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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Mit Dolchen sprechen

Karl Heinz Bohrer
Mit Dolchen sprechen
– Der literarische Hass-Effekt –

Suhrkamp Verlag, Berlin, 2019

Ders.
Was alles so vorkommt
– Dreizehn alltägliche Phantasiestücke –

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021/2022

Was anders als die Liebe?

Sprechen wir über die Gestaltungskraft, ja Gestaltungsmacht des Menschen, sprechen wir über Emotionen. Ihre bekanntesten Ausdrücke der Gesichtsmimik sind: Freude, Überraschung, Angst, Wut, Ekel, Trauer, Verachtung. In der Geschichte des Theaters etwa im alten Griechenland oder in Japan bediente man sich für die rollenspezifischen Ausdrücke einer Figur oft der Maske. Im japanischen No- oder Kabuki sollten so die stilistischen Mittel der Farce oder der brutalen kriegerischen Auseinandersetzung besonders hervorgehoben werden. Die Basisgefühle zeichneten den Charakter der Maske und damit die Rolle des Schauspielers. Erstaunlich ist, dass die moderne Forschung Physiologie und Mimik in der Zusammenschau ähnlich beschreibt wie sie uns in den Masken von vor über tausend Jahren bereits begegnen. In der antiken Dramentheorie, etwa in der Poetik des Aristoteles, zielten die Dichter wie Sophokles, Euripides oder Aischylos darauf ab, beim Publikum eleos und phobos hervorzurufen, um über eine Katharsis einen Reinigungsprozess von den eigenen Leidenschaften zu initiieren. Theater war in diesem Sinne durchaus auch eine pädagogische Veranstaltung zur Bürgerbildung wie zur Herzensbildung des Einzelnen.

Diese Doppelbesprechung befasst sich mit zwei (scheinbar) divergenten Themen:

  1. Mit der literarischen Form der Hass-Rede, ihrer Funktion und Wirkung. (Mit Dolchen sprechen)
  2. Mit dem Ressentiment, das als abgeschwächte Form der Feindseligkeit und Abneigung gilt, jedoch entscheidende Elemente mit Hass in abgewandelter Form („Verpackung“) verbindet. (Was alles so vorkommt – Kein abstoßendes Gefühl: Ressentiment)

Soweit es die genannten Basisemotionen anbelangt, sind Liebe und Hass nicht explizit genannt. Sie gelten als Gegensatzpaar, Liebe als wertschätzendes und zuneigendes Element, Hass als feindseliges, ablehnendes in der oft besonderen Kombination von Verachtung, Wut und Ekel, anthropogen und interkulturell gleich. Phylogenetisch für unseren Zusammenhang interessant ist, dass die mimischen Ausdrücke negativer Emotionen (besonders in ihrer Kombination) vielfältiger sind. Betrachten wir etwa Ekel und Verachtung im Gesichtsausdruck, so lässt sich leicht ablesen, dass die Zornesfalten zwischen den Augen, kleine Pupillen, gespannte Muskulatur, gepresster Mund u.a. auf eine aggressive Situation hindeuten. Oder Ekel und Verachtung gepaart mit Arroganz: Mundwinkel nach unten gezogen, abschätziger Blick, Abscheu zeigend. Wir zeigen diese Prägemuster, die einerseits über die genetische Anlage, andererseits über unsere Sozialisation ausgebildet werden. Treffen wir frühzeitig auf ein offenes Umfeld, das Extrovertiertheit belohnt, zeigen die BIG-5-Merkmale, die sich zeitlebens nicht verändern, einen aufgeschlossenen Menschen, der sich künstlerisch versucht, viel liest und sich in praktischen Arbeiten ausprobiert. Der Gegenentwurf verbindet sich mit strengem Pflichtbewusstsein, Gehorsam, Pünktlichkeit, Arbeitstreue. Personen mit hoher Neigung zu Verträglichkeit meiden Konflikte, suchen nach Harmonie und Bindung und verurteilen Aggression. Entscheidend ist nun wie das bewertet wird: Emotionale Stabilität oder Labilität deuten darauf hin, dass wir unterschiedlich stark auf unser soziales Umfeld angewiesen sind, um uns verorten zu können. Die Gewissenhaften, emotional stabilen sind häufig im Beruf erfolgreicher. „Die fünf Persönlichkeitsmerkmale wirken sich allerdings auf die gesamte Lebensführung aus. Sind Menschen offen oder verschlossen? Leicht zu verunsichern oder nicht aus der Ruhe zu bringen? Ist ihnen Pflichterfüllung wichtig, Fürsorge oder Autonomie? Oder alles zusammen? Der Schritt von diesen grundlegenden Charaktermerkmalen zu moralischen und politischen Vorlieben ist nicht weit.“ (Philipp Hübel: Die aufgeregte Gesellschaft) Unser emotionales Erleben ist weitgehend biologisch angelegt. Gefühle wie Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel, Scham, Gewissensbisse, Neid, Eifersucht oder Hoffnung sind Basiserlebnisse, die wir früh kennenlernen und die wir später kulturell überformen. Von besonderem Interesse sind dabei Angst und Ekel, weil sie nachhaltigen Steuerungscharakter entfalten. Angst bestimmt uns dazu, vorsichtig zu sein, uns mehr als nötig rückzuversichern, möglicherweise uns zu bewaffnen. Tunnelblick, Verteidigungsstrategie, Freund-Feind-Denken. Wir schließen uns in der Enge ein. Reagieren irrational. Verfallen falsch-positiv oder falsch-negativ Zuordnungen. Und der Ekel, der inzwischen ein persönliches Warnmerkmal jenseits einer körperlichen Verunreinigung ist, treibt uns in eine politische Polarisierung von allem das fremd, unseren Werten und der unserer Gruppe widersprechend ist. Zugehörigkeit ist hier der Schlüssel: Wir teilen die Werte der Gruppe, um nicht ausgeschlossen zu sein und sichern so unser Überleben nach innen wie nach außen (Feinde). Das ist Stammesdenken. Der Stamm ist aber immer noch unsere Basis. Soziologisch durchaus different: progressive Eliten treffen sich in Zirkeln, die multiethnisch und demokratieoffen sich auch um kleinere Strömungen in der Gesellschaft sorgen. Konservative reagieren auf die Komplexität und globale Vernetzung mit Abschottung und der Verteidigung der Scholle (ihrer Werte). Die Dynamiken beim Aufeinandertreffen dieser Gruppen können Ekel hervorrufen. Paart dieser sich mit Schuld, weil beim Gegenüber ein (objektives) Vergehen beobachtet wurde, entsteht daraus Abscheu. Tritt Aggression hinzu, sind häufig Übersprungshandlungen zu beobachten.

  1. Die Hass-Rede

Diese sozio-emotionale Anamnese als Folie axiomatisiert, setzt Bohrer in „Mit Dolchen sprechen“ gleichsam voraus. Sein Blick richtet sich auf die literarische Ausprägung der „Hass-Rede“ und ihre damit verbundenen Implikationen. Zwei Charaktere sollen vorliegend berücksichtigt werden: der des Tyrannen und jener des in die Irre laufenden humanistisch-altruistischen Persönlichkeit, die mitmenschliche Lebenszüge gegenüber utilitaristischen in den Vordergrund stellt: Richard III vs. Romeo Montague. Das Psychogramm Richards als narzisstische, zutiefst verunsicherte Person, seiner sozialen Umgebung misstrauend, sucht er kontinuierlich nach Lüge und Verstellung, obgleich diese gerade seine Instrumente der Macht über Dritte sind. So entfaltet sich im Zuge der Handlung die Wort-Rede als wirkmächtiges Instrument, das im Publikum besonders nachklingt. Geht es dabei doch um Entgrenzung, Aufhebung der moralischen und ethischen Regeln, schließlich um Enthemmung. Bohrer: (…) „Man hat das, was über rein historisches Wissen hinausgeht, als das eigentlich Entscheidende der Hass-Rede zu verstehen. Ihr grausames Bewusstsein ist so extrem in Ausdruck und Intensität der gewählten Worte, dass sie die Vorstellung des Hörers, Lesers und Zuschauers in eine unbegrenzte Bewegung setzt.“ (51) Selbstreferenziell kommentiert Shakespeare im 2. Akt von Heinrich VI über Richard die Gewaltsprache: „Wenn wir die grause Zeitung, großer Warwick / Erzählen sollten und bei jedem Wort / Mit Dolchen uns zerfleischen, bis zum Schluß: / Der Worte Pein wär´ ärger als der Wunden. / O tapfrer Lord, der Herzog York ist tot! (Shakespeare, Sämtliche Werke, in der Übersetzung von A.W. Schlegel, L. Tieck, Dramatische Werke, Bd. 2 BGG, Frankfurt, 613). Die Sprache soll sohin die Wirklichkeit übertrumpfen, zur Tat(Rede) bleibt nur noch ein kleiner Schritt. Bohrer: „Hass-Rede ist hier nicht nur ein historisches oder moralisches Paradigma. Sie entflammt die überraschten Phantasien des Zuschauers oder Lesers weit über das faktische Gerüst des Dramas hinaus.“ Ein Kunstgriff Shakespeares ist, dass die Hass-Rede technisch zwar auf das Publikum zielt, dramaturgisch jedoch auf die Figur selbst: „Von Natur um Bildung falsch betrogen, / Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt / In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig / Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend, / Daß Hunde bellen, hink ich vorbei / (…) / Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden / Und feind den eitlen Freuden dieser Tage. / Anschläge macht‘ ich, schlimme Einleitungen, / (…) / Um meinen Bruder Clarence und den König / In Todfeindschaft zu verhetzen.“ (König Richard III, ebd., 679f.) Lustvoll und mit Genuss wird zelebriert, was anderen zu Schmach und Schande gereichte, wird mittels überbordendem Selbsthass zu literarischer Größe emporgehoben, ist dieser Selbsthass doch zugleich ein Triumph, der das Publikum erschaudern lässt. Dessen Erschütterung umso größer ist, als der „Held“ auch diese Welt zerstören will: er verwirft die Zerstreuung er einfachen Leute. Tanz, Liebeshändel, schlicht das normale Leben. Das Publikum wird vom Mitverschwörer zum Teilnehmer am eigenen Untergang, sollte Richard König werden. Diese Botschaft muss in Schockstarre führen, lässt sie doch keinen Ausweg mehr zu. So verklammert Shakespeare geschickt über die semantische Bedeutung hinaus ihre politische Adresse, die willigen Helfershelfer werden dereinst selbst untergehen, wenn ein vom Selbsthass getriebener Herrscher sie regiert. Die Niedertracht könnte nicht größer sein: zur persönlichen Befriedigung seiner Hass-Bedürfnisse ist Richard bereit ein ganzes Volk mit in den Abgrund zu stürzen. Sowohl Tragik als auch Ironie liegen darin beschlossen: Wer erkennt des Schurken Hinterhalt?

Dunkle Träume, apokalyptischer Vernichtungswille, beide werden zugespitzt und fast real erfahrbar im Dialog zwischen Lady Anne und Richard: „Verflucht die Hand, die diese Risse machte! …“ (683 ff.) Doch das schreckt ihn nicht ab, im Gegenteil erfrecht er sich, ihr zu sagen, was ihn umtreibet: „Euer Schlafzimmer.“ (686) Doch hier geht es nicht um die psychologische Dimension von Hass und Verachtung versus Lust und Zynismus – der semantische Bedeutungsgehalt geht darüber hinaus: „Die Gewalt der Bilder des ausdrücklichen Hasses gegen Richard zeigt sich sowohl in den lange Reden aller weiblicher Mitglieder der Häuser York und Lancaster als auch in den kurzen Befehlen Richards, eben noch scheinbar Verbündete hinzurichten, wobei Richards Verlangen nach frischen Erdbeeren auf der Abendtafel sich vereint mit dem Interesse am abgeschlagenen Kopf des unglücklichen Hastings; beide zusammen bilden ein grässliches Oxymoron.“ (Bohrer, 59)

Vorausdeutung

Bevor wir zum Abschluss mit Richard schreiten, eine kleine Vorausdeutung auf das Thema Ressentiment: Gegen Ende in der dritten Szene, fünfter Aufzug spiegelt sich Erkenntnis in Richards Gedanken und bleibt doch verhaftet im Blick auf die Welt aus sich als ihre Selbstreferenz (769f.): „Was fürcht‘ ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand. / Richard liebt Richard: das heißt, Ich bin Ich. / Ist hier ein Mörder? Nein. – Ja, ich bin hier.  / So flieh‘! – Wie? Vor dir selbst? Mit gutem Grund: / Ich möchte rächen. Wie? Mich an mir selbst? / Ich liebe ja mich selbst. Wofür? Für Gutes / Das je ich selbst hätt‘ an mir selbst getan? / O leider, nein! Vielmehr hass‘ ich mich selbst, / Verhaßter Taten halb, durch mich verübt. / Ich bin ein Schurke, – doch ich lüg‘, ich bin’s nicht. / Tor, rede gut von dir! – Tor, schmeichle nicht! / Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen, / Und jede Zunge bringt verschiednes Zeugnis, / Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken. / Meineind, Meineid, im allerhöchsten Grad, / Mord, grauser Mord, im fürchterlichsten Grad, / Jedwede Sünd‘, in jedem Grad geübt, / Stürmt an die Schranken, rufend: <Schuldig! Schuldig!> / Ich muß verzweifeln. – Kein Geschöpfe liebt mich, / Und sterb‘ ich, wird sich keine Seel‘ erbarmen: / Ja, warum sollten’s andre? Find ich selbst / In mir doch kein Erbarmen mit mir selbst. / Mir schiens’s, die Seelen all, die ich ermordet, / Kämen ins Zelt, und ihrer jede drohte / Mit Rache morgen auf das Haupt des Richard.“

Bohrer wirft aus seiner Sicht zu Recht die Frage auf, ob die kulturtheoretische Deutung von Shakespeares Helden als bloße Widergänger von Machiavellis ‚Principe‘ seien? Diese populäre Sicht verkürzt seines Erachtens jedoch die Ausdeutung. Anders gewendet: ihre literarisch-semantische (rhetorische) Komposition als eigener Bedeutungsgehalt kommt dabei zu kurz: „In Shakespeares Sprache verwandelte sich dessen aggressiver Machtdiskurs in ein imaginäres Idiom, das unsere Imagination fesselt.“ (63) Das heißt: Sowohl die Sprachkonstruktion als auch deren Bilder formen in unserem Geist eine Wirklichkeit, die uns buchstäblich ergreift.

Zwischenstück (Othello)

Ambivalenz und Komplexität spiegeln auch hier die Hass-Reden, insbesondere jene Jagos. Zu was ein Mensch in seiner Niedertracht imstande ist, zeigt Jago exemplarisch. Othellos Schuld an der eigenen Eifersucht legt die Basis für den Höllenritt Desdemonas, in dessen Verlauf sie (wiederum niederträchtig von Othello selbst) den Tod findet. Sie, das Opfer beider maliziösen Männer, zeigt wie die verführerische Kraft der Schönheit im Menschen überbordende, kaum mehr zügelbare Bosheit hervorrufen kann, fühlt der Täter sich zurückgesetzt. Zugleich paart sie sich bei Jago mit Verachtung für die vorgeblich schwülstige Arroganz Othellos. Eine augenfällige Parallele zu Richard III, dessen Hass sich gleich einem Schwert hinter einem Lächeln, unter seinem Zynismus Lady Anne gegenüber verbirgt. Hier ist es eine reservatio mentalis: bemüht im Ton versteckt Jago seinen Hass gegen Othello hinter der Maske des guten Kameraden, um desto nachdrücklicher im Eigentlichen als Intrigant seinem Werk nachzugehen. Das Aufwieglerische in Jagos Rede wird zum Zündwerk zwischen Besinnung und Raserei, lässt Othello sich von diesem überzeugen, Desdemona habe ihre Ehre freiwillig hingegeben. Bohrer: „Othellos Rede entfaltet sich nicht in einem realistischen Kontext und erreicht gerade dadurch ihre Fallhöhe. Othellos Eifersucht hat sich vor der Mordszene im fünften Akt vom plausiblen Ressentiment oder von plausibler Trauer in eine nie zuvor so ausgedrückte autonome, keiner Begründung mehr bedürftige semantische Gewalt verwandelt. Deshalb können letzte Sätze an Desdemona zwischen Mordrede und Liebesrede hin und her wechseln. Dass der Mord einem Irrtum entspringt, birgt einen eher sentimentalen Effekt, der nicht den tragischen Anspruch seines Erfinders begründet. Das Tragische liegt in der Selbstüberhebung durch die Worte.“ (75) Die Charakterfrage tritt demgegenüber nachgerade in den Hintergrund, sind es doch die Worte, die als Gift die Tat reifen lassen.

Schlussstück (Romeo)

Shakespeare beschreibt „die Art von Mensch, die in unruhigen Zeiten aufsteigt, an die niedersten Instinkte appelliert und aus den tiefsten Ängsten der Zeitgenossen schöpft. Eine durch Parteiengezänk entzweite Gesellschaft ist für ihn besonders anfällig für Populismus. Dazu gibt es immer Anstifter, die den Ehrgeiz des Tyrannen entfachen, und Ermöglicher, die zwar die Gefahren sehen, die damit verbunden sind, aber meinen, sie könnten den Tyrannen kontrollieren und von seinem Angriff auf die etablierten Institutionen profitieren.“ (S. Greenblatt: Der Tyrann, Siedler 2019, 204f.) Auch im Schlussstück zu Romeo & Julia bekämpfen sich zwei angesehene Patrizierfamilien Veronas, die ohne Rücksicht auf Verlust ihre Machtambitionen durchsetzen wollen. So beiläufig wie versehentlich gerät Romeo Montague zwischen die Fronten. Hier erlebt die Hass-Rede ihre Dialektik als Kontrapunkt zur Liebesrede, verdichet in ihrer expressiven Emotionalität als Kunstgriff für Intensität. Bohrer: „Nicht von ungefähr ist der wilde, aggressive Tybalt aus der Familie Capulet die theatralisch wichtigste Figur neben dem Liebespaar, ja, in modernen Inszenierungen übertrifft seine Erscheinung oft die des Romeo. Tybalts erstes Wort in der ersten Szene des ersten Akts, seine Antwort auf die Bitte eines Montague-Neffen um Frieden lautet:“ (76) „Was? Ziehn und Friede rufen? Wie die Hölle / Hass‘ ich das Wort, wie alle Montagues / Und dich! Wehr‘ dich, du Memme! [Sie fechten]“ (Shakespeare, Romeo & Julia, Übers. wie vor, Bd. 3, 182) Ein Fechtkampf mit Tötungsabsicht, ausgedrückt zuvor im Affekt des Hasses. Mit dem ersten Monolog Romeos tritt der dialektische Charakter in den Vordergrund (ebd. 185): „Haß gibt hier viel zu schaffen, Liebe mehr. / Nun dann: liebreicher Haß! streitsücht’ge Liebe! / Du Alles, aus dem Nichts zuerst erschaffen! / Schwermüt’ger Leichtsinn! ernste Tändelei! / Entstelltes Chaos glänzender Gestalten! / Bleischwinge! lichter Rauch und kalte Glut! / Stets wacher Schlaf! dein eignes Widerspiel! – / So fühl‘ ich Lieb‘, und hasse, was ich fühl‘!“ Das Charakteristische des Oxymorons bei Shakespeare bleibt bis zum Schluss erhalten, es löst sich nicht im Paradoxon auf: „Denoch verhält es sich nicht so, dass Liebe rhetorisch als Moral zur Überwindung des Hasses, wie sie am Ende zelebriert wird, entwickelt würde. Vielmehr vollstreckt die Intensität beider Empfindungen in den Worten derer, die sie aussprechen, das, was hier artistisch-sprachlich von Rang ist: Romeos Liebesrede über den Hass (II, 2) und Tybalts gewaltsamer Tod durch die Hand Romeos im Rausch derselben leidenschaftlichen Hass-Empfindung (III, 1).“ (Bohrer, 79) Und weiter: „Romeo musste sich nicht bloß als mutig erweisen, sondern musste, der Hass-Rede mächtig, zum Schuldigen werden können! Erst als Schuldiger ist er ein tragischer Held geworden, der zweimal jemanden erstochen hat, bevor er selbst stirbt.“ (Bohrer, 82) Sohin ist auch die klassische Vorgabe der antiken Tragödie erfüllt: der Held wird unschuldig vom Schicksal verführt und fällt.

  1. Das Ressentiment

(Kein abstoßendes Gefühl: Ressentiment, in Bohrer – Was alles so vorkommt)

In poetologischer Hinsicht beschreibt Bohrer in der Analyse (s.o.) die Dominanz der literarischen Sprache als Mittel der Hervorhebung der Hass-Rede zur Überformung der rein poetischen Ausstrahlung. Die emotional rückgebundene Hass-Rede verleiht einer Szene mehr Intensität, Authentizität und damit mehr Lebenswirklichkeit.

Jene Lebenswirklichkeit zeigt seit Nietzsche und seiner Kritik am Christentum auch eine Typologie des Hasses auf, die aus einer unterlegenen sozialen Position heraus geboren wird: „Zum Hass gehören Angst vor und Ehrgeiz gegenüber dem Gehassten. Und damit Eifersucht und Neid.“ (Bohrer, 33) Das angeborene Gefühl nach Höherem zu streben, aber von den Niederungen der Lebensumstände zurückgehalten zu werden erzeugt diese Verbindung. Der „vornehmen Moral“ der Erfolgreichen steht so die minder-wertige Moral der Zukurzgekommenen gegenüber. Ein nutzvolles Instrument zur populistischen Manipulation. Interessant für diesen Zusammenhang sind die graduellen Abstufungen beim Ressentiment, das bereits in relativ schwacher Ausprägung „Aversionen“ (Bohrer) hervorbringt.

Bohrer schildert zwei Charaktere, die auf je eigene Weise Ressentiment Verhalten zeigen. Der eine mittels einer obsessiven Persönlichkeit mit abstoßenden Verhaltensweisen, weinerlich bis anmaßend, überheblich und zugleich unsicher. Obschon in gewisser Weise erfolgreich, blieb ihm die ersehnte Anerkennung dennoch versagt: „Der Umstand aber, dass er von Leuten, auf die es ankam, häufig übersehen wurde, brachte ihn dazu, in zuweilen obszöner Weise von ihnen zu sprechen, sie zu beschreiben. Obszön nicht im sexuellen Sinne, doch metaphorisch.“ (36) Die Welt ein andauerndes Bedrohungsszenarium für einen intelligenten, aber im Kleinbürgerlichen verhafteten Menschen, an der er sich fortwährend rächen musste. Der andere, ausgestattet mit lexikalischem Wissen, mit leichtem Florett ein Gespräch führend, und im Gestus ein braver Musterschüler. Bei ihm schwelte eine „nicht befriedigte Eitelkeit“, die auch Anerkennung nicht stillte und sein Ressentiment gegen die (politische) Welt fütterte. Kritische Zeitdiagnose lag ihm am Herzen, doch sobald „er sich darin nicht so, wie es ihm vorschwebte, entfalten konnte, entwickelte er a priori ein das Gegenüber verdächtigendes Bewusstsein.“ (38) Daraus entwickelte sich kein Zorn des Achill, wohl aber ein beständiges Salben seiner unverstandenen Seele mit dem „Öl des Ressentiments“. Dieser im Verdacht steckenbleibende Typus scheint letztlich mit nur einem einzigen großen Grund auszukommen.

Bohrer erzählt ein Erlebnis aus seiner Göttinger Studienzeit: auf Quartiersuche bei einer Vermieterin gerät er an einen Kommilitonen. Pingelig, abwehrend, widerborstig kanzelt der ihn aufgrund eines kleinen Missverständnisses ab. Hier trifft (klein)bürgerlicher Moralkodex der Nachkriegszeit auf Prinzipientreue und Schweigen als Strafe. Bohrer taucht ein in die Psychologie dieser Begebenheit und präpariert die bigotte Moral heraus, die angerostete Konvention, die Vorbehalte gegen die fremde Welt des Eindringenden: das Ressentiment als Schutzraum des Bewährten, der Anständigen, provoziert von einem Regelbrecher. Was treibt diesen Musterschüler/studenten an? Unter welchem Druck gebeugt bewegt er sich? Wächst zu einem Spießbürger heran? Welches gefühlte Unrecht muss er erdulden, warum hört seine stille Klage niemand? Er muss entsetzt und misstrauisch werden, zeigt jemand ein ganz freies Verhalten, das nicht von diesem Druck zeugt. Und dieses Gefühl des unterlegenen Seins wurde in der alten deutsch-französischen Rivalität als Ressentiment ausgelegt, als Hass gegenüber der überlegenen französischen Kultur. Vom Ressentiment Verklemmte, Wut unter einem Schleier von Demut, Abstoßung und Verachtung, Selbstqual und die Lust darauf anderen ebensolche Qualen zuzufügen. Hier wird „Unterlegenheit“ insinuiert, zelebriert, zur Kunstform erhoben, aber auch mit Hass angestachelt, bleibt verkniffen, unausgesprochen, triggert in seiner Hinterhältigkeit jedoch niedere Instinkte und ebenso niedere Moral. Misstrauen als Lebens- und Elendsform. Es fehlt an Mut, Souveränität durchaus mit einer (oder verschiedenen) „offenen Flanken“ leben zu können. Das ist diesen Menschen nicht gegeben, sie bleiben Hintertreiber, Gerüchteerzähler, üble Nachreden streuend, sich freuend am Niederen, dem sie selbst so hilflos ausgeliefert nicht entkommen.

Da nützt auch alle (Kardinal)Tugend nicht. Zu Beginn bereits erwähnt arbeitet Aristoteles in seiner Rhetorik (II 8, 1385ff.) zum Thema Mitleid mit sechs Elementen: dem Schmerz (Zorn / Furcht) über ein offensichtliches Übel, von dem jemand getroffen wird, der es nicht verdient, bedroht von Leid und Vernichtung, gepaart mit der Erwartung man selbst (oder die Liebsten) könne davon (alsbald) davon ebenso getroffen werden. Hierin liegt das klassische Verständnis von Mitleid geborgen. Davon abweichend erkennen wir heute zumeist auch bei selbst verschuldetem Leid je nach Intensität durchaus Mitleid an, und Hilfe aus der misslichen Lage muss nicht immer kostenlos erfolgen. Bereits die Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit, Klugheit) legen als Charakterelemente Korrekturmöglichkeiten nahe, für sich und Dritte das richtige Maß in allen Teilen des Lebens zu finden (und zu beherzigen). Auch Kant geht in seiner Tugendlehre nicht über das Mitleid als indirekte Pflicht hinaus, versteht es aber wohl als Anspruch es zu kultivieren. Eines jeden Menschen Pflicht endet jedoch da, wo sich Betroffene nicht helfen lassen wollen oder auch wo es mir als Person unmöglich ist, weil es meine Fähigkeiten übersteigt; hier muss mich die Besonnenheit davon abhalten mir selbst Übel zuzufügen.

Lektüren, deren universelle Bedeutungsgehalte uns ein Leben lang begleiten können.

Ingo-Maria Langen, August 2023