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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Mach neu, was dich kaputt macht

Johanna Beck
Mach neu, was dich kaputt macht
Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche

Herder Verlag, Freiburg i. Br., 2022
192 Seiten, 20.- €

Johanna Beck, studierte Literaturwissenschaftlerin, Fernstudium der Theologie, Vertreterin beim Synodalen Weg, Mitglied des ZdK und Maria 2.0. Ausgezeichnet mit dem Herbert-Haag-Preis 2022.

Schutzraum Kirche: Willfährige Folter

Die Stimme, ein Donnerhall, der Habitus so abstoßend wie furchteinflößend: Pater Dietmar. „Seine massige Gestalt, seine speckigen Cordhosen, sein stechender Blick.“ Die unausweichliche Nähe dieses Mannes ist erdrückend. Das Waldlager, die Exerzitien, die Beichte – an Orten, die nicht einsehbar sind. Mit der Zeit entwickelt sich ein Muster, dem Johanna nicht entgehen kann. Sie ist gerade sechs Jahre alt: „Es ist Winter. Vor dem Fenster zieht Nebel auf, es wird langsam dunkel.“ Im Versammlungsraum an der Wand ein großes Kruzifix. „Ich sitze zusammengekauert auf einem der Stühle und lausche angstvoll gebannt dem mitreißenden Vortrag von Pater Hönisch, dem allseits verehrten Gründer der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE).“ Die Schlüsselbegriffe: angstvoll – mitreißend. Zwischen diesen Polen wird sich das weitere Erleben des Mädchens bis hin zur gestandenen Frau bewegen.

Die Organisation (KPE), in die sie hineinwächst, arbeitet mit sektenartigen Strukturen und entsprechender Psychoführung. Insbesondere die Nähe zum sogenannten „Engelwerk“ befördert eine endzeitliche Grundstimmung: die Vorbereitung auf den großen „Endkampf“, die Auslöschung des Bösen. Immer wieder werden derartige Bilder beschworen, früh setzten bei der Autorin Alpträume ein. Der Blick auf die Familie: der Vater ein vehementer Gegner dieser Entwicklungen, die Mutter setzt sich durch, das Kind bleibt auf diesem Weg. Die Grundlagen für einen psychosomatischen Formenkreis sind gelegt.

Pfadfindertum als Erziehungsmethode: Drill, rigorose Kleidervorschriften, strengstes Arbeitsethos, Exerzitien, keine Freizeit, Gebetszwang, nächtliche Anbetungen, Zwölf-Stunden-Tage. Vorbereitung auf das Leben einer Heiligen: Ein völlig verdrehtes, verschwurbeltes und von der Theologie als falsch nachgewiesenes Marienbild dient als Vorlage, um den Endkampf zu bestreiten. Nur die „Abtötung“ der Gefühle, die Herausbildung absoluter Keuschheit, Maria als Heilige ein (ausschließliches) Vorbild für jede Frau, absolute Unterordnung (unter die Männergesinnung), schweige sie stille am Herd. Verlangt und gelebt in den Achtzigern und Neunzigern. So soll eine neue „Elite“ geformt werden.

Katholische Theologie nimmt in ihren Grundfesten Bezug zur (katholischen) Tradition, sie ist ein Pfeiler im Theoriegebäude der Kirche. Wird nun verlangt, sich dem völligen Ideal einer Heiligen anzuverwandeln, dann ist bereits aus Sicht der Tradition (mit Adorno: Negative Dialektik) darauf zu antworten: „Das reine, vollendet sublimierte Subjekt wäre das absolut Traditionslose. Erkenntnis, welche dem Idol jener Reinheit, dem totaler Zeitlosigkeit, gänzlich willfahrte, koinzidierte mit der formalen Logik, würde Tautologie.“

Vorgetragen, immer wieder wiederholt, werden die kruden Geschichten und Idole mit dem Anspruch des Würdenträgers, des Pfarrers in Schwarz mit Kollar, dem Amtsträger in aufwendigsten Paramenten während der Liturgie. Das schindet Eindruck, soll Zweifel an Integrität und Authentizität zerstreuen. Die Macht des Priesteramts, seine herausgehobene Stellung zwischen Gott und den Menschen – wer kann da schon widersprechen? Demut beugt das Haupt. Anders gewendet: systemischer Machtmissbrauch!

Toxisches theologisches Amalgam

Den Kindern und Jugendlichen wird ein dunkles Frauenbild eingeredet (böse, verführerisch), das an Schamlosigkeit und Bosheit kaum zu überbieten ist. Immer wieder fällt bei Pater Dietmar der Satz, das Unkeusche im Fraulichen könne ihn verführen. Scham- und Schuldbewusstsein bei den Mädchen sind die Folge, sich selbst als minderwertig zu erleben, bricht jedes gesunde Selbstbewusstsein. Artikuliert sich dennoch einmal zarte Kritik, wird diese im Keim erstickt, handelt sich die Autorin eine schallende Ohrfeige einer Leiterin der Freizeit ein. Ein Blick auf die Umformung, die genau so gewollt ist. Mit Schrecken liest man solche Abschnitte. Jüngst thematisierte Dantiel W. Moniz (Milch Blut Hitze, C.H.Beck 2022) dies in „Zungen“: „Als ihre Mutter auflegt, gibt sie Zey am Esstisch eine Ohrfeige und beschimpft sie – Schande der Familie, Flittchen, was für eine Blamage. Respektloses Verhalten dem Pastor gegenüber? Und du willst deinem Bruder ein Vorbild sein?“ Diese literarisch fiktionale Ausdeutung finden wir als faktischen Erlebnisbericht bei Johanna Beck. Paradeigmata!

Die Kinder beginnen an ihren eigenen Eindrücken und Gefühlen zu zweifeln. Sie stellen sich in der falschen Weise selbst infrage, können die vorgelebten Doktrinen nicht mit ihrem persönlichen Erleben in Einklang bringen. Aus Angst, aus den Gruppenbeziehungen ausgeschlossen zu werden, beugen sich viele, andere werden bestraft, ihr Ruf diskreditiert. Was die Ängstlichen noch ängstlicher werden lässt. – Kein Zweifel, wir sprechen über Einrichtungen der katholischen Kirche. Gerne werden Sündenregister bemüht, drakonische Strafen angedroht, mit apokalyptischen Bildern das Seelenheil angefochten. Die Auswirkungen auf die noch nicht resiliente Seele junger Menschen lässt sich unschwer abschätzen. Und dann wieder Erlebnisse, die Pater Dietmar (sowohl Pseudonym als Synonym) im Kreise seiner Claque das Hohelied auf ihn, seine mafiösen Netzwerke und Fälschungen singen lassen. Und immer wieder die Trias: Angst, Sex, Macht.

Entpersönlichung und geistig-seelische Vergewaltigung in der KPE gehen so weit, die Sünde des Suizids zu ignorieren. Johanna Beck kommt an einen Punkt, da rettet sie die Vorsehung. Sie ist Mutter dreier Kinder, verheiratet mit einem Mann, der ihr Fels in der Brandung ist – und doch ist sie bereit sich das Leben zu nehmen. Es erschüttert zutiefst diesen Prozess zu lesen, ihn fast zu spüren. Und die Bitterkeit, die es beim Leser hervorbringt, schlägt um in Wut. Weil hier alles missachtet wird, für das die Evangelien stehen: den Schutz der Schwachen, Kinder zumal. Und das im sogenannten Schutzraum der Kirche oder ihr angehörender Organisationen.

Kritik und Warnungen ignoriert

Obwohl auch kircheninterne Stimmen die KPE als sektenartig beschrieben, es geschah nicht viel, 2022 wurde die Pfadfinderschaft sogar offiziell durch die Deutsche Bischofskonferenz als privater katholischer Verband anerkannt. Wir müssen leider feststellen, in der katholischen Kirche sind extreme rechtskatholische Strömungen aktiv, tiefgreifend und auf lange Zeithorizont hin angelegt. Da werden Generationen junger Menschen indoktriniert, in ihrem seelischen und geistigen Erleben verbogen bis schließlich Menschen aus ihnen werden, vor denen uns alle grausen muss.

Ein Buch, das nicht nur anrührt, tief berührt, sondern einen „Ratgeber“ an die Hand gibt: Anzeichen von Rückzug, Selbstisolierung, repetitive Gedanken, extreme Unsicherheit, Uniform- und Formzwang, sie können Indikator für ein Abgleiten sein. Das Buch rüttelt nochmals wach, sensibilisiert für die Bedürfnisse unserer Kinder, nimmt uns in die Pflicht. Es schürt keinen Generalverdacht, doch Wachsamkeit und Begleitung müssen wir ernst nehmen. Die beste Grundlage dafür ist gegenseitiges Vertrauen, jenes das sich aus Liebe speist, wie es für Eltern und Kinder selbstverständlich sein sollte und doch so häufig nicht ist. Ein nachdenkliches, ein „sperriges“ Buch, das wir immer wieder zur Hand nehmen können und sollten.

Ingo-Maria Langen, Juni 2022