Simon Strauß, Römische Tage
Roman
Tropen
Klett-Cotta
1. Auflage, Stuttgart 2019,
142 Seiten, 18.- €
Klappentext:
Der Erzähler zieht in eine Wohnung schräg gegenüber der Casa di Goethe, fest entschlossen, noch einmal ein Entdecker zu sein. Die Stadt wird ihm zur Geliebten, ihre Geschichten spielen vor seinen Augen. Der Mord an Caesar am Largo Argentina ist ihm genauso geläufig wie das Gerangel der Sonnenbrillenverkäufer auf dem Corso. Er taucht ein in eine Welt der Gegensätze: die Verlorenheit der jungen Italienerinnen und die schwindende Bedeutung der alten Intellektuellen. Antike und moderne Ideale, leuchtende Paläste, ausgelassene Partys und vergehende Kunst. Einheimische, Migranten, gläubige, Touristen, Bettler. Zwischendrin Müll, viel Müll und immer wieder das Stechen in seiner Brust, das die Ärzte nicht ernst nehmen wollen.
Simon Strauß legt mit „Römische Tage“ nach „Sieben Nächte“ (2017) sein zweites Buch vor. Er ist promovierter Althistoriker und FAZ-Feuilleton-Redakteur.
Rom und die Inspiration
Im Sommer 1895 reisen Heinrich und Thomas Mann für einen längeren Aufenthalt nach Palestrina in der Nähe Roms. Der Süden, Rom selbst, soll die Inspiration ins Produktive wenden, auf den Spuren Goethes, von Platens oder Stendhals. Heinrich nimmt den Aufenthalt in Palestrina zur Folie für „Die kleine Stadt“, Thomas verwendet sie in einer Szene von Doktor Faustus. Der Spannungsbogen zwischen den Brüdern mit ihrer halbbrasilianischen Mutter war enorm: kontrastierend zwischen nordisch-germanischem und südlich-lateinischem Erbe. So Klaus Mann über Vater und Onkel.
Ein Spannungsbogen, den auch Strauß eröffnet: Wäre die Einladung der Casa di Goethe eine Flucht gewesen, sie wäre im Bedeutungslosen gestrandet. Zwischen Touristen, auswanderungswilligen Italienern, müden Kellnern, wütenden Barbesitzerinnen und vielen behäbigen Ratten, die sich im allgegenwärtigen Müll der Stadt tummeln. – Doch es war keine Flucht. Die Begegnung mit Rom sollte eher einer Begegnung mit sich selbst gleichen. Zwei Monate in der flirrenden Hitze der Stadt. Zwischen Piazza Navona, Spanischer Treppe, dem Esquilin, dem Pantheon, Santa Maria del Popolo oder dem Largo di Torri Argentina entfaltet sich ein Panorama römischer Skizzen.
Der französische Freund
Der Rombesucher ist kaum angekommen, da melden sich die Schmerzen: Ein Herzschmerz, den er mitgebracht hat hierher, nicht abschütteln kann. Der Kardiologe spricht von einer Herzmuskelentzündung, Extrasystolen, Arrhythmie. Es sticht und schmerzt. Doch mit wem darüber reden? Die Leute setzen gleich ein betrübtes Gesicht auf, kommt man auf sowas zu sprechen: „Nichts mehr zu machen, denken sie mit heimlicher Erleichterung darüber, dass es sie selbst nicht getroffen hat.“ Die Reise. Sie hätte, lange angedacht, mit Nico, seinem französischen Freund aus Studientagen stattfinden sollen. Jetzt ist sie ein Gedenken an ihn, der so intensiv wie exzessiv gelebt hat, den der Krebs vor zwei Jahren hinweggerafft hat. Mitten aus seiner Schaffenskraft. Der Autor ist mit dem Tod im Gepäck hierhergekommen. Und er wird ihm noch öfter begegnen in Rom. Doch die römischen Tage sollen kein Nachruf werden auf den Verstorbenen, eher ein Bilderbuch über das was der französische Freund gemeinsam mit ihm hätte sehen (und erleben) können.
Blicksplitter: Textcollage
„Ein paar Ecken weiter, am südlichen Ende der Piazza della Repubblica (…) die Basilika Santa Maria degli Angeli e dei Martiri, die auf den Diokletiansthemern aufgebaut wurde. (…) Michelangelo, dessen letzte architektonische Arbeit die Sanierung der Basilika war, hielt sich bei seinem Plan an das alte non finito, des Nichtvollendens. Weder eine Umarbeitung noch eine Rekonstruktion war sein Ziel, sondern ein Amalgam der Substanzen. So stehen heute Antike, Katholizismus, Nationalstaat und Naturwissenschaft auf engstem Raum beieinander wie bei einem überfüllten Fahrstuhl. Während die eine konzentriert zu Boden starrt und ihre Formeln wiederholt, segnet der andere überlegen die weißhaarige Schönheit mit ihren traurigen Augen, und daneben steht im Anzug der Liftboy und drückt verzweifelt auf die Knöpfe nach oben. Aber nichts mehr zu machen, der Fahrstuhl steht still.“
Im Gespräch mit dem Direktor der Herzianna: „Schlimmer als der heftigste Brinkmann’sche Rom-Ekel ist das gelassene Desinteresse, das sorglose Unberührtsein gegenüber der Stadt.“ Sagt der Direktor und verabschiedet sich. „Eine Weile folge ich ihm noch unbemerkt, beobachte, wie er die Straße entlang läuft, den Zeigefinger der rechten Hand ausstreckt, angewidert von den hässlich gekleideten, bedeutungslos schwitzenden Menschen um ihn herum. Eigentlich will er ihnen mit erhobenen Händen die Leviten lesen, sie ausschimpfen, des Platzes verweisen, den sie nicht ehren. Aber er weiß ja, er lebt in anderen Zeiten, unterhält sich zu viel mit gestrigen Geistern. Deshalb geht er schweigend weiter, lässt seinen Zeigefinger zu Boden gestreckt. Zur Hölle sollen sie fahren mit ihren Discountermienen und ihrem besinnungslosen Blick.“
„Am Morgen beim Arzt gewesen. Der Sprechstundenhilfe in holprigem Italienisch vom rasenden Puls erzählt. Im Wartezimmer sitzen alte fiebrige Damen und junge schwarze Männer mit Pockennarben im Gesicht. Statt Lautsprecheransagen gibt es eine Schwester mit Trillerpfeife, die pfeift und dann die Namen aufruft, die sie meist sowieso nicht richtig aussprechen kann, und also noch lauter pfeift und leiser ansagt. Die Finger des Arztes riechen nach Knoblauch, in seinem Bart hängen Reste von Zigarettenasche.“ Eine Spritze in den Rücken, ein Schulterklopfen. Diagnose und Therapie aus einem Guss?
Momento mori!
Er trifft die Frau mit dem weißen Kleid, der er sich ungeschickt hatte nähern wollen auf seinem Weg wieder: „Kein Kleid diesmal, sondern kurzer Rock über Leggings.“ Noch muss er sich an ihre Fersen heften, doch bald wird sie ihm zur Muse auf Zeit, legen beide die Hände in die bocca della verità in Santa Maria in Cosmedin bis sie wieder verschwindet. Trifft den Kardinal, der an drei Konklaven teilgenommen hat, der das horizontale Ausgerichtetsein der Gläubigen beklagt, die ein vertikales Du im Herrn nicht mehr praktizierten. „Wo sich alles auflöst und laufend verschwimmt, könnte die Kirche eigentlich ganz still werden“, sinniert der Geistliche. „Es müsse wieder mehr vom ‚Ewigen Leben‘ die Rede sein, sagt der alte Kardinal, im Gestrüpp der Welt dürfe die Frage nach der Existenz nicht ganz verloren gehen. Zum Abschied schenkt er mir einen Rosenkranz – ‚so streng nehmen Sie es mit dem Protestantismus doch nicht‘-, erteilt mir damit einen Auftrag, so verstehe ich es, eine Hausaufgabe. Für einen Moment ist er der Einflüsterer auf meinem Wagen, der mir bei meiner Triumphfahrt ins Ohr ruft: Memento mori – denk daran, dass du sterblich bist.“
Ein anderes Memento mori: der Largo di Torre Argentina. Im Schatten einer Pinie, der Ort an dem Ceasar im März 44 v. Chr. am Fuße der Statue des Pompeius niedergestochen wird. Das Museum Monteramini: Zeigt noch Fragmente der Fortuna, die mahnend an die Welt mit ihrem Zeigefinger den Mord vor das Tribunal der Geschichte bringt.
Das eigene Memento
Das Herz setzt aus, der Autor ruft, schreit nach Hilfe, auf den Straßen Roms. Die Touristen: Achtlos gehen sie an ihm vorüber. Ein Stadtführer macht ein Foto, Mütter schieben indigniert ihren Kinderwagen am Hilflosen vorüber. Bis schließlich eine Kellnerin aus einem Lokal gegenüber ihn mit ihren nach Trüffel riechenden Händen rettet, einen Notarztwagen ruft. Memento mori! „Noch heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, wie es sein kann, dass wir nicht wissen, was kommt, wenn wir gehen.“ Tage später sieht er einen alten Mann, der auf einer Bierkiste vor einer Tankstelle sitzt. Er bettelt. Taxifahrer geben ihm grundsätzlich nichts. Andere schieben ihn beiseite, um die zwei Euro, die er fragt, zu sparen. „Wie wohl die Welt durch seine Augen aussieht? Welche Vergangenheit für ihn zählt? Was weiß er vom Leben, auf welcher Seite schläft er, von welchem Geräusch wacht er auf? Wo sitzt er abends, wenn die Sonne untergeht, welche Berührungen mag sein Körper, worüber lacht er am liebsten? Gibt es Wahrheiten für ihn, die ich nicht kenne, Ratschläge, die ich nicht verstehe? Ich lasse ihn zurück in der Hitze, 40 Grad, wende mich ab, kehre zurück zu meinem Leben.“
Via Bocca di Leone Nr. 60: die Wohnung von Ingeborg Bachmann. Sie, schlaflos, getrieben, allein, eine Tablettenpackung vor sich. Weißwein. Nächtliche Anrufe in einer ‚selbstverständlichen Stadt‘. Strauß fragt: „Warum bin ich hier? Um zu schauen. Nichts auszulassen, alles wahrzunehmen. Rom erzieht zum vollkommenen Blick. Alles ist wichtig, alles ist schön. Der Auftrag lautet: Umfassende Katalogisierung der städtischen Empfindungen. Letzte Aufstellung der alten Spielfiguren.“
Fazit: Strauß zitiert Byron: „Der Baum der Erkenntnis wurde geplündert – alles ist bekannt.“ Und dann sagen: „Aber das Wichtigste haben wir wieder vergessen – das Wunder, den Hoffnungsschimmer, die Frage nach dem Tod.“ Ein nachdenkliches Buch, eines der leisen Töne, der Erinnerung des Gegenwärtigen, das jetzt schon vergangen ist. Die Zerbrechlichkeit des Lebens.
Ingo-Maria Langen
Juni 2019