Bernardine Evaristo
Mädchen, Frau etc.
Aus dem Englischen Tanja Handels
J.G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 2021 (Tropen)
507 Seiten, 25.- €
Bernardine Evaristo, mit brasilianischen, irischen und deutschen Wurzeln. Studium in kreativem Schreiben, Ph.D. 2019 erhielt sie als erste schwarze Schriftstellerin den renommierten Booker Prize für ‚Mädchen, Frau etc.“ (Wikipedia)
Tanja Handels, Studium der Anglistik, Komparatistik und Theaterwissenschaft u.a. in Birmingham und München. Stationen Übersetzerin, Lektorin bei der Atlas Gesellschaft für internationale Kommunikation und beim Hugendubel Verlag. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. (Wikipedia)
Wurzeln, die wuchern
Afrika hat vier Literatur-Nobelpreisträger ((W. Soyinka 1986, N. Mahfouz 1988, N. Gordimer 1991, J.M. Coetzee 2003), in diesen Tagen wird der fünfte Preisträger mit Abdulrazak Gurnah hinzukommen. Die Wahrnehmung afrikanischer Literatur erlebt mehr Aufmerksamkeit – und das verdient sie ohne Einschränkung. Nun ist Evaristo ein Kind europäischer Herkunft, wohl führt ein Familienstrang nach Nigeria. Die Gunst der Stunde, mehr Achtsamkeit gegenüber afrikanischer Literatur an den Tag zu legen, mag auch auf jene Schriftsteller ein gut ausleuchtendes Licht legen, die nicht allzu verwöhnt von der öffentlichen Wahrnehmung sind. Der Booker Prize hilft da sicher auch weiter, in diesem Jahr hat Evaristo ihn gewinnen können.
Bereits im Auftakt des Romans kommt etwas in Bewegung. Menschen von den Rändern der Gesellschaft, hier: besonders Schwarze Frauen aus Afrika oder der Karibik, kommen plötzlich in der Mitte der Gesellschaft an. Sie, die über Generationen Marginalisierten, erarbeiten und erstreiten sich ihren Platz in der Gesellschaft. Amma, Autorin und Theaterregisseurin, biegt auf die künstlerische Erfolgsspur mit ihrer Ur-Aufführung „Die letzte Amazone von Dahomey“ am National Theatre in London ein, nachdem ungezählte Irrungen und Wirrungen in ihrem Leben als exzentrische schwarze Künstlerin das nicht mehr hätten vermuten lassen. Ein Spiegel gesellschaftlicher Hässlichkeiten, dessen trübes Bild des Erfolgs sich über Nacht wandelt – scheinheilig! Schließlich bleibt Amma: Lesbe, promiskuitiv, Mama von Yazz, aufmüpfige Aktivistin, Gründerin eines Off-Theaters für People of Colour. Leicht selbstironisch wird sie später von sich sagen: „ich bin die Hohepriesterin des Beruflichen Durchhaltens geworden, in der Kapelle der Gesellschaftlichen Veränderung predige ich von der Kanzel der Politisch Unsichtbaren zur Gemeinde der An-den-Rand-Gedrängten und Längst-Bekehrten.“ Auch hier: die Großschreibung von Adjektiven ist mehr als ein „form-falsches“ Brechen der Erwartungshaltung des Lesers. Man könnte es als Polit-Programm der ewigen Aktivistin deuten, die selbst als Teil des Establishments, diesem (wie sich selbst) nicht über den Weg traut. Wer kennt schon zukünftige Wendungen in der Gesellschaft? – Doch zunächst kann Amma mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass die Premiere sogar den schärfsten Theaterkritiker Lobeshymen singen lässt, das Publikum ihr Stück in aller Munde trägt.
Die aufrechten Zwölf
Wir tauchen ein in unterschiedliche Herkunfts- und Familiengeschichten, unterschiedliche Kulturtraditionen, Inkulturationen, das sich Erwehren des Fremden im fremden Land, die Überzeugungskraft von Vor-Urteilen, die eine Gesellschaft aushalten muss, um letztlich doch zusammenzufinden und gemeinsam zu wachsen. Doch der Weg dahin ist beschwerlich.
Schwarze Frauen als Bühnenautorin, Supermarktleiterin, Bankerin, Aussteigerin, Lehrerin oder Schauspielerin – alle suchen ihre gesellschaftlich gesetzten Grenzen zu überwinden, ihrem sozialen und individuellen Stigma zu entkommen und können zugleich darauf verweisen, dass die Regierung nichts für sie bereithält. Sie müssen ihrem Leben selbst einen Sinn geben, sich anhand ihrer individuellen Fähigkeiten aus dem gesellschaftlichen Abseits herausarbeiten.
Da ist Dominique, die enge Freundin Ammas, die ihr Herz an Nzinga verliert, mit ihr in die USA geht und in einem Wimmin‘s Land eincheckt. Dort wird sie systematisch von der veganen, nichtrauchenden, radikalfeministischen Nzinga dominiert, in ihrer Würde erniedrigt. Als Amma sie eines Tages unangekündigt besucht, ist sie nahezu ein willenloses Anhängsel Nzingas geworden. Doch noch ruhen alte Kräfte in Dominique.
Oder Bummi, Caroles Mama, mit ihrem Mann aus Nigeria nach England emigriert, im Herzen immer Nigerianerin geblieben, sagt sie zu ihrer Tochter: „du bist Nigerianerin, nicht so eine nuttige kleine Engländerin (…).“ Bummi pflegt neben den nigerianischen Rezepten (die sich aufregend lesen) ihre Vorurteile gegen inkulturierte Britishness und versucht Carole mit einem nigerianischen Akademiker zu verkuppeln. Ihre Radikalität einheimischen „Gewohnheiten“ gegenüber äußert sich etwa wie folgt: „Was soll das sein, ein ‚Hauch‘? Kannst du mir das verraten? Oder eine großzügige Prise? Ist das ein Pfund oder ein Kilo? Nein, ihr Dummköpfe, es ist eine Prise, und dann haben sie noch die Frechheit, über unsere qualitativ herausragenden, preiswerten Einwandererläden die Nase zu rümpfen, in die sie sich nicht trauen, weil sie womöglich von Terroristen entführt werden oder sich mit Malaria anstecken könnten.“ Verstrickte Vorurteile.
Carole wiederum wird von Shirley in der Schule, an der diese später nur noch mit Widerwillen und Wut unterrichtet, sehr gefördert. Nach einer schwierigen Zeit schafft Carole einen guten Abschluss, studiert und wird anschließend Managerin bei einer Bank. Ein spätes Wiedersehen der beiden Frauen findet auf der Premierenparty statt, beide bemerken ihre Fremdheit einander gegenüber und mühen sich die Situation zu retten.
Das alles erinnert entfernt an Akira Kuroswas Helden, etwa die Figur der Yukie in „Kein Bedauern für meine Jugend“, die vor ihrer Familie in ein armes Dorf flieht, mit Ausdauer, Altruismus und Eigenverantwortung ihre existenzielle Einsamkeit bearbeitet. Oder die Figur des Dr. Sanada in „Engel der Verlorenen“, die einem sozial stigmatisierenden System entgegentritt und für die leidenden Menschen kämpft.
Wir lesen einen „Frauenroman“ der anderen Art, durchaus spannend, zum Teil bissig in seiner Ironie und der Brechung der Figuren. Ein Black-Community-Setting mit Bezug zur LGBTQ-Szene. Diese beginnt gerade in die „Mehrheitsgesellschaft“ hineinzuwuchern. Damit zwangsweise verbundene Konflikte um Teilhabe, Individualität und Abgrenzung wären aussichtsreiche Geschichten für eine fortgesetzte Erzählung dieser Figuren.
„Für Männer ist das Leben so viel leichter, einfach nur, weil Frauen so viel komplexer sind.“
Nicht zu vergessen: Es kommen auch männliche Figuren vor wie Roland, der Professor oder Lennox, der Ehemann von Shirley, doch sie bleiben blass, austauschbar. Die über allem schwebende, nicht gestellte Frage heißt: Was verliert die Welt ohne Männer? Die Antwort kann nur lauten: nichts! Aus der Sicht des Personals. Wäre die Welt ein besserer Ort? Vielleicht. Es sei an das Wort des Sophokles erinnert: polla ta deina – vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Mensch (Antigone / 1. Standlied [332]). Da möge jeder seinen Vers drauf schmieden.
Nicht zu vergessen auch dies: Warum fühlt sich für Menschen aus der Black Community vieles so anders an, obwohl die Lebenserfahrungen gleich denjenigen der „Mehrheitsgesellschaft“ sind? Antwort: Das basale Korsett des Rassismus / Sexismus führt zur sozialen Prägefolie (Stigma). Über die Geburt dieser Menschen legt sich Mehltau, den sie kaum mehr abstreifen können. Paradigmatisch dazu Shirley im Gespräch mit Winsome, ihrer Mama: „Weiß trage ich nur im Urlaub, Mum, es symbolisiert die seelische Reinigung, der ich mich unterziehen muss.“
Evaristo gelingt es, die Spielarten gesellschaftspolitischer Strömungen über ihre Figuren mit authentischer Sprache in der Balance zu halten und sich selbst eines (moralischen) Urteils zu enthalten. Das zeichnet die Stärke dieses Romans aus, der über die Community hinaus für uns wiederum auch eine Geschichte über das „Dazugehören“, Generationenerfahrungen, Migration und Inklusion erzählt, die uns (weißen Europäern) in fernen Ländern ebenso widerfahren könnte. Mit nachdenklichem Humor und den Wurzeln unseres Glaubens liefert „Mädchen, Frau etc.“ ein zeitgenössisches Panorama westlicher Gesellschaft.
Im Vergleich beider Werke (Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit) erstaunt zunächst eine (scheinbare) Übereinstimmung: das Theater. Die Komposition bei Hawke zeigt eine (teilweise) innere Verschränkung des Protagonisten mit der Shakespeare’schen Tragödie Heinrich IV, gebunden an die inneren Kämpfe des Helden mit sich selbst. Demgegenüber bietet die Aufführung bei Evaristo nur eine Folie für eine Rahmenerzählung (Episodenroman), der den unterschiedlichen Spuren seiner Figuren folgt, ihre Verschränkung untereinander über die Zeitachse etwa einer bis zwei Generationen zeigt, sich dabei aber an den modernen Ideologien unserer westlichen Gesellschaften abarbeitet.
Gibt es in beiden Werken auch hier einen „Jonathan Franzen-Moment“? Dieses bereits seit dessen „Korrekturen“ und jetzt auch wieder in „Crossroads“ bekannte Sezieren des Augenblicks im Innenleben der Figuren, deren Moralität bis in den kleinsten Winkel verhandelt und ohne jede Selbstironie bewertet wird. Gemessen daran bleiben beide Bücher dahinter zurück. Die Figuren der Autoren loten diese Innensicht nicht aus, ihr Moralitätsanspruch bleibt im Ungefähren, in rein äußerlicher Verstrickung hängen. Gerade bei Evaristo hätten sich mannigfaltige Anknüpfungspunkte dazu geboten: So wenn Bummi vor ihrem inneren Auge ihre nigerianische Herkunft mit der persönlichen Entwicklung in England abgleicht. Immerhin haben ihr Mann und sie es geschafft sich zu verorten, letztlich gründet Bummi sogar eine Reinigungsfirma mit ein paar Angestellten. Doch daraus erwächst nicht die moralische Auseinandersetzung mit den Wertemustern der britischen Gesellschaft generell und speziell gegenüber Migranten. Was verhandelt wird, sind die moralischen Vorurteile von Bummi.
Ingo-Maria Langen, Oktober 2021