Matthias Remenyi
Thomas Schärtl (HG.)
Nicht ausweichen
Theologie angesichts
der Missbrauchskrise
Verlag Friedrich Pustet
Regensburg 2019
276 Seiten 24,95.- €
Zusammenfassung:
Gibt es einen Ausweg aus der Systemkrise der katholischen Kirche? Können wir uns eine Reform an Haupt und Gliedern erhoffen? Wir können zumindest Argumente, Diskurse und Änderungsvorschläge begründen. Dazu leistet der Band einen – gerade für Praktiker vor Ort – wichtigen Beitrag.
Matthias Remenyi, Professor für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität.
Thomas Schärtl, Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Regensburg.
Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden (LK 14)
Der vorliegende Sammelband gliedert sich in vier Teile. Er beginnt mit der Perspektive der Betroffenen, leitet über zu gesellschaftlichen, medizinischen und psychologischen Ansätzen, greift ethische, rechtliche und institutionelle Bedingungen auf und schließt mit systematisch-theologischen Überlegungen. – Eine derart formalisierte Einordnung lässt den Rahmen erkennen, wird dem Fachbuch jedoch bei weitem nicht gerecht. Die Fülle wie auch die thematische Verknüpfung der Einzelbeiträge eröffnet dem Leser die Überlegung, aus dieser Fülle durchaus für die Praxis zu schöpfen, wenngleich der Band nicht die Zielstellung eines Handbuchs anstrebt. Die Beträge zeichnen sich allerdings besonders dadurch aus, dass sie Lösungsansätze für die diskutierten Problemstellungen bieten, die durchweg einen guten Praxisbezug ausweisen.
Hans Küng hat in seinem Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“ von 2011 von einer „Leitungskrise“ der Kirche gesprochen. Das fasst zusammen, worin sich der institutionelle Konflikt der katholischen Kirche ausdrückt. Wir haben es mit einem institutionellen Versagen der Leitungsebene zu tun, das Ausgang- wie Endpunkt der seit langem schwelenden Krise der Kirche in der Neuzeit ist. Die „Fieberschübe“ (Küng) zeichnen eine Entwicklung, an deren Ende entweder die vollständige Genesung des Patienten Kirche steht oder sie – so schrecklich die Formulierung auch klingen mag – in einen infausten Prozess mündet, in dem wir nurmehr eine siechende Kirche vorfinden. Euphemistisch ließe sich von einem basalen Spannungsfeld sprechen, das die Grundwerte der Kirche dekonstruieren könnte. Worum geht es?
Was einem die Sprache verschlägt, davon muss die Rede sein
Die an Skandalen so reiche Kirchengeschichte ist inzwischen an einem Punkt angelangt, der sie in ihren Grundfesten erschüttert und das Denk- und Traditionsgebäude, auf dem sie ruht, zum Einsturz bringen könnte. Als Katalysator dafür darf sicher die sogenannte MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch durch Amtsträger und Kirchenangehörige gelten. Im Zuge ihrer Veröffentlichung, diverser Diskussionsformate, nicht zu Letzt der Beginn des „synodalen Wegs“ von DBK und ZDK sowie anderer Akteure, ist der Kampf um die Deutungshoheit (Validität) der Studie voll entbrannt. Der Band wählt stattdessen den Einstieg aus der Perspektive der Betroffenen. Deren Schilderung sind stellenweise so atemberaubend, dass man unwillkürlich zweimal liest, um sicher zu gehen. Kinder, die noch vor ihrer Pubertät vom Pfarrer in der Beichte in emotional aufgeladener Sprache nach eigenem sündigem Sexualverhalten investigiert und in einen Angstraum der Antworten gedrängt werden, der jede Scham und Demut auf Seiten des Geistlichen missen lässt. Drohungen mit Schuld und schwerer Sünde treiben die Kinder in ein „Misstrauen gegen sich selbst“, das sie oft lebenslang begleitet und jede Partnerschaft im späteren Leben a posteriori schwer belastet. (Magdalena Fischer) Auch Erfahrungen von exzessiver, nichtsexualisierter Gewalt, die Opfern aus den sechziger, siebziger Jahren noch heute mit tränenerstickter Stimme vortragen, die aber kein Gehör fanden in der Institution Kirche – ihrer Kirche. (Klaus Pfeffer) Oder der spirituelle Missbrauch der Novizin, deren Ordensleitung ein Schreckensregiment der De-Personalisierung führte, mit dem Ziel vollständiger Kontrolle über den Menschen als reine Zweck-Mittel-Relation. (Doris Reisinger) Oder dem Selbsthass und der Selbstverleugnung schwuler Priester, ihrem Leiden an der Kirche und deren Homophobie, das zu zu schwersten intrapersonalen Störungen führt. (Ruben Schneider) Beispiele zerbrechender Selbstbilder, nach langem Kämpfen mit sich selbst nicht selten auch der Verlust der Existenz. Ein bekanntes Beispiel für Homophobie, spirituellen Missbrauch bis hin zum Amtsverlust hat Monsignore Krzystof Charamsa in seinem Buch „Der erste Stein“ geschildert. Als Assistenzsekretär der Kongregation für die Glaubenslehre outete er sich 2015 und verlor daraufhin alle Ämter, seine materille Existenz, selbst den äußerlichen Status als Priester erkannte ihm sein Bischof in Polen ab. Eine Totalvernichtung. Die Bilder gleichen sich hier wie dort.
Worüber man nicht reden kann, davon soll man schweigen?
Die katholische Kirche hat kein Kommunikationsproblem. Sie orchestriert ein Schweigekartell. Jede Abweichung bis hin in die wissenschaftliche Theologie wird mit einem Tabu belegt, sofern die offizielle Lehramtsmeinung tangiert ist. Davon abzuweichen wagen nur wenige, die meisten riskieren nicht ihre Reputation oder den Verlust ihrer Stellung. Wahrheit wird indoktriniert, nicht im akademischen Sinne erstritten. Das bessere Argument siegt? „Wir bestimmen, was Wahrheit ist, und du hast dir diese ‚Wahrheit‘ zu eigen zu machen oder wenigstens nicht öffentlich zu widersprechen. Und wenn du dabei leidest, dann tust du das gefälligst schweigend.“ (Doris Reisinger) Bereits aus diesem kurzen Anriss wird deutlich: Die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Person wird in der katholischen Kirche im weitest reichenden Sinne systemisch praktiziert. Konsequent fordert Reisinger daher auch eine „neue akademische Widerstandskultur“, „eine Kontrollfunktion gegenüber jenen, die ihre Ämter und die von ihnen ausgeübte Macht theologisch begründen – und die bisweilen auch nicht davor zurückschrecken, selbst den deutlichen Missbrauch dieser Macht noch theologisch zu begründen.“
Im Zuge der öffentlichen Stellungnahmen seitens der Kirche zur MHG-Studie fragte Christiane Florin (Deutschlandfunk) Kardinal Marx, ob einer der Bischöfe nach Bekanntwerden der Studienergebnisse von Rücktrittsgedanken ergriffen worden sei. Die Antwort: „Nein.“ Kurz, knapp, erschöpfend. Stattdessen folgte die Pressekonferenz dazu einer Choreographie: „Eine Kirche, die das theatrum sacrum beherrscht, ist auf eine unheilige Realität nicht vorbereitet. Die Pressekonferenz sah wie ein Hochamt des Demutsgigantismus aus, die Worte der Erschütterung fielen in einem erdbebensicheren Setting.“ (Florin) Hebt eine schulbezogene Kultur jene der Schambezogenheit auf? Ist Scham nicht mindestens ein Teil von Wiedergutmachung? Scham ist immer gemeinschaftsbezogen, Schuld individual. Letztere kann ggf. sogar noch abgewälzt werden (Organisations- oder Organverschulden). Da tritt die Entlastungsfunktion hinzu, von der Arnold Gehlen in seiner Anthropologie gesprochen hat. Beides zusammengenommen lässt den Betrachter entweder in einen Abgrund schauen oder vor eine Mauer rennen. Anders gewendet: Er ahnt den Abgrund hinter der Mauer. An der Institutionenhierarchie scheitert die individuelle Autonomie. Empathie? Definiert als kognitive, soziale und emotionale Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Mitmenschen hineinversetzen zu können. Barmherzigkeit, Demut?
Das Lehramt bewahrt das Dogma und die Tradition.
Besteht eine Conditio-sine-qua-non dergestalt, dass die lehramtlich verstandene Sakramentalität einen Ursachenzusammenhang für Missbrauch begründet? Auf den ersten Blick möchte man das sicherlich verneinen. Es lohnt jedoch, genauer hinzuschauen. Zunächst wäre zu unterscheiden zwischen priesterlicher Sakralität als Ausdruck eines persönlichen Vermögens, sprich der Konsekrations- und Absolutionsvollmacht des Priesters. Sie definiert ihn im kultisch reinen Raum priesterlicher Handlung, als Kontrafaktum zur profanen Welt, in der wir anderen leben. Je nach Ausdeutung entwickelt sich daraus aber leicht eine kirchlich-priesterliche Parallelwelt. Die Sakramentalität bildet demgegenüber die zeichenhafte Insgesamtnahme der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf. Im Erlebnis der Eucharistie vergegenwärtigt sie die Differenz zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten, sie reicht also weit über den vorstelligen Akt der Handlung hinaus. Und genau in dieser Hinausweisung besteht ihre Beschränkung: Personen, Ämter oder Institutionen zu sakralisieren würde bedeuten, diese mit der Hinausweisung zu identifizieren, während es richtigerweise um die Differenz geht. Damit laufen Lehramt, Dogma und Tradition auf eine Neubestimmung hinaus: Wer bestimmt (wie) Gottes Wille? Daran geknüpft ist die Frage nach „Wahrheit“, die nach gängigem, fächerübergreifendendem Konsens immer nur einen aktuellen Können- und Kenntnisstand wiedergibt (Falsifikationsprinzip). Gelangt man hierüber zu einer Neubewertung des genannten Dreiklangs, bräche das hergebrachte Sakramentsverständnis in der katholischen Kirche auf. Woraus leitete sich dann Autorität mit ihrem Anspruch auf Gehorsam, Wahrheit etc. ab? Ließe sich die Asymmetrie zwischen Klerus, Laien, Männern und Frauen neu ordnen? Wäre eine selbstbestimmte Person mit einer selbstverantworteten (gelebten) Sexualität in Freiheit noch Lehramt, Dogma und Kirche zuordbar? Müssten Dogmen entkräftet, neu gefasst oder darauf gar verzichtet werden? Mit welchem Ziel? Welchen Machtverlust würde so eine Entwicklung nach sich ziehen? Gerade über den säkularen, demokratisch verfassten Staat sehen sich viele in der Kirche bedroht. Denn ein Essential dieser säkularen Verfasstheit ist die Zubilligung (Legitimation) von Autorität (Macht) auf Zeit sowie ihre Kontrolle mit der Möglichkeit, diese vorfristig wieder zu entziehen. Würde sich solch eine Demokratisierung in der katholischen Kirche Bahn brechen, müsste die gesamte Institution unter Partizipationsgesichtspunkten „neu gedacht“ werden.
Anspruch ist nicht gleich ansprechend
Schließlich: Mit Thomas von Aquin lässt sich davon sprechen, dass „Recht und Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit Grausamkeit ist, aber Barmherzigkeit ohne Recht Anarchie und Willkür“. (Sabine Demel) Sie schlägt eine Erweiterung des Rechtsverständnisses vor, das das gesamte Gottesvolk erfasst und damit auch Wahrheitsfindung aus seiner Mitte heraus ermöglicht. Dabei müssen auch die Freiheitsräume, die bestehen (oder geöffnet werden müssen) betrachtet werden. Schließlich haben alle Gläubigen am dreifachen Amt Christi teil – ohne Ansehen der Person. Auf diesem Wege wäre auch „eine Dialektik von Schuld und Scham im gegenwärtigen Umgang der Kirche mit der Missbrauchskrise offenzulegen und eben auch ein Defizit in Hinsicht auf eine Schamkultur (…).“ (Thomas Schärtl) Er plädiert für die Entwicklung einer Schamkultur in der Kirche, bemüht dazu einen Gedanken Anselms (Cur Deus Homo), mit dem er auf einen umgekehrten Schamprozess hinweist: Gott schämt sich der Menschen und überwindet diese Scham im Kreuzestod Jesu, der „eine neue Form von Ehre errichtet.“
Fazit: Ein nachdenklicher Sammelband zum systemischen Missbrauch in der katholischen Kirche, der nicht anklagen will, sondern schonungslos Strukturen aufdeckt, Verhaltensweisen und Kommunikationsformen, die Missbrauch ermöglichen. Zugleich liefern die Beiträge differenzierte Ansätze für eine praktisch zu reformierende Kirche, unter Einschluss der katholischen Grundpositionen, geöffnet für neue Deutungshorizonte.
Ingo-Maria Langen, März 2020