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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Schuld und Verantwortung

Doris Wagner
Christoph Schönborn
Schuld und Verantwortung

Ein Gespräch über Macht und Missbrauch in der Kirche

Herder Verlag
1. Auflage
Freiburg im Breisgau 2019
124 Seiten 16.- €

 

Doris Reisinger (geb. Wagner) gehörte nach dem Abitur bis 2013 einer geistlichen Gemeinschaft an. Sie studierte in Rom, Freiburg i. Br. sowie Erfurt Philosophie und katholische Theologie, promovierte in Münster in analytischer Philosophie. 2014 erschien ihr vielbeachtetes Buch „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“, 2019 dann der Bestseller „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“.

Christoph Kardinal Schönborn, Mitglied des Dominikanerordens, seit 1995 Erzbischof von Wien. Ab 1998 Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz. Vielfache Kommissionstätigkeiten in Rom, u.a. zum Katechismus, Mitglied der Kongregationen für die Glaubenslehre, für die Orientalischen Kirchen und das Katholische Bildungswesen.

Zu Beginn des Jahres fand in einem Studio des „Bayrischen Rundfunk“ ein vierstündiges Gespräch zwischen Doris Wagner und Christoph Kardinal Schönborn statt. Das Buch beinhaltet den gesamten Diskurs, der für die Sendung naturgemäß nur erheblich gekürzt wiedergegeben werden konnte.

Das Buch gliedert sich in drei größere Abschnitte, die überschrieben sind mit: „Kirche als Heimat“, „Wurzeln des Missbrauchs in der Kirche“ und „Macht, Missbrauch und Verantwortung: Was sich ändern muss“. Begleitet wurde das Projekt von Stefan Meining, Redakteur beim BR, der auch das Vorwort schrieb.

Die Geschichte klingt so unglaublich, so bestürzend und abstoßend, wie sie wahr ist: Eine junge, noch im Leben unerfahrene Frau, tritt in einen Orden ein, weil sie sich berufen fühlt. Dort erlebt sie jedoch das Gegenteil dessen, was sie erhofft hatte: Erniedrigung, Geringschätzung, Bedrohung, Bestrafung, Kommunikationsverbote (etwa mit den Eltern), Schweigeverpflichtung, systematische Erosion ihrer Persönlichkeit und Vergewaltigung. Diese junge Frau ist Doris Wagner.

Nun ließe sich erwarten, ein mit aufgewühlten emotionalen Anklagen versehenes Gespräch zu lesen. Das Gegenteil ist der Fall. Im sachlichen, faktenbasierten Verlauf, bleibt zwar kein Zweifel an dem erlittenen Leid. Aber die Diskussion entwickelt sich darüber hinaus zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der gesamten Organisation Kirche. Dazu trägt der sachliche und ruhige Gesprächsanteil Kardinal Schönborns wesentlich bei. Er eröffnet mit drei Fragen: „Was gibt Hoffnung? Was ist zu tun? Was ist zu lassen?“

Die Geschichte von Doris Wagner in der katholischen Kirche ist nur eine von ganz vielen (wie später nochmals bedrückend deutlich werden wird). Sie findet trotz aller Bemühungen kein Gehör in der Kirche, in der, so zynisch sich das anhört, der Täter (der Vergewaltigung) als Priester noch öffentlich  – nach einem nichtöffentlichen Prozess vor der Apostolischen Signatur, dem höchsten kirchlichen Gericht – rehabilitiert wird und weiterhin in priesterlicher Gemeinschaft lebt. Weder Doris Wagner noch von ihr benannte Zeugen wurden in dem Verfahren gehört. – Ein geschlossenes System verteidigt sich selbst, ließe sich dazu sagen. Auch insofern ist Kardinal Schönborn Respekt zu zollen, sich als erster hoher Würdenträger der Amtskirche dieser Diskussion zu stellen und deren Verlauf öffentlich zu machen.

„Schaut doch hin, seid doch ehrlich!“ (Schönborn)

Gesellschaften als von Menschen verantwortete Systeme, sind immer interessengeleitet. Als Basis und für sich genommen, ist das zunächst selbstverständlich. Gefährlich für den Einzelnen wie das System wird es dann, wenn systemischer Missbrauch zugelassen wird. Die Fälle sind ebenso bekannt wie erschütternd. Allerdings trifft die Erschütterung oft nicht die, die sie verursacht oder zugelassen haben. Im Gegenteil: im Fall Wagner befanden sowohl ihre Ordensgemeinschaft als auch der inkriminierte Priester sich in der Presse falsch dargestellt und reagierten darauf mit Unterlassungsklagen vor Hamburger Gerichten. Das ist das Systemische: Die eigenen Rechts- und Kommunikations-möglichkeiten erlauben es in solchen Konstellationen sogar Zivilgerichte zu „beeinflussen“. Die können nur auf der Grundlage der Sachverhaltsaufklärung (die Apostolische Signatur hatte ja geurteilt) tätig werden… und genau darin liegt die Perfidität dieser Logik. Da das Zivilgericht hier keine eigene Sachverhaltsaufklärung vornehmen kann, spricht es die Unterlassungsverfügung aus, der zufolge Medien in der Öffentlichkeit über den Fall nicht berichten dürfen. Eine „neue“ Variante von Fake-News? Nein, leider ist in fast allen Skandalen der jüngeren Vatikangeschichte mit Verschleierung, Nicht-Auskunft oder Dementi gearbeitet worden. Oft bis zum bitteren Ende, an dem dann doch der eigene Fehler kläglich eingestanden werden musste (erinnert sei nur an Erzbischof Marcinkus und die Vatikanbank).

Doris Wagner betont, wie der Glaube das eigene Leben zu tragen vermag, durch alle Tiefen hindurch und er seine Schönheit jeden Tag zu entfalten vermag, wenn wir es zulassen. Das Gefühl von Religion als Schutzraum, der Geborgenheit schenkt, den Gläubigen abstützt. Zumal in einer Welt, deren Anforderungen immer schwieriger zu bewältigen sind. Hier leistet Religion ein wichtiges soziokulturelles Narrativ: die Reduktion von Komplexität. Aber auch: Anleitung zu einem guten Leben. Gerade dies hat Christoph Schönborn erfahren mit seinem Eintritt in den Orden der Dominikaner. Alles was Doris Wagner verwehrt wurde, bot sich ihm. Die Pflicht zu lesen, war ihm Wunsch, die kritische Auseinandersetzung mit theologischen Texten Routine, ebenso die begleitete Unterstützung in Zeiten des Umbruchs. Wurden Briefe von Wagner zensiert, so war die Freiheit Briefe zu schreiben oder Freundschaften zu pflegen, gerade auch mit Brüdern, die aus dem Orden ausgeschieden waren, für Schönborn selbstverständlich. Zwei ganz unterschiedliche Realitäten in ein und derselben Organisation.

Verschränkung von Binnen- und Außenwirkung

Anleitung, Begleitung, Hilfe auf der Suche nach dem richtigen Pfad im Leben, das trifft jeden Gläubigen. In der Soziologie lautet das Stichwort dazu: Entlastung (nach Gehlen über die Institutionen später nach Luhmann als Reduktion der Umweltkomplexität von Systemen). Dabei müssen wir uns klarmachen, diese Systeme sind von Menschen geschaffen. Das (mögliche) Leid, das von ihnen ausgeht, steht deshalb in keinem direkten Zusammenhang mit Gott. Der Fehler: erfahrenes Leid solcher Systeme mit Gott als „gut“ gleichzusetzen und damit die Systeme zu „entlasten“, dem Leid einen subjektiven Sinn zuzuordnen. Diese Selbstverleugnung geht allerdings sowohl objektiv als auch systemisch fehl. Denn der Widerspruch bleibt bestehen: „Wenn Gott mich (…) so geschaffen hat mit dem Ziel, dass ich das erlebe, dann kann ich mich Gott nur entziehen, indem ich mich umbringe, indem ich das, was er geschaffen hat, vernichte: mich“, schreibt Wagner. Sie kommt zum umgekehrten (richtigen) Schluss: Ich bin so geschaffen, und Gott will, das jeder mich geradewegs so sieht und so mit mir umgeht, alles andere ist falsch. Denn Gott will dem Menschen ins Leben helfen.

Mit dieser Überzeugung bleibt sie innerhalb der Kirche isoliert. Handlungen oder Vorschriften werden zumeist dann für „sakrosankt“ erklärt, wenn einzelne Positionen oder die Organisation als Ganzes ein besonderes Interesse daran haben. Dafür werden auch Intrigen oder Manipulationen in Kauf genommen. Gerne wird der Schutz der Heiligen Mutter Kirche ins Feld geführt. Ubi caritas et amor, Deus ibi est gibt Schönborn zu bedenken. Deshalb kann Gott nicht anwesend sein, wo Menschen anderen Menschen Leid antun.

Wo man beginnen müsste…

den siechen Körper der Kirche zu kurieren. Die Grundlagen der Moral- und Sexuallehre müssten überarbeitet und neuem (wissenschaftlichem) Verständnis angepasst werden. Die Fixierung auf die Sexuallehre sollte zugunsten der Hinwendung zur Soziallehre (so gefordert von Papst Leo XIII) aufgegeben werden. Denn im Anfang muss die Frage stehen: „Was bist du für ein Mensch?“, fordert Schönborn. Des Weiteren müsse eine Überarbeitung des Priesteramts erfolgen. Fälle wie die Karadimas in Chile sind gerade über ein Amtsverständnis befördert worden, das da heiße: Der Priester ist der Meister, und das kann nicht in Frage gestellt werden. Damit vermischen sich das Spirituelle und das Missbräuchliche. Die Amtsfunktion ermöglicht den Missbrauch und verhindert zugleich seine Aufdeckung und Sanktionierung. Es fehlt Augenhöhe, Tätern wird eine Aura zugebilligt, wie von selbst entsteht eine Kultur von Freund und Feind. Ein perfektes Umfeld für Missbrauch. Denn auch die Unterstützer wollen ja im Dunstkreis des Täters von etwas profitieren.

Dazu passt, was Maura O’Donohue mit ihren seit 1994 veröffentlichten Berichten über Missbrauch in Klöstern aufdeckte, dass etwa Nonnen als Prostituierte der Bischöfe abgestellt, zu Abtreibungen gezwungen oder mit AIDS infiziert wurden. „Nimmt Ordensfrauen keiner ernst?“, fragt Doris Wagner. Die Berichte von Maura O’Donohue liegen seit den Neunzigern bei der Kurie, doch geschehen ist wenig bis nichts. Die Ungleichheit ist die „Uraltsünde in der Kirche“, so Schönborn.

Deshalb hält Wagner das Papstamt für überfällig, denn als absoluter Monarch ist er keinem verpflichtet, kann nicht aus dem Amt entfernt werden (außer in speziellen Fällen). Ebenso trägt ein Bischof eine Doppelverantwortung: als Hirte der Gläubigen und Priester sowie als deren Richter. Es gibt keine Gewaltenteilung. Deshalb, so Wagner, wären externe Berater wichtig, an die Zuständigkeiten abgegeben werden sollten – oder auch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit wie der Münsteraner Bischof Felix Genn sie klar für seine Diözese in Aussicht gestellt hat. Schönborn wünscht sich auch, dass Kirche aufhört zu urteilen wie Lebenswege der Gläubigen verlaufen (sollen). Vielfache Möglichkeiten zur Beteiligung wiederverheirateter Geschiedener kann er sich vorstellen, bleibt aber bei homosexuellen Paaren auffällig zurückhaltend, ebenso bei der Ordination der Frau als Priester. Hier sei die Tradition das Wichtigste, weshalb es keine Frauenordination geben könne. Ist das so?

Fazit: Ein extrem wichtiger Beitrag zur Reformdiskussion in der katholischen Kirche, der verdeutlicht, dass an vielen Stellen fragwürdige bis menschenverachtende Praktiken und (Rechts-) Verhältnisse stattfinden, die unbedingt reformiert werden müssen, soll die Kirche als Organisation ihren wichtigen Stellenwert in der Gesellschaft behalten. Ansonsten droht ihr ein Verlust an Glaubwürdigkeit, der sie ins Bodenlose abstürzen ließe. Das kann kein freiheitlich und demokratisch orientierter Bürger wollen. Wünschenswert wäre eine Kräftigung der Kirche – die Aufgaben unseres Lebens erwarten auch von dieser Seite Orientierung!

Ingo-Maria Langen, Oktober 2019