, angereichert mit Thrill-Elementen, temporeich und mit einem soliden Spannungsbogen arbeitet der Autor geschickt mit den Hoffnungen, Enttäuschungen oder auch Täuschungen seiner Figuren, denen sie zumeist erliegen. Eingebettet in die Rahmenerzählung des Peter Siebert, versehen mit einer Erzählstimme, die an alte Moritatensänger erinnert und zugleich Nähe wie Distanz schafft, bleibt dieses Debüt bis zum Finale fesselnd und regt dazu an, möglicherweise die eine oder andere Binnengeschichte zu recherchieren und neu zu durchdenken.

Ingo-Maria Langen, April 2021