Ulrich Woelk
Mittsommertage
Roman
C.H.Beck Verlag, München, 2023
284 Seiten, 25.- €
Sommer in Berlin
Es ist drückend heiß, die Vorausschau nicht weniger. – Ruth Lember, Professorin für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin lebt in gut bürgerlichen Verhältnissen. Verheiratet mit Ben, einem erfolgreichen Architekten, teilen sie ihr Haus mit Jenny, der Tochter von Ben. Gerade flügge geworden, studiert sie in Leipzig, rechnet sich der „Letzten Generation“ zu. Dieses unscheinbare soziologische Setting könnte ebenso die Folie für ein Kammerspiel als auch ein Boulevardstück geben. Ein geschicktes Framing der Protagonisten bricht diese Erwartungshaltung jedoch.
Die bevorstehende Berufung in den Ethikrat ist für Ruth eine besondere Auszeichnung, nur wenige Lehrstuhlinhaber werden dafür vorgeschlagen. Ihre Reputation auf dem Höhepunkt, die Anerkennung der Fachkollegen hoch, unter Studenten ist sie geschätzt. Das Glück der Familie spiegelt sich zugleich im Gewinn eines Architekturwettbewerbs für ihren Mann, der mit diesem Projekt großes Ansehen erlangen könnte. Doch die Erzählung, in den Verlauf einer Woche eingebettet, deutet alsbald und fast nebensächlich Risse in der heilen Welt an. Da ist der spannungsgeladene Antagonismus von Ruths Selbst- und Weltsicht: zum einen gegründet in dem Wissen um akademische Brillanz, zum anderen als kinderlose Frau Mitte Fünfzig, die sich Sorgen um ihre (sexuelle) Attraktivität macht. Als Musterehepaar leben Ben und Ruth mehr nebeneinanderher, denn ineinander verschlungen, diktiert mehr stoischer Intellekt, denn dionysisches Empfinden ihren Bezug zueinander, zusätzlich verkompliziert durch ihre Rolle als Ziehmutter oder wie auch immer sie sich da begreifen sollte. Intrapersonale Konflikte dieser Figur bilden den Ausgangspunkt für diverse Auseinandersetzungen, etwa zu einer (verspäteten) Midlifecrisis in ihrem Rollenspektrum: Ängste im Umgang mit Ben, Tochter Jenny oder auch dem im Altenheim lebenden Vater. Wird sie ihrer Verantwortung gerecht? Als Tochter, Ehefrau, Mutter? Nicht kritische Selbstreflexion, sondern überforderndes Verantwortungsbewusstsein treibt sie an. Auf sicherem Terrain befindet sie sich dann, geht es um ihre akademische Welt. Gleich zu Beginn verwebt Woelk hier unser aller Beziehung zum Leben mit philosophischen Grundfragen, die aktuelle Debatten berühren: Klimakrise und Tierwohl.
Bei ihrer morgendlichen Joggingrunde wird Ruth von einem Hund in die Wade gebissen. Ein banaler Vorgang, der sich zu einem medizinischen Krisenfall ausweiten könnte. Eine feinnervige Eskalation evoziert beim Leser das Unbehagen selbst zum Notfall werden zu können. Doch Woelk schwenkt geschickt um, thematisiert den Dualismus Descartes und seine Vorstellung vom Tier als Automaten in einem der Seminare Ruths. Eine kurze Exkursion bringt uns dessen Vorstellungswelt wieder nahe: die Unterteilung in res extensa und res cogitans. Wären Tiere Automaten, würden ihre Schmerzensschreie in der Not nur dem Quietschen einer ungeölten Tür gleichen. So wenig sich die Seele der Tiere beweisen lässt, so sehr sind sie fühlend-beseelte Wesen, denen unsere Achtung und Fürsorge gelten muss. Da spricht die Ethikprofessorin, die mit ihrem Verweis auf den Sandmann von E.T.A. Hoffmann einen Klassiker in Bezug setzt zur aktuell diskutierten KI. Überlegungen zu Axiomatik und Monadenlehre Leibniz schließen sich an, eine Überleitung zur Ganzheitlichkeit von Natur und Leben. Das liest sich unterhaltsam und dient doch einem tieferen Zweck: auch die Nichtlinearitäten unseres Lebens, scheinbare Zufälle oder scheinbare Notwendigkeiten erfüllen sich in (späten) Beziehungszusammenhängen, mindestens dann, wenn wir nicht aufpassen.
Ein Tag, der alles ändert
Rückblende: Ein geheimnisvoller Fremder erscheint auf der Bildfläche, bringt ihre Gefühle durcheinander, setzt eine Kaskade an Ereignissen in Gang. Der Fremde, eine Schlüsselfigur aus Studentenzeiten, stürzt ihren Erlebnishorizont ins Chaos. Die bislang rein äußerlich (funktional) intakte Beziehung zu Ben bekommt erste Risse, ein Unfall scheint zu bestätigen: Sie wird von ihm hintergangen. Doch auch sie hintergeht Ben ihrerseits, verschweigt wichtige Vorkommnisse aus ihrem Leben. Könnte an dieser Stelle vielleicht noch eine Korrektur erfolgen, eine Aussprache manches kitten, so nimmt das Verhängnis doch seinen Lauf, indem Ruth Ben und Jenny ihre Vergangenheit offenbart und damit in einen öffentlichen Strudel gerät. Inzwischen als Mitglied des Ethikrats durch die Bundestagspräsidentin berufen, werden Papiere über ihr früheres Leben publik, distanzieren sich Kollegen, wird ihr nahegelegt ihre gerade erst errungene Mitgliedschaft im Ethikrat mindestens ruhen zu lassen, sollen Vorwürfe geklärt werden. Nichtlineare Ereignisse werden zu Kipppunkten, die binnen einer Woche ein ganzes Leben (auch materiell) zerstören können. Geschickt überwölbt Woelk den inhärenten Schuldvorwurf gegen Ruth mit den sich überschlagenen Vorfällen, die nicht nur der Protagonistin den Atem rauben. Bald steht sie vor den Scherben ihres Lebens.
Kunstfertig durchwirkt ist die Idee der Katharsis. Im aristotelischen Sinne gebraucht soll sie beim Publikum Furcht und Mitleid erwecken und damit in der Tragödie den Effekt der Läuterung von Erregungszuständen hervorrufen. Das Drama als pädagogische Herzensbildung und Erziehung zur menschlichen Reife. Darauf zielte später auch Lessing in seiner Hamburgischen Dramatik: der moralische Mensch als mitleidender Mensch, der sich von seinen Leidenschaften zugunsten der Vernunft und der Pflicht (ganz im Sinne Descartes) reinigt. Erst Goethe begrenzte dieses Konzept auf die Figuren selbst. Ziel ist die Verträglichkeit von Pflicht und Neigung, woraus Entwicklung möglich wird. Darin liegt der Kern beschlossen: Kann der hohe Anspruch von Moral und Ethik sich im Konfliktmoment durchsetzen oder unterliegt er? Oder steht in einem solchen Augenblick der Pflichtenethik ein anderes, gleichwertiges Konzept gegenüber, das zu einem Dilemma führt? Kann der Mensch dies durch Handeln überwinden? Eine Frage, die Ruth bis zum Schluss des Romans nicht verlässt.
Woelk formuliert griffig, die gestreiften philosophischen Themen bleiben anschaulich, im Detail verlieren sie sich ohnehin nicht.
Ingo-Maria Langen, Juli 2023