Svetlana Lavochkina
Puschkins Erben
Aus dem Englischen von Diana Feuerbach
Voland & Quist
Berlin, Dresden, Leipzig 2019
367 Seiten 24.- €
Zusammenfassung:
Im Jahr 1820 befindet sich Alexander Sergejewitsch Puschkin auf einer Reise in die Provinz. In einem ländlichen Gasthof in Zaporoschje kommt es zur Begegnung mit der leicht entflammbaren Wirtsfrau von Nahum Knoblauch. Neun Monate später wird das Lokalkolorit um ein leicht dunkelhäutiges Kind bereichert. Puschkin Vorfahre, ein versklavter Afrikaner, scheint hier durch. 1976 reist Alka Katz, eine blasierte Moskauer Doktorandin, zu ihren Verwandten in die Ukraine nach Saporischschja (Zaporoschje). Sie erlebt das Hinterland von Moskau als rückständige Enklave, das sie mit ihrem hölzernen Englisch zu übertölpeln sucht.
Svetlana Lavochkina, Autorin und Übersetzerin ukrainischer und russischer Lyrik. Aufgewachsen in der Ost-Ukraine, lebt sie heute mit ihrer Familie in Leipzig. Sie schreibt auf Englisch für zahlreiche Zeitschriften und Anthologien in den USA und Großbritannien. Ihre Novelle Dam Duchess erhielt 2013 den Pariser Literaturpreis. Puschkins Erben (Orig. Zap) schaffte es 2015 auf die Shortlist vom Tibor Jones Pageturner Preis, London.
Diana Feuerbach ist Autorin und Übersetzerin. Sie hat am Deutschen Literaturinstitut sowie in den USA studiert. 2014 veröffentlichte sie den Roman Die Reise des Guy Nicholas Green.
„Auf das neue Jahr! Puschkin mit uns, Dickens mit denen!“
Nach einem leicht exzentrischen Einstieg mit Alexander Sergejewitsch Puschkin in der ukrainischen Provinz, wo man so blamabel lebt, 1820 noch Perücke zu tragen, den beiden Kosaken, die einen Schatz vergraben und dem larmoyanten Diener des Dichters, der in der leicht entflammbaren Gattin Nahum Knoblauchs ein williges Opfer seiner Lüsternheit findet, scheinen in dieser (historischen) Episode die Lebensumstände Puschkins mit groben Strichen durch. Das burleske Treiben des Personals, die dichte Atmosphäre wie auch mit dessen umgangssprachlichem Parlando zeichnet der Text den Pfad für einen schönen Auftakt zu einem historischen Roman vor – der allerdings keiner wird.
Zum Sylvester-Abend 1976 trifft sich die Familie Katz in Zap. Alla Nathanowna Katz, die über Hemingway eine linguistische Dissertation verfasst, besucht ihre rückständigen Verwandten in der Provinz. Alsbald sieht sie ihre hauptstädtischen Vorurteile bestätigt. Mit viel Augenzwinkern, einem Till Eugenspiegel gleich, spöttischen Metaphern („Schwiegerhexe, Meerrettich in ihre Bratpfanne“) und teilweise etwas krudem Umgangston, wird der Leser in ein trostloses Lokalkolorit eingeführt. Von Schmankerln wie dem über den G-Punkt russischer Frauen räsonierenden und bei Alla gleich praktische Versuche anstellen wollenden Gynäkologen bis hin zu den unterwürfigen Nikolai und Petro, als Wiedergänger der Kosaken gleichen Namens aus dem Puschkin-Teil.
„Mark Knoblauchs Scheitel berührte die Zimmerdecke. Seine lebhafte Miene mit den flinken, dunklen Blicken wechselte so schnell wie das Wetter in London. Die Augen waren von Robert de Niro, die Lippen von Jack Nicholson, das Antlitz von Clint Eastwood.“ Dieser Mark wird im Verlauf der Geschichte (bis 1994) einen ungeheuren Aufstieg und fülligen Reichtum erleben. Noch ist er eingekastelt in Zap. Rita, die Frau seinen Cousins Josik, könnte ihm auf der Stelle erliegen und selbst Alka (Alla), würde mehr als nur „ihre wunderschöne Doktor-der-Philologie-Karte“ an ihn geben, wenn er sie denn als Frau beachten würde. Da sie jedoch einen sperrigen Charakter vorzeigt, diesen obendrein noch mit ihrem spindel-dürren Körper und den schreiend roten Filzhaaren in der äußeren Erscheinung zelebriert, beißt keiner an. Statt sich darauf zu verlegen mit Geist, Witz und Charme zu bezirzen, belehrt sie altklug und auf dumm-arrogante Weise ihr Gegenüber zu Literatur und Sprache. Insbesondere zum Englischen, das sie selbst nur hölzern spricht, obwohl sie über Hemingway promovieren will. Ihre Garstigkeit, das Schrullige, Stachelige, bisweilen Juffernhafte, zeichnet ein Psychogramm mit psychotischen Tendenzen, eine Figurenentwicklung mit tragischem Impakt.
Auf eine ganz andere Weise, nicht minder tragisch, erliegt auch Josik so einem Einschlag. Er, den man solange verlacht, weil er „kein richtiger Mann“ sei, zu wenig Testosteron, der sich mit der pädagogischen Bildung seiner Schüler abmüht, das Literarische mit zweifelhaften Methoden zur Lebensschule zu erheben sucht, findet auf seine ganz eigene Weise Eingang in das Reich Puschkins, von dem er glaubt abzustammen. Doch zuvor schwimmt er mit den anderen Figuren durch ein süffiges Leben, das die existenziell-materiellen Bedingungen des Menschen in Ausschweifungen, Ab- und Ausgrenzungen, mit findigen Beleidigungen in immer neuen Farben schildert. Etwa durch Oma Sheila, die stubenreine Ärztin eines Kindergartens, die Mutter von Josik und dem ihr wie ein Haushund nachlaufenden Wowik, der sie spät in ihrem neuen sozialen Umfeld in Israel bis auf die Knochen blamiert, weil er eine äthiopische Jüdin heiratet, die „Mulattenzwillinge“ gebären wird. Da ist die Familie schon tief ins Unglück gefallen, das an jenem Sylvesterfest 1976 noch undenkbar scheint.
Durch alle Fährnisse hindurch begleitet Mark ein Glücksfaden. Er emigriert in die USA, richtet sich dort ein und landet einen Bestseller. Ruhm und Reichtum verhelfen ihm zu einem Leben, das sich in Zap keiner vorstellen kann und doch lauert ihm die Erkenntnis des Lebens in späten Tagen auf. Wenn ihm schon kein zweites Buch gelingt, so macht er trotzdem ein gutes Geschäft mit den Übersetzungen der Gedichte Josiks, die sich urplötzlich wie geschnitten Brot verkaufen. Deren Komposition und tiefere Wahrheit den Rückschluss auf die Linie Puschkins ermöglichen. Sogar der Ring findet sich wieder und bekommt einen guten Platz im Museum von Zap. Zap!
Fazit: Ein Familienroman, so prall wie drall, so abstrus wie sperrig, manchmal lustig und listig, oder auch entsetzlich, aber immer unterhaltsam und klug komponiert. ‚Die Russen: so düster und schwer‘ – hier ganz leicht und oft selbstironisch. Geschrieben aus der Ost-West-Perspektive könnte man diese auch umdrehen. Ganz so schrecklich unterschiedlich sind die Menschen dann doch nicht.
Ingo-Maria Langen, Oktober 2019