Nicolas Mathieu
Rose Royal
Roman / Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Carl Hanser Verlag Berlin / München
3. Auflage, 2020
95 Seiten, 18.- €
Nicolas Mathieu lebt in Nancy. 2014 erschien sein erster Roman Aux animaux la guerre. 2018 folgte Leurs enfants après eux (dt. Wie später ihre Kinder). Dieser wurde mit dem Prix Goncourt prämiert.
Lena Müller, ausgezeichnet mit dem Internationalen Literaturpreis, lebt und arbeitet in Berlin. André Hansen arbeitet als freier Literaturübersetzer in Berlin.
Spotlight
Nicolas Mathieu entfaltet vor unseren Augen das Leben der knapp 50jährigen Rose, einer Frau im besten Alter. Gereift durch viele Schlachten des Lebens, Mutter zweier erwachsener Kinder, die sich hin und wieder mal melden, eine gütlich geregelte Scheidung hinter sich, in einem guten Mittelstandberuf engagiert im großstädtischen Nancy. Mit sich zufrieden strebt sie abends ins „Royal“, einer Bar mit dem Charme einer Alltagskneipe: „Das Bier war kalt, die Zeitung schon zerlesen, und unter ihrer rechten Sohle spürte sie das feste Material der Fußstütze. Diese drei Empfindungen ergaben für sie schon eine Welt, ein annehmbares Zuhause.“ Wir stehen mitten im Leben dieser Rose, ihrer Selbstzweifel, ihrer Überzeugungen, ihrer Narben, der verbliebenen Frische oder dem Funkeln im Alltag. Und wir erkennen: Da spannt sich ein Bogen auf, der durchaus unser Leben beschreiben könnte. Sind wir so anders als diese Rose? Welche besseren Versatzstücke des Lebens hätten wir anzubieten? Woraus erwächst das Allgemeine aus dem Besonderen? Vorliegend daraus, dass der Leser sich in Roses Lage selbst erkennen kann. In ihren Schwächen, ihren Fähigkeiten, ihrem Mut, aber auch in ihrem Scheitern. In einer Abfolge von Wendungen, unbeeinflussbar und doch Ursache unserer Entscheidungen. Ein schaler Nachgeschmack falscher Versprechungen auf das Leben. Die Suche nach Zuwendung, Anerkennung, Liebe. Eine ewige Reise, bis wir über den Regenbogen sind. Die größte Angst: nicht anerkannt, nicht gesehen zu werden, sozial zu sterben mit einem pochenden Herz in der Brust. So bleiben die Figuren Getriebene im Leben. Etwa Marie-Jeanne, die abends im Royal Haarschnitte anbietet, Kundschaft aufreißt. Gescheiterte Beziehungen hier wie dort, denen man scheinbar entgeht, indem man sich in die Arbeit vergräbt, still die Wunden leckt, um doch früher oder später wieder damit zu beginnen nach einem Gegenüber zu suchen, der eigenen Sucht nachzujagen und dabei die Pfeiler der Moderne (Social Media) zu bedienen. Gleichsam analog tritt für Rose die schicksalhafte Wendung ein: sie trifft auf Luc, abends in der Bar. Und sie benutzt zum ersten Mal ihren Revolver, Neun Millimeter. Sexuelle Gewalterfahrung gehört zu ihrem Leben und sie will nicht weiter zurückweichen, nicht weiter Opfer sein. Die Waffe ist ihr roter Knopf, die Letztentscheidung. An diesem Abend dient sie einem anderen Opfer zu dessen Erlösung. Die Hündin von Luc wurde angefahren, es ist nichts mehr zu machen. Nur noch die Qual für das Tier zu beenden. Eine Präfiguration.
Mathieu erzählt in scharf gezeichneten Porträts seiner Figuren eine Alltagsgeschichte von Alltagsmenschen, die ihr Leben vor uns ausbreiten: mal mit schnellen Schnitten, mal ganz getragen und mit präziser, unbestechlicher Sprache, die kameeschnittartig jede Schwäche plastiziert, jede Unebenheit herauspräpariert. Dimensionen unseres Lebens und seiner Katastrophen.
Mit nahezu filmischer Intensität schreitet der Roman voran, nutzt die Instrumente von Cut und Suspense. Dabei gelingt es immer wieder den Leser in den Erzählstrom einzubinden, sein Auge an eine Entwicklung zu heften, die dann doch umschlägt und wieder den leisen Verdacht der Unsicherheit evoziert. Das ist subtile Kunst auf höchstem Niveau, denn diese künstlerische Gratwanderung ist anspruchsvoll, sie kann leicht abrutschen. Doch die Trittfestigkeit und Treffsicherheit des Autors lassen nie Zweifel an seinem Können aufkommen. Er nimmt den Leser weiter an die Hand, zeigt ihm die Verführungen, die Irrnisse und Wirrnisse von Rose und Luc im neuen gemeinsamen Leben. So schön, so komplex und doch so flach, dass Rose letztlich eine Entscheidung trifft, die sie selbst präfiguriert hatte.
Fazit: Eine Gesellschaftsstudie mit den Mitteln des Romans. Gewalt von Männern gegen Frauen in der französischen Provinz, im ganz normalen Leben, mit ganz normalen Berufen, ganz normalen Scheidungen, zu viel Alkohol und einer zurechtgeklebten Wirklichkeit, die nur der trügerische Schein der Normalität von Routine aufrechterhält. Bilder, die wir kennen und die uns erneut erschrecken, wenn wir uns in ihnen wiedererkennen. Jede wichtige Szene hat ihren Gegenschnitt. Kühl komponiert und geschickt ins Werk gesetzt. Große Literatur mit realitätsnaher Sprache, ohne Schnörkel, darum entwaffnend und entlarvend.
Ingo-Maria Langen, Dezember 2020