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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Manifest für die Tiere

Corine Pelluchon
Manifest für die Tiere
Aus dem Französischen von Michael Bischoff

C.H. Beck, München 2020
125 Seiten, 12.- €

Feature

Corine Pelluchon, Professorin für Philosophie an der Universität Paris-Est Marne-la-Vallée, forscht zu Moralphilosophie, Politischer Philosophie und Fragen der angewandten Ethik über die Felder Bio-, Umwelt- und Tierethik. 2020 wurde sie Trägerin des Günther Anders-Preise für kritisches Denken.

Krieg um das Mitleid (Jacques Derrida)

Die Zeiten sind herausfordernd: Die Pandemie hält uns in Atem (oder unter Verschluss), die Klimakrise ist in vollem Gange, die vielen regionalen Krisen und Kriege lähmen eine proaktive Zukunftsentwicklung zusätzlich, nun noch die Anschläge von Paris und Wien. Da scheint ein Thema wie „Tierethik“ eher deplatziert. Doch bei genauem Hinsehen ist ja alles mit allem verbunden. Der Markt in Wuhan ebenso wie unsere Intensivtierhaltung, die anthropogene Erderwärmung. Und eben mit unser aller Verhalten auf dieser Welt. Unrühmliche Beispiele zeigt die Corona-Krise zuhauf.

Sofern die Überlegung greift, dass Krisen immer auch Chancen beinhalten, dann ist diese Zeit sicherlich dazu geeignet. Pelluchon entwirft ihr Manifest als weiten Bogen der Zivilisationsgeschichte beginnend mit der Abschaffung der Sklaverei in Amerika und den damit langfristig möglichen Zuwächsen an Wohlstandsgewinnen. Lincoln begriff die damalige Zeit als ebenso herausfordernd und ihm war bewusst, dass die Abschaffung eines gesellschaftlich und wirtschaftlich so heiklen Umstands erheblichen Widerstand erzeugen musste. Pelluchon zitiert: „Mitbürger, wir können der Geschichte nicht entrinnen. (…) Der Weg, den wir gehen müssen, ist klar, friedlich und großzügig.“ Mithin geht es um einschneidende Veränderungen in unserer Gesellschaft, die nicht nur auf Widerstand und Ablehnung stoßen werden, sondern auch erhebliche Mittel verschlingen, um zu einem grundlegenden Umbau zu kommen. Es geht um nichts weniger als die Abschaffung des Kapitalismus, die Einführung einer neuen, werthaltigen Form des wirtschaftlichen Miteinanders und einer Ressourcenbegrenzung, die gerade die Industriestaaten erheblich verändern dürfte. Damit verbunden soll eine veränderte Form der Gerechtigkeit gegen die Natur wie auch gegen uns erfolgen, die begriffliche wie auch die praktische Neugestaltung des Naturrechts.

Es gibt kein Erwachen ohne Verwunderung

Unsere modernen (oder auch postmodernen) Gesellschaftsordnungen beruhen auf der Leitidee eines Gesellschaftsvertrages, die neben der fundamentalen Gewaltenteilung den Willen des Souveräns als oberstem Richter in Wahlen Legitimität auf Zeit verteilt. Auf diesen Vertrag zielt die Autorin, wenn sie fordert, dass wir uns neu ausrichten müssen, gerade im fundamentalen Bereich der Gerechtigkeit einer Staatsordnung. Was sagt der Umgang mit Tieren in unserer Gesellschaft über uns selbst aus? Welche Schuld laden wir tagtäglich auf uns? Warum sehen wir nicht hin, legen alte Gewohnheiten nicht ab, wo sie doch als schädlich bekannt sind? Es ist schon widersprüchlich: Einerseits neigen wir zu moralischem Rigorismus, andererseits dann zu dessen Relativismus, wenn wir uns in der Masse verstecken können, allgemein anerkannte „Gründe“ uns davor schützen, uns bekennen zu müssen. Das gilt zumal dann, wenn die betroffene Gruppe nur eine kleine oder vielleicht gar keine Lobby hat – wie die Tiere. Die Zeit umzudenken (und zu handeln) ist längst da, die Klimakrise zeigt es unabweislich.

Das Elend der Tiere ist bekannt: gleichviel ob in den Schlachthöfen für unseren Gaumen, in der Verletzung der Biodiversität, dem Raubbau der Fläche bis eben hin zum Virus als Zoonose. Pelluchon konstatiert nüchtern: „Wir führen Krieg gegen uns selbst.“ Es ist ein Krieg um Mitleid und Mitgefühl, das wir verweigern. Wir leben in unseren Gesellschaften immer noch in dem Wahn von Beherrschung, Ressourcenausbeutung,  Machtvollzug, Profitgier. Obgleich die Zeichen längst auf anderes hindeuten. Denn wir klammern uns an die gelernte Überzeugung, dass Tiere zu unserer willfährigen und damit folterhaften Verfügung stehen, da sie ja unserem (!) Nutzen dienen. Die Eigenschaft eines fühlenden, empfindenden Lebewesens sprechen wir ihnen zwar nicht mehr rundherum ab, aber es ist eben doch gerade bei „Nutztieren“ von untergeordneter Bedeutung, demgegenüber wir bedeutende Wirtschaftszweige auf der Folter aufbauen. Schonungslos formuliert die Autorin: „Um die panischen Angstschreie der Tiere, ihre verstümmelten und malträtierten Leiber, ihre unermessliche Frustration emotional und körperlich zu empfinden, muss er nackt und schutzlos vor die Tiere treten, die nackt und nahezu schutzlos unseren mit Maschinen und Werkzeugen bewaffneten Händen ausgeliefert sind.“ Man kann nur hoffen, dass ein solches sich stellen kathartische Wirkung entfalte. Dann würde die Ver-Wunderung eintreten können.

Doch einstweilen können wir nur appellieren und feststellen: uns fehlt jegliche Demut den Tieren gegenüber. Wir sind ihnen schlechte „Herren“ und dienen uns selbst damit ebenso schlecht. Denn der Grundgedanke der Ausbeutung lautet: das Leben der Tiere hat keinen Eigenwert. Das ist purer Anthropozentrismus, der aus dem Wahn der Alles-Verfügbarkeit dem Menschen erwächst, dessen prototypisches Produkt derzeit (noch) ein Operetten-Präsident namens DT ist. Weder die Logik (ob formal, modal, mathematisch usw.) noch Quellentexte (Bibel, Traktate usw.) können diesen Habitus stützen. Er ist Hybris.

Gemischte Gemeinschaft

Mit emotionaler Intelligenz lässt sich ein Ansatz entwickeln, der nicht im Mitleid stecken bleibt, sondern in ein Handeln für die Würde der Tiere und ihre Unversehrtheit mündet. Wir müssen unsere Haltung gegenüber der Natur ändern. Das bedeutet dann: einen politischen Horizont eröffnen, vor dem wir die Rechte der Natur neu verhandeln. Vergleichbar dem Betreuungsrecht für Personen, die sich nicht im eigenen Interesse artikulieren können, müssen wir Sprecher, Betreuer, Anwälte, Mediatoren haben, die diese Interessen vertreten und zu einem gesellschaftlichen Ausgleich im Sinne der Würde der Tiere bringen. Das wird wirtschaftspolitische Transferkosten produzieren: Geld, das für einen Strukturwandel notwendig ist, um für Betriebe und Mitarbeiter einen Übergang zu schaffen aus der Tierverwertung hin zu nachhaltigen ökologischen und pflanzlichen Ernährungsmustern; weg von Attraktionszauber für wirtschaftliche Profite (Delfinarien, Zoos, Zirkus, Stierkampf), um die Ausbeutung der Tiere zu reduzieren und schließlich abzuschaffen. Dazu braucht es ein Entwicklungsmodell, das jenseits kapitalistischer Ausbeutungsmuster auf partizipatives und damit teilendes (nicht: tauschendes) Handeln ausgelegt ist.

Allerdings sind Tiere keine Bürger, wohl aber politische Subjekte und insofern Träger von Rechten, die wir in Verfassungsrang heben und über Klagewege auch durchsetzen können. Daraus entsteht eine gemischte Gemeinschaft, ähnlich derer mit Personen, die sich nicht selbst artikulieren können. Mit Verweis auf das Zoopolis-Modell von Donaldson und Kymlicka zielt Pelluchon darauf ab, den Tieren eine politische Rechtsträgerschaft in juristischer Ergänzung von Verfassung und einfachen Gesetzen zuzubilligen, die in eine erweiterte Gerechtigkeit der Gesellschaft mündet. Das zu ändern liefe über den Gesellschaftsvertrag. Als nächster Schritt wäre eine Repräsentation über Beauftragte und Beratungsstellen in der Demokratie sicherzustellen. Ziel: Die Erhaltung und Verbesserung des Gemeinwohls im Zusammenspiel mit den Interessen der Tiere. Schließlich soll die politische Öffentlichkeit etwa über die Gründung einer Tierpartei dafür garantieren, dass die Interessen der Tiere im öffentlichen Bewusstsein bleiben und (philosophisch, künstlerisch, sozial) bearbeitet werden.

Ein Gedanke zurück: Die Abschaffung der Sklaverei fand nicht in einem Zuge statt, sie war eine Stufenentwicklung. Es galt Widerstände zu überwinden, deren Wurzeln tief gründen und die noch heute in den USA zu akuten Ausbrüchen führen (Black Lives Matter). Gleichwohl konnte die Sklaverei überwunden werden, was gesellschaftliche Potentiale eröffnete. Ähnliches wäre hier zu erwarten: Der Rückbau von gerodeten oder verbrannten Flächen zum Anbau von Palmöl oder zur Haltung von Rindern, die Abschaffung von Monokulturen, Wiederaufforstung von Biodiversität, das würde sich langfristig rechnen für den Menschen. Es würde eine andere Ernährungsweise beinhalten, die aber dem Nutzen des Menschen entspräche. Es braucht eine Bewusstseins- und  Verhaltensänderung von Gesellschaft. Ansätze wie Unternehmen „Beyond Meat“ sind erfolgversprechend, ebenso die Umwelt- und Tierschutzbewegungen. Doch sie sind noch zu wenig, es muss viel mehr in Bildung und emotionale Intelligenz investiert werden, um die angedachten Ziele zu erreichen. Alternative Ansätze zur Messung von Wohlstand bringt etwa der seit 1990 gebräuchliche, aber nicht sehr weit verbreitete „Human Development Index“ der UNO. Die OECD veröffentlicht den „Better Live Index“ und fordert ein „inklusives Wachstum“, das Materielles weniger gewichtet. Seit 2013 legt eine Enquetekommission des Bundes einen Bericht an „Wohlstands- und Fortschrittindikatoren“ vor, die auch Kosten herkömmlichen Wirtschaftens gewichtet, etwa die Treibhausgasemissionen. Hier muss forciert geforscht werden, um Kriterien zu entwickeln, die ein inklusives Wachstum auch für Tiere als Mitgeschöpfe nachhaltig und gerecht machen.

Fazit: Ein kritischer Blick auf die Kritik Pelluchons erzeugt eine Replik, die eine Ausgestaltung einer passiv-bürgerlichen Funktion politischer Mitgliedschaft zumindest im ersten Schritt nicht zugänglich erscheint. Wohl aber gilt es zu berücksichtigen, dass wir bereits heute relationale Pflichten Dritten gegenüber eingehen. Dies auf Tiere zu übertragen wäre nur ein kleiner Schritt, der allerdings große politische Willens- und Gestaltungskraft voraussetzt. Zum Wohl speziesgemischter Gemeinschaften wäre zu wünschen Tiere politisch zu vertreten. Ein kritischer Anstoß zu transspeziesistischer Gerechtigkeit.

Ingo-Maria Langen, November 2020