Nora Gomringer
MONSTER
Morbus
Moden
Sammelband mit Audio-CD
Illustrationen von Reimar Limmer
Voland & Quist
1. Auflage
Berlin, Leipzig u.a. 2019
172 Seiten 26.- €
Statt Zusammenfassung:
Leben. Das Leben. Lebendig sein! Hören macht dem Blinden die Welt lebendig. Führt doch die Stimme das gesprochene Wort durch Licht und Schatten, Tal und Höhen, Nacht und Tag. Daher meine Empfehlung zuerst: Vor dem Lesen der Gedichte sollte das Hören stehen. Die Audio-CD bietet eine eindrucksvolle Stimme, eine Arbeitsstimme, eine Orchesterstimme, eine Märchenstimme – selten zu hören auf Lesungen, hier frei Haus. Die Stimme der Autorin.
Nora Gomringer, Autorin für Rundfunk und Feuilleton, veröffentlichte eine Reihe von Lyrikbänden. Neben vielen Auszeichnungen war sie Aufenthaltsstipendiatin u.a. in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto. 2012 erhielt sie den Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik, 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Sie leitet das Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg als Direktorin.
Ich lese das Vorwort von Clemens Setz – und bin verwirrt. Ich lese: von Maschinen, die dichten. Was habe ich erwartet? Schwere Lyrik! Nein, sie ist leicht, abgründig manchmal, idiosynkratisch (hin und wieder), iterativ (manchmal) und immer bildstark, facettenreich und ausgesprochen erdig, bodenständig.
Die vom Verlag als „Begriffstriptychon“ (Setz) collagierte Ausgabe vorangegangener Editionen bringt Setz auf eine griffige Formel: eingeschrieben in das ewig Wiederkehrende des Menschseins: „1. Wie man erscheint, 2. Wozu man unweigerlich wird und 3. Was man im Innersten wirklich ist.“ Eine Archetypisierung unseres Daseins und Wesens zugleich. Das leisten Gedichte? Genau. Und hier nochmals: Erst das Hören entschlüsselt die anthropologischen Untiefen, die welke Prosa unserer Bekleidung, den Blick ins Bodenlose. Unser blankes Leben, unser Zeitalter blanker Monster, blanker Ängste. Ein Beispiel. Im Abschnitt ‚Moden‘ dekonstruiert Nora Gomringer die Modewelt: es geht nicht um die Frau und ihr Bedürfnis nach Mode, sondern um das Bild das davon erschaffen wird. Von Männern wohlgemerkt. Welche Botschaft steckt hinter den teilweise offen sexistischen Plakaten? Werden hier verdeckt Botschaften codiert, Sehnsüchte formuliert? Mag sein. Doch ein Blick auf die ‚erotische‘ Wirklichkeit des „Füßebindens“ in China entlarvt die Perversion an den Frauen. Vorgeblich sollte das Trippelschrittige dieser Frauen den Beschützerinstinkt der Männer wecken, die völlig verkrüppelten Füße erlaubten weder weite Strecken noch einen schnellen Gang. Dieser aber sei eben dann so „erotisch“ („Lotus“). Lebendiges Leiden, Folter an kleinen Mädchen und späteren Frauen als Macht – und Lustgehabe pervertierter Männerphantasien! Das Bildmaterial von Reimar Limmer aus alten Katalogen, Werbeaufnahmen oder Filmplakaten, oft verfremdet („Millionen Dollar Mermaids oder Dirndl“) zeigt ‚Sexappeal‘. So verfallen wir dem Wahn von Schönheit, Gesundheit und Glück. Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach (1962). Die Wirtschaftwunderjahre – sie haben uns bis heute nicht verlassen: in der Gesellschaft mit ihrem Anpassungsdruck, ihrem Konformitätswahn und Rollenvorgaben. Wünsche, Sehnsüchte oder auch Ängste, die, fallen sie aus dem Schema der Konvention, werden nur noch pathologisch abgebildet.
Alles Maske? Kommst du aus der Maske? Zu den Rollen passen wir uns Masken an, maskieren uns. Darunter verbergen wir unsere Sehnsüchte, unsere Ängste. So lesen sich die Gedichte Gomringers wie eine Reise durch die Ängste unserer Gegenwart, die immer wieder verbunden sind mit den falschen Versprechungen unserer Helden, Idole oder Stars. Vorbilder? Zu altbacken, sagt eh keiner mehr. Es gibt sie ja auch kaum noch. Es muss erst ein Mädchen von 16 Jahren kommen, um unsere Ängste ins Fenster der Welt zu stellen. Da sind keine Vorbilder mehr. WIR sind keine mehr. Wir werden von klein auf „gemacht“: zu Mädchen und Jungs und ihren Rollen („Monster & Mädchen“). Das pädagogische Rollenstyling wird so perfektioniert, dass die Kinder sich als ‚echt‘ ihrer Rolle anverwandeln und sie getrost spielen. Irgendwann taucht unvermeidlich die erbarmungslose Frage auf: und wenn ich darin versage? Panik! Absturzgefühle, Angst vor Ausgrenzung. Sozialer Tod. Der Ausbruch aus der Rolle wird bestraft. Auch wenn uns früh schon bewusst wird: wir sind mehr als die Rolle ausmacht. Zeigen dürfen wir das nicht. Wir sind formbar, lenkbar, für den Missbrauch (politisch, sozial) offen. Knetmasse unter Uniformitätsdruck.
Bleiben wir im Innersten dem Wunsch nach Nanny Poppins unrettbar verbunden? Der Hoffnung auf den Retter aus unserem Angstgefängnis? Jemand, der uns hilft, beisteht, uns gar erlöst? Wie trügerisch auch dieses falsche Bild! „Ich verstand, dass diese Frau dich niemals liebt, sie vorher geht und ohne Tränen, dich verliebt macht bis aufs Blut, in ihre Lieder, ihre Lippen. Sie gibt dir Medizin und lächelt ihre Bitternis weit fort. Sie ist nicht Ärztin, sie ist Diebin deines Kinderherzens…“
So sind wir hilflos Entzauberte in einer manipulativen Welt. Unser Gehäuse der Angst droht in Brand zu geraten, sobald wir nicht mehr interessant, alt oder krank oder arm werden. Die Rolle nicht mehr ausfüllen können. Doch keine Bange: Wir müssen das nur einmal erleben, ein Phönix aus der Asche werden wir nicht. Umso erbärmlicher, was wir aus uns machen, statt was wir aus uns (allen) machen könnten.
Fazit: Ein bitterböser Blick auf unsere Gesellschaft, nicht ohne feinen Humor, dafür mit gedämpfter Freude. Sehr hörenswerte CD.
Ingo-Maria Langen, Oktober 2019