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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Sieben – Das Buch der polnischen Dämonen

Ziemowit Szczerek
Sieben – Das Buch der polnischen Dämonen

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

Volandt & Quist 2019
271 Seiten 22.- Euro

Zusammenfassung:

Reisen schafft Begegnungen und Erinnerungen. Unterwegs auf der Landstraße 7 von Krakau nach Warschau fährt Journalist Pawel von einem (polnischen) Alptraum in den nächsten. Es ist Allerheiligen und Pawel unterwegs auf der polnischsten aller polnischen Straßen… Er trifft auf ziemlich reale Dämonen aus Nationalismus, Chauvinismus, Backlash. Ein Kuriositätenkabinett, von dem der Leser aber durchaus hin und wieder gelesen haben dürfte. Et nisi moritui sunt…

Ziemowit Szczerek, publiziert u.a. in Nowa Europa Wschodnia und Tygodnik Powszechny. Er beschäftigt sich mit dem Osten Europas, dem Gonzo-Journalismus sowie geopolitischen und geschichtlich-kulturellen Entwicklungen. Für Mordor kommt und frisst uns auf wurde er mit dem Paszport-Preis der Polytika ausgezeichnet und für den Nike-Literaturpreis vorgeschlagen.

Thomas Weiler übersetzt und vermittelt Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt.

Pawel steigt in seinen alten Opel. Auf der Königin der polnischen Straßen, der Landstraße Nr. 7, fährt er von Kraukau nach Warschau. Am polnischsten aller Tage des Jahres, an Allerheiligen, wo jeder seiner Toten gedenkt – im katholischsten Land Europas. Und schon steckt Pawel im ersten von sieben Dämonen fest. Asmodäus, ein δαίμων, ein böser Geist, ein Weltenwanderer zwischen Mythos und Religion, der schon im Buch Tobit (3, 8) bezeugt ist. Er tötet nacheinander die sieben Freier Saras in der Hochzeitsnacht, bis Tobias ihn unter Anleitung Raphaels vertreibt. Als treuer Israelit bestattet er verbotenerweise ermordete Brüder und wird von den Herrschern Ninives verfolgt. Die Frau klagt: „Wo ist denn der Lohn für deine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit? Jeder weiß, was sie dir eingebracht haben.“ (2, 14) – Dieser Gedanke begleitet Pawel in unausgesprochener Weise bis zum Schlusspunkt des Buches. Es ist seine Suche nach der inneren Seele Polens, die er in sich selbst nicht findet, und deren äußere Erscheinung im heutigen Polen eher einer Karikatur ihrer selbst gleicht, denn dem Seelenstempel der Nation. Eine ungewisse Reise der Selbstvergewisserung. Bereits der Titel „Sieben“ zeigt an: hier trägt die Symbolik (der Religion) einen wesentlichen Posten zur Wahrnehmung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation bei. Das erzkatholische Land war bis 1989 der Gral des römischen Katholizismus in Europa (Radio Maryja). Das καθόλον, also das Ganze der römischen Kirche, es war geborgen im Land Johannes-Paul II. Und es war die Insel der Freiheit, des Glaubens und der Tradition. Das ist alles lange her und vorbei. Auch Polen erlebt eine Transformation. Die Schritte dazu sind vielfältig und sie schmerzen. Auf diesen Schmerz, der viele Tabus aufbricht, so viele wie nur die Israeliten sie in alter Zeit haben tragen müssen, trifft Pawel auf seiner Reise.

Er arbeitet für das Online-Informationsportal Swiatpol.pl., bedient sich durchaus zugespitzter „Eyecatcher“. „Tschechien: Militärparade am Nationalfeiertag?“ Oder: „Nachbarland Polens am Abgrund“, weil in der Slowakei die Regierung gestürzt ist. Das sind zwar keine Fake-News im engeren Sinne, aber sie beeinflussen schon die Gedankenrichtung des Lesers. Sie invertieren seinen Blick und heraus kommt: Apokalypse, Holocaust, Weltuntergang und alles zugleich in Polen. Polen. das so oft geteilte Land. Spielball zwischen den Mächten. Etwa: „Schockierende Nachricht der NATO-Dienste: Russland nimmt Polen ins Visier…“

Und doch ist das Land schon weit in der Mitte Europas angekommen. So wird geholzt was das Zeug hält: Russen-Bashing, Teschechen, Slowenen, Ungarn und die Deutschen, alle werden satirisch bedacht. Während in einer Diskussion über die Russen die sieben Todsünden an ihrem Nationalcharakter abgearbeitet werden, tauchen die Deutschen mit dem Trauma von Hitlers willigen Helfern in ganz unterschiedlichen Konstellationen immer wieder auf. Es ein Trauma, das über die Erinnerung scheinbar immer wieder retraumatisiert, obschon man sich davon ja befreien will. Dieser psychologische Vorgang wird denn auch nicht in der Form eines Therapieversuchs gezeigt, sondern in Verhaltensweisen der Figuren. Und dem damit einhergehenden Versuch des Protagonisten, sich dem zu stellen, in der Hoffnung zu überleben. Oder auch einem Trugschluss aufzusitzen bis zum Tod.

Vielleicht helfen da ja mal die bewusstseinserweiternden Phiolen des Hexers Geralt? Er steht an der 7 und hält den Daumen hoch. Könnte man Polen (und die Welt) ganz anders wahrnehmen? Werden wir hier Zeugen der Schwarzen Romantik? Der Elixiere des Teufels? Nicht so ganz, denn Geralt erinnert doch zu wenig an den Mönch Medardus. Gleichwohl endet er im Wahn, dem auch Pawel verfallen könnte. Doch der widersteht tapfer. Stattdessen bekommt Janusz Korwin-Mikke sein Fett weg. Er gibt den Blick frei auf das dunkle Polen, ein Widerspiel der Klischees, gepaart mit dem Trauma an den Deutschen und Russen, das allgegenwärtig immer wieder durchschimmert. „Deutschland ist nämlich das größte Trauma der Polen (…), das schlechte Gewissen jenseits der Oder, das zwar zu den schlimmsten Verbrechen fähig ist, aber gleichzeitig von deinem Staat zivilisatorisch so weit entfernt ist, als wäre es nicht seid über tausend Jahren euer Nachbar, sondern irgendwo auf einem anderen Planeten. Deshalb müsst ihr Polen, sobald ihr etwas entdeckt, das kaputt ist, dreckig, nicht ideal, irgendeinen Riss, sofort fotografieren, das Ganze auf Facebook posten und euch freuen wie die Kinder – na bitte, denen geht auch mal was daneben, die sind gar nicht vorneweg. Als würde jedes dieser Fotos den Mythos der unbezwingbaren Teutonen zu Fall bringen. Jedes ein kleines Tannenberg.“

Pawel erkennt (ja, eigentlich wusste er es schon): eine Nation sucht ihre Identität. Die hat man 1989 nicht gleich mitbekommen, die muss man sich erarbeiten. Doch wie? Wo nur kleine Wurzeln den heiligen Boden der Heimat durchziehen, kaum in die Tiefe reichen. Das Leben gefahrumwittert ist! Der Russe könnte einen Korridor nach Kaliningrad fordern. Würde die NATO Polen schützen? Putin könnte Truppen durch Lukaschenka-Land schicken und Aus die Maus. Krim und Ost-Ukraine lassen grüßen. Polen, ein Land in der Selbstvergewisserungskrise. Ein Mitglied der Grupa Wyszehradzka, der Visegrád-Gruppe. Verunsicherung auch hier: über die Flüchtlinge, die EU, die Außengrenzen… Gegen Durchmischung, für Abgrenzung. Wir sind uns selbst genug.

Angst ist das Gegenteil von Selbstbewusstsein. Viele gehen den Weg des scheinbar geringsten Widerstands. Sie richten sich ein, fristen ihr Dasein, sind bescheiden, passen sich an, leben in hässlichen Städten oder auf dem öden Land. Welchen Preis zahlen sie? Das Leben geht achtlos an ihnen vorüber. Ist kaum besser als in Zeiten des Sozialismus. Dennoch profitieren einige. Das haben auch die Anarcho-Guerillos Luzifer 2.0 erkannt. Sie nehmen Pawel mit, nachdem sein Auto einen Unfall hatte. In einem Nysa aus Częstochowa. Hipster, die wie Jungnazis aussehen, Militärlook. Die wollen die Tristesse etwas aufmischen. Das erfordert Opfer. Für die Kollateralschäden haben sie eine Stiftung gegründet. Spenden für Strafzahlungen. Der Überfall auf einen Mieszko-Laden endet im Desaster: statt Paint-Ball ballern zwei der Hobby-Partisanen mit scharfer Munition. Der Laden, ein Schlachtfeld, die Guerillos auf der Flucht. Pawel mittendrin.

„Heilandsakraluzijesusmariaundjosef!“ Noch mal davon gekommen. Doch dann fällt er den Raubrittern in die Hände. Ist das jetzt besser oder schlechter? Jedenfalls haben sie ihn gekidnappt. Und ihm fällt nichts Besseres ein als die Beelzebuben in ihrem Mercedes mit einer Lehrstunde Inkulturation zu beglücken: „Zum Beispiel heißen Sie Lycor. Oder irre ich mich? Aber woher denn?, höhnt Lycor. Die Raubritter sehen sich zu einem grunzenden Lachen genötigt. Lycor, legst du los, ist nichts anderes als als das ukrainische ‚lyzar‘, das soviel heißt wie Ritter. (…) Ritter also, sagt er verblüfft. (…) ein russischer Ritter(…). Daraus folgt, Pan Hieronymus … Ach so, apropos, im Adel wird ‚Pan‘ nicht mit Koseformen kombiniert, also entweder ‚Pan Hieronymus‘ oder, nachdem man Bruderschaft getrunken hat, schlicht ‚Hirek‘. Daraus folgt also, Pan Hieronymus, dass Ihre adligen, ukrainischen Vorfahren sich dermaleinst haben polonisieren lassen. Oder irre ich mich?“ Jetzt dreht sich die herkunftssprachliche Belehrung ins emotionale und erfährt eine Steigerung, denn Lycor soll das Gefühl benennen, wenn er sich um sein Ukrainischsein beraubt meine! Die Volten in diesem Dialog sind kunstvoll und doch beschleicht den Leser zum Schluss der Eindruck: hier wird noch anderes als die Genealogie von Namen verhandelt. Denn die Toponomastik spielte während der deutschen Besatzung Polens eine bedeutende Rolle im volkstumspolitischen Kampf der Nationalsozialisten zum ethnischen Meliorismus („Arisierung“). Es sind diese (wiederkehrenden) Bilder im Kopf des (deutschen) Lesers, die innehalten lassen, betroffen machen über das, was bis heute nachwirkt – in deutschem Namen! Generationen später.

Fazit: Mit einer exaltierten Umgangssprache, die in der Übersetzung von Thomas Weiler ebenso Nuancen wie auch Kuriositäten treffsicher zum Ausdruck bringt, sorgt Szczerek für eine dichte Atmosphäre. Während das Figurentableau mit an bis zur Absurdität grenzenden Eigenschaften vom schräg-schiefen mitunter ins tragik-komische umschlägt, darf den Leser in derartigen Momenten das Allgemeine im Besonderen anspringen: Phantasien von Macht, Gewalt, Unterdrückung, Manipulation oder auch schlichte Dummheit. Aristoteles lacht.

Ingo-Maria Langen, Dezember 2019