Nora Bossong
Schutzzone
Roman
Suhrkamp Verlag
1. Auflage
Berlin 2019
332 Seiten 24.- €
Zusammenfassung:
Mira durcheilt das Leben in New York oder Genf ebenso wie die Krisen- und Kriegsgebiete Europas oder Afrikas. Als Mitarbeiterin der UNO in Genf ist sie besonders mit zwei Krisenherden beschäftigt: dem Zypernkonflikt und dem Krieg in Burundi. Zwischen diesen Polen entwickelt sich ein dichtes Geflecht an Verstrickungen im beruflichen wie im privaten Leben Miras. Als ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Genozids in Burundi ins Blickfeld gerät, stellen sich die generellen Fragen nach Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortung, Wahrheit und Wahrhaftigkeit für sie auf doppelte Weise.
Nora Bossong, Stipendiatin beim Literatur Labor Wolfenbüttel, studierte Literatur am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik an der HU-Berlin, in Potsdam sowie der Sapienza in Rom. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Peter-Huchtel-Preis sowie mit dem Kunstpreis Berlin und dem Roswitha-Preis. Seit August 2019 steht ihr Roman „Schutzzone“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Das getauchte Nilpferd
Selten gelingt der Einstieg in einen Text so elegant, so fließend, und zugleich aufwendig, wie zu Beginn von „Schutzzone“. Bereits im ersten Absatz überspannt der vierte Satz einen Bogen von achtzehn Zeilen. Die Schönheit und Eleganz dieses einen Satzes, der Literatur von ihrer Form her Leben einhaucht, zeugt von einer literarischen Kunstfertigkeit, auf die man im Literaturbetrieb eher selten trifft. Der in dieser Form geborgene Inhalt wird gleichsam aufgeschäumt, luftig und leicht mitgeliefert. Obschon das Thema des Buches durchaus an Schwere kaum zu überbieten ist, löst sich deren Belastungstiefe über die Spracheleganz und Sprachmelodie immer wieder auf, gleich einer Insel in stürmischer See, die ein Durchatmen für den Leser bereithält.
„Geltung erreichen wir durch Widerspruch. Nicht durch Dissens, sondern im Paradox.“ Diese Aussage Milans trifft über weite Strecken auf den Lebens- und Entwicklungszyklus Miras zu. Im Grunde könnte man ihn auch als Sentenz für das gesamte Buch setzen: Nora Bossong bricht ihre Kunstfertigkeit über weite Strecken und stellt sie formal ins Paradox. Die Sprache wendet sich in jene Seriosität, mit der die Bedeutungstiefe der ‚Verhandlungen‘ in den Vordergrund tritt. Jene ‚Fakten‘, die wir oft nicht von der ‚Realität‘ unterscheiden können. Bei denen wir immer wieder in andere Bedeutungshorizonte hineingezogen werden, oder alternative Realitäten zum Paradox werden, weil sie einen (scheinbar) äquivalenten Anspruch auf Wahrheit in sich tragen.
Verschachtelt zwischen 1994 und 2018 werden Episoden erzählt: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung, Übergang. Die Schauplätze wechseln aus dem Rheinland nach Manhatten, Zypern, die Niederlande bis nach Afrika (Burundi). Mira ist bei den Vereinten Nationen, inzwischen in Genf, tätig und fertigt Berichte für eine (noch immer nicht stattfindende) Wahrheitskommission und die UNO selbst. In Genf trifft sie im Beau-Rivage auf Milan, einen Kollegen, der kurz darauf nach Den Haag wechselt. Beide Figuren stehen in einem inneren Spannungsverhältnis. Milan, acht Jahre älter als Mira, wurde einst in den Neunzigern zu ihrem brüderlichen Freund und Begleiter, in dessen Familie Mira nach der Trennung ihrer Eltern Zuflucht findet. Sie taucht ein in großbürgerliche Verhältnisse, Diplomatenkreise, Kunst und Kultur, immer wieder verbunden mit Darius, dem väterlichen Freund der Familie, dessen Protegé Milan wird. Darius, ein langgedienter Diplomat, mit allen Wassern gewaschen, auf den Weltbühnen zuhause, zieht viele Fäden und bleibt als Bindungsfigur für Milan und Mira immer ein geistiges Backup.
Nilpferde und andere Camouflage
Im Feldeinsatz, als Teil der internationalen Klasse der „Expats“ (Expatriats) mit ihren Vertretern aus Wirtschaft, NGO’s, technischen Hilfswerken, diplomatischem Dienst, soll Mira Berichte verfassen, die zur Grundlage für eine Wahrheitskommission und zur internen Verarbeitung bei der UNO werden. Schnell wird ihr bewusst, dass ihre Vorstellungen über die Arbeit illusionistisch, wenn nicht illusorisch sind. Sie wird erleben, dass ihr die aus der Ex-Familiensituation fehlenden Wurzeln auch im Hier und Heute nicht mehr wachsen, dass sie von Daheimgebliebenen geringeschätzt wird, gefühlt zur Paria verkommt, sich zur Heimatlosen wandelt, den Verdacht nährend, den tatsächlich Vertriebenen näher zu sein, als den Hochglanzfotos der Genfer Zentrale, diesem klassizistischen Bau der Moderne, der mit seinem kühlen Prunk, der Allee der Fahnen und der Idylle des Genfer Sees als Background-Kulisse, ein Trugbild westlicher Arroganz in der Weltpolitik bildet. Während Mira Untersuchungen und Befragungen durchführt, einen Zugang zu den Menschen in einem geschundenen Land findet, arbeitet Sarah als Medizinerin im Umfeld von Tod, Leid und Missverständnissen, was sie zur Zynikern werden lässt, die einen aussichtslosen Kampf gegen HIV, Infektionen, oder die Betreuung von Vergewaltigungsopfern führt. „Beschützt du eigentlich die Menschen?, fragte Sarah. Oder horchst du sie aus?“ Was tun wir, wir die Helfer, in so einem Land wirklich? Sarah erzählt: Eine Frau, des Abends allein auf der Straße, kaum Außenlicht, wird vergewaltigt, fast zu Tode geprügelt. Kurz darauf passiert ein Priester die halb tot daliegende Frau, blickt über sie hinweg und verschwindet. Ein Blauhelmsoldat ebenso. Obschon noch in Uniform, hat er doch Feierabend, ist gedanklich in zivil. Und dann kommt niemand mehr, die Straße wird gesperrt, der Soldat hat sie als zu gefährlich gemeldet. Was ist das anderes als Zynismus? Kaltes Herz? Nora Bossong erarbeitet hier einen kompositorischen Maximalbruch: Sie verbindet zwei gegensätzlich positionierte Frauenfiguren in einer basalen Polarität. Setzt sie dann einer (beschützten) intimen Situation untereinander aus und bricht diese mit dem Bild der Schuld. „Der Soldat? Der barmherzige Samariter.“
Warum handelt das „Nilpferd-Spiel“ von Schuld? Das Spielt geht so: Ein Begriff oder Wort wird in den Berichten versteckt, damit es bis in die oberste Etage gelangen kann, ohne enttarnt zu werden. Gewonnen! Die Berichte aus den Krisengebieten: von außen gut aufbereitet und präzise, doch darunter kein Unterbau, seltsam farblos, wassergetränkte Fakten. Situationen, die Oberfläche spiegeln, ohne die Wirklichkeit zu präsentieren. Wer wollte die auch sehen? Letztlich bleibt jede Interpretation ein Konstrukt, das man will, das man braucht. Westlicher Zynismus als Antwort auf ausweglose Situationen. Und die Frau stirbt auf der Straße. Doch auch das ist die Wahrheit: zu fühlen wie das fremde Blut auf der eigenen Haut an Temperatur verliert, berichtet General Aimé Mira. Wahrheit, die nicht im Bericht steht. Was ist der Maßstab für Schuld? Schuld als transkulturelle Kategorie? Von einer europäischen Kolonisierung, ethnischer Melioration? Der Zerstörung indigener Kultur? Und noch immer dominieren diese alten Kräfte, sind Helden, Märtyrer, leiden für den christlichen Glauben, am Kreuz sterben dann aber die Kolonisierten, nicht die Kolonisten! Denn die Missionare befanden über jene, denen sich nicht der Heilige Geist eintreiben ließ, weil sie immer noch mit ihren alten Göttern zufrieden waren. Und darin liegt das Scheinheilige: Selbst wenn die Missionare Judas wären, sie würden seine Schuld immer weiter nach unten durchreichen, weil da immer noch wer ist, dem man sie aufbürden kann. So trägt die Schuld der Welt, aus der die Missionare kommen, ein Lakai, den die Missionare erst erfunden haben, nachdem sie versucht hatten, ihm die alten Götter auszutreiben. Aber das Böse ist nicht unteilbar. Den Genozid am eigenen Volk konnte die Kolonisierung nicht vorwegnehmen, wir haben ihn trotzdem unternommen, erklärt Aimé Mira.
Das Heitere der Kunst als Stachel im Fleisch
Mit kompositorischer Vielfalt löst Bossong Themen von Schuld und Verstrickung in vermeintlich kunstvoller Form eines vollendet schönen Satzes, der sich mäandrierend über eine Seite erstreckt, dem der Leser mit Genuss Zeile für Zeile folgt, auf. Das Sprachspiel Bossons strahlt hell und formschön. Solche Leuchttürme sprachlicher Kunstfertigkeit wünschte man sich für jedes Kapitel. Dann würde ihre Strahlkraft freilich nachlassen und zugegeben, es wäre erheblich beschwerlicher die Geschichte zu erzählen, drohte sie doch unter der Form zu leiden. So liest es sich leidenschaftlich, saugt das Auge jeden Teil aufs Neue auf und genießt. Und doch ist jenes Auflösen wenig mehr als ein kurzer Atemzug, bevor die Hässlichkeit des Weltgeschehens den Leser wieder einholt. Gleich ob in Bujumbura oder auf Zypern. Die Insel der Aphrodite umsäumt von Metalltonnen, Sandsäcken, der Schönheit von Stacheldraht. Fußabdrücke davor und dahinter, die ins Nichts führen. Menschen mit ihren Hoffnungen, Ängsten, Wünschen, Bedürfnissen. Aufgehoben im Krieg, zu binären Daten geronnen. Womit also helfen die Helfer? Mit Berichten.
Das Elend der Welt bleibt überall nilpferdgrau. Die UNO, ein aschfahler Kammerjäger, bedient von komplexen Berichten auf losem Untergrund, durch den sich allerlei Ungeziefer windet, um im Schatten sein Wesen zu nähren, dem Licht auszuweichen und alsbald wieder unter einem Stein zu verschwinden. Dazu schreibt Mira ihre Bulletins. Was wird ihre Verantwortung sein? In welcher Zeugenschaft wird sie stehen?
Fazit: Mit ihrem anspruchsvollen, aber nie anstrengenden Stil, gibt Nora Bossong dem kunstvoll geschachtelten Spannungsbogen jenen Resonanzboden, der Widerspruch, Paradox und Zweifel an der Aufrichtigkeit der Figuren wie auch der Institutionen kontinuierlich mit neuer Nahrung versorgt. Bis der Leser zu der strapaziösen Einsicht gelangt: das ist ja auch meine Verantwortung! Was tue ich?
Ingo-Maria Langen,
September 2019