Doris Reisinger
Christoph Röhl
Nur die Wahrheit rettet
Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das
System Ratzinger
- Auflage
Piper Verlag, München 2021
348 Seiten, 22.- €
Doris Reisinger (geb. Wganer), Theologin, promovierte Philosophin, Buchautorin („Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau und Spitirueler Missbrauch in der katholischen Kirche”) froscht und schreibt zu Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche.
Christoph Röhl, britisch-deutscher Filmregisseur („Die Auserwählten” 2014) zum Missbrauch an der Odenwaldschule. 2019 folgte „Verteidiger des Glaubens“, ein kritischer Beitrag zu Joseph Ratzinger und dessen Wirkungsgeschichte innerhalb der Kirche.
Feature
Selten hat eine Person (zumal eine deutsche) sowohl in der Binnen- als auch in der Außenwirkung der römisch-katholischen Kirche einen derart nachhaltigen Einfluss ausgeübt: Joseph Ratzinger, herausragender Theologe der frühen Nachkriegsjahre, Professor schon mit 31 Jahren in Freising, Bonn, Münster, Tübingen, später Regensburg. Erzbischof von München-Freising und mit dem Pontifikat Johannes Paul II. als Leiter an die Kongregation für die Glaubenslehre (CDF) berufen. Schließlich sollte Joseph Ratzinger noch den Stuhl Petri einnehmen. Ein langes Leben in höchsten Kreisen der Kirche. Eine außergewöhnliche Karriere eines außergewöhnlich begabten Theologen. Kritisch, reformorientiert beim II. Vatikanum, befreundet mit Hans Küng, dem ewigen Rebell, dem bereits früh die missio canonica entzogen werden sollte, der dennoch von Tübingen aus die Welt der katholischen Kirche „orchestrierte“. Eine Freundschaft, die fast zur Feindschaft geriet, woran der Besuch 2005 in Castel Gandolfo nichts änderte. Wäre die Kirche nicht von der Heimsuchung der weltweiten Missbrauchsfälle durch ihr (zumeist ordiniertes Personal) in den Fokus geraten, die Geschichte des vorliegenden Buches wäre nicht geschrieben worden, kirchliche und theologische Kreise unbehelligt unter sich geblieben. Akademisches und Praktisches aus Kirche und Religion hätten uns weiter unbeschadet begleitet.
Kann die Wahrheit retten?
Der Titel des Buches von Doris Reisinger und Christoph Röhl hat einen prophetischen, wenn nicht apologetischen Anstrich. Übersetzt könnte man formulieren: Nur in der Wahrheit kann stehen, wer sich freimütig und schutzlos bekennt. Das ist gefährlich. Daraus dreht sich schnell ein Strick. Bei allem, was bislang zu diesem Thema bekannt und öffentlich gemacht wurde, sind die Erwartungen neues zu erfahren allerdings hochgesteckt. Diesen Anspruch löst das Autorenduo durchaus ein.
Anders sieht es aus mit dem programmatischen Untertitel: Das System Ratzinger. Hierzu schreiben beide im Vorwort, dass nicht die wissenschaftliche Analyse der Missbrauchscausa betrieben, sondern eine Zusammenhangsperspektive eröffnet werden soll. Das ist eine respektable Aufgabenstellung, die es gerade auch jenen Lesern, die keine intimen Kenner der Materie sind, ermöglicht einen nachvollziehbaren Zugang zu finden. Problematisch erscheint indes die methodisch-fachliche Einordnung: Welchem Genre soll das Buch zugeordnet werden? Ist es ein Investigativbeitrag? Eine Reportage? Eine kritische Biografie? Es bleibt nur der Begriff Sachbuch. Das ist jedoch für den Anspruch ein „System“ aufzuzeigen zu wenig. Dabei hätten sich gute Anknüpfungspunkte in Richtung „investigativ“ geboten: Die Verfasser haben viele Interviews geführt, aus denen Quellenaussagen stammen, die Gewicht haben. Methodisch etwas verdichtet, wäre damit ein spezieller Zugang erreicht worden, den das Buch so leider verpasst. Kritisch anzumerken bleibt auch – wieder im Vorwort – und ohne investigativen Zugang, eine Nähe zu Ratzinger herzustellen, die nur eine vermittelte ist. Daraus ergibt sich: Der Anspruch Psychogrammarbeit leisten zu können („Was wusste er? Was hätte er tun können? Was tat er? Was tat er nicht, und, vor allem, warum?“) geht fehl. Denn die dazu unbedingte Nähe kann nicht nachgewiesen werden. Schließlich konterkarieren die Autoren ihren Anspruch damit, „nur wenige Pinselstriche“ aufzuwenden, um ein komplexes kirchliches System dem Leser näher zu bringen und damit verbunden die inhaltliche und wertende Funktion Ratzingers dingfest zu machen. Das ist dem insgesamt gelungenen Buch ebenso abträglich wie der verfehlte Anspruch den „Charakter“ Ratzingers zu erhellen und „sein Handeln in neuem Licht erscheinen zu lassen“. Hier wäre weniger mehr gewesen.
Kann die Wahrheit also retten? Diese Frage beantwortet das Buch nicht. Es bleibt in das Ermessen des Lesers gestellt, welches Urteil er sich dazu bildet. Zuvor muss er sich allerdings durch knapp 300 Textseiten und knapp 40 Seiten Nachweise arbeiten. Die durchweg gut nachvollziehbaren Angaben im Apparat lassen allerdings gerade hinsichtlich der Quellen der Interviews zu wünschen übrig. Hier sind keine Fundstellen genannt. Ein Mitvollzug der Aussagen bleibt so im Ungefähren.
Die Frage nach der Wahrheit ist allerdings noch nicht vom Tisch. Im Verlauf der Untersuchung wird deutlich, dass gerade diese „Bastion“ kirchlichen Selbstverständnisses eine höchst fragile ist. Immer dann, wenn ein Argumentationskomplex kritisch, rhetorisch anspruchsvoll wird, greifen die Kirchenoberen auf die göttliche Wahrheit zurück, die ihnen in der Schrift geoffenbart ist, die ihre Tradition speist und Grundlage der Sakramente ist.
Ein theologisch-geistiges Universum
Hat man Schriften von Ratzinger gelesen, etwa die äußerst populäre „Einführung in das Christentum“ oder seine Konzilsdarstellungen, dann regt sich bei der Beschreibung Ratzingers Glaubensgebäude als von kindlicher Einfachheit gezeichnet zunächst Widerspruch. Wie soll ein Mann, den manche als „Mozart der Theologie“ schildern und der wesentlich zum Fortschritt der theologischen Entwicklung vor und nach dem II. Vatikanum beigetragen hat, ein kindliches Gemüt bewahrt haben? Wohlgemerkt zu Theologie und Kirche. Vielleicht hilft ein anderer Gedanke weiter: Ratzinger braucht einen definierten, fast schon deklinierten Rahmen, um Sicherheit für sich zu empfinden und sich zu entfalten. Zumeist ist dabei Vertrauen nötig, das wir anderen Menschen gegenüber aufbringen. Sowohl Seewald als auch andere Autoren beschreiben die Personalwahl Ratzingers als von diesem Motiv bestimmt. Reisinger / Röhl führen dazu Fehlgriffe auf, die insbesondere das Pontifikat belasteten, aber auch zu gravierenden Fehlleistungen hinsichtlich der Unterstützung von „neuen Gemeinschaften“ führte. Selbst im Fall von Marcial Maciel Degollado räumte Benedikt XVI erst nach dessen Tod ein, da seien ihm wohl Seiten verborgen geblieben, die vielen Menschen Schaden zugefügt hätten. Sicher, dies ist ein „spezieller“ (und äußerst krasser) Fall, in dem sogar JPII ein beträchtliches Maß an Mitschuld trägt. Den Autoren gelingt es dazu eine Entwicklungstendenz zu krisenhaften Fehlentscheidungen nachzuzeichnen, die später nur selten korrigiert wurden. Ein Beispiel für diese invertierte Loyalität ist das Festhalten an Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone. Weltweites Aufsehen erregte der Fall Williamson und dessen Holocaust-Leugnungen. Die Rehabilitierung dieses Mannes durch Benedikt war einer der größten persönlichen wie kirchenpolitischen Fehlgriffe – vorbereitet und begleitet von Bertone. Es wäre allerdings zu simpel, alle Schuld dafür bei diesem abzuladen. Gerade ein so reflexiver Geist, der penibel und detailversessen arbeitete, steht in der Erwartung bei einer Entscheidung dieser Tragweite diese auch sicher treffen zu können. Doch es kam zu dieser bedauerlichen „Panne“ (O-Ton Ratzinger). Resinger/Röhl deuten ein psychogrammatisches Muster an: In einem Brief an die Bischöfe stellte er später klar, dass die Verfehlungen eines Einzelnen nicht die gesamte Gemeinschaft treffen dürfe. Insbesondere dann nicht, wenn diese eine gute Mitgift vorzuweisen hatte: „Benedikt schien im Umgang mit den Traditionalisten also demselben Impuls zu folgen wie im Umgang mit Maciel: Wenn jemand Priester vorzuweisen hatte, erschien letztlich alles, was er tat oder sagte, verzeihlich.“
Iter para tutum
In der Abgeschiedenheit des akademischen Denkraums sich den sicheren Weg zu bereiten, das war für Ratzinger nicht schwer, seine umfangreichen Schriften sind Beleg genug. Anders sah es für die Praxis aus. Hier führten die Fehlgriffe zu Skandalen. Das war insoweit unausweichlich, als dass der Weg akademischer Erkenntnis nicht (so einfach) in praxisrelevantes Verhalten übertragbar ist. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der seine Leute auf Linie hatte, dem (außer in späten Jahren) selten ein Fehler unterlief (Maciel sah er nicht als solchen!), blieb Benedikts Pontifikat ein kontinuierlicher Reparaturbetrieb. Selbst einflussreiche Personen wie Georg Gänswein, Kardinal Meisner oder Angelo Scola konnten Benedikt nicht zu einem anderen Kurs bewegen.
Las encantadas?
Die Verzauberten? Der Verständnishorizont des Lesers weitet sich, bedenkt man den Status des Priesters. Seine herausgehobene Stellung über das Sakrament, die davon abgeleitete Stellung innerhalb der Gemeinde wie auch der Gesellschaft. Die soziokulturelle Position in Verbindung mit dem Auftrag des Amtes prädestiniert ihn als Figur mit der Hand am Türöffner zum Paradies. Versinnbildlicht in der Kultushandlung der heiligen Eucharistie mit der Gabe des Abendmahls. Dieser symbolisch-praktische Gnadenerweis hebt den Priester heraus aus der Herde seiner Schafe, er ordnet ihn näher dem Göttlichen zu (cf. Transsubstantiation). Diese „Verzauberung“ (Kleidung) symbolisiert sein Ansehen in der Gemeinde und damit das Gewicht seiner Stellung wie seiner Rede. Für die sakramentale Plicht erlebt der Priester die Segnung eines besonderen Selbstbildes, dem mit Respekt, Hochachtung und Demut begegnet wurde. Inzwischen ist es gebrochen an den Skandalen und der schlichten Erkenntnis, dass viele Priester diesen hehren Vorstellungen nicht entsprechen können (und wollen), sie doch der irdischen Welt näher sind mit all ihren Sünden. Bricht dieser Schein vollends zusammen, dann wäre die größte Krise der katholischen Kirche geboren: die Sakramentalkrise. Sie müsste unter großen Schmerzen ihre Sakramente neu ordnen und dabei auch die Frauenordination zwingend berücksichtigen. Aus Krisen sollen schon neue Wege hervorgegangen sein. Derzeit sieht es danach allerdings nicht aus.
Nicht System, aber systemisch
Die publikumswirksam eingeleiteten Verfahrensreformen etwa im CIC täuschen nicht darüber hinweg, dass es immer noch (!) zuvörderst um den Schutz des Priesters geht, nicht um den der Opfer oder gar um deren Heilung. Der weltweite Missbrauchsskandal zeigt über die prominenten Fälle wie Maciel, Gauthe, Kiesle oder Murphy zwar kein „System Ratzinger“, wohl aber das systemische Handeln vieler Einzelpersonen von der Basis bis hinauf in die Spitze der Kurie, um den hermetischen Zirkel geschlossen und die Welt draußen zu halten. Bislang hat das ganz gut funktioniert. Erstaunlich ist auch, dass nicht noch mehr Scharen den Kirchenoberen davonlaufen. Reisinger / Röhl machen dazu einen interessanten Punkt auf: Könnte die Zuständigkeit des IGH in Den Haag begründet werden? Ihr Argument lautet: Die Dimension weltweiter Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ist kaum von nationalstaatlichen Gerichten zu bewältigen, soweit sie denn überhaupt dort verhandelt werden. Nur ein international aufgestelltes Gericht wäre in der Lage dazu Urteile zu fällen. Wenn wir über das Systemische, das auch mit Hierarchien zu tun hat sowie damit aus eigenem Recht sich abschotten zu können (der Vatikan und damit auch die Kirche ist immerhin Völkerrechtssubjekt) nachdenken, so wohnt dieser Idee schon eine innere Logik bei. Allerdings müsste dazu das Statut des IGH geändert werden, müssten sich viele Staaten bereit erklären dies zu unterstützen. Und es bliebe die Frage: Was würde das mit dem internationalen Rechtsstatus des Vatikan machen? Derweil bleibt es wohl auf lange Sicht noch dabei: Reformen müssen von innen kommen.
Fazit: Reisinger / Röhl liefern eine gut lesbare Zusammenschau des systemischen Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche. Ihre Argumente sind valide, die Zusammenhänge schlüssig. Noch arbeiten viele Kreise in der vormodernen Vorstellung von Freund/Feind-Bildern gegenüber der Kirche. Aber der „Teufel“ ist nicht Gottes gefallener Engel, sondern der Mensch in seinem Auftrag, der die an ihn gestellten Anforderungen oft nicht erfüllen kann und strauchelt. Die Erosion hat längst begonnen, sie könnte dazu führen, dass eines guten Tages das Kirchengebäude unter der Last seiner eigenen Sünden zerberstet.
Ingo-Maria Langen, April 2021