Hubertus Halbfas
Kurskorrektur
Wie das Christentum sich ändern muss, damit es bleibt
Eine Streitschrift
Patmos Verlag
2. Auflage, Ostfildern 2018, 207 S., 20.- €
Hubertus Halbfas, emeritierter Professor für Religionspädagogik und katholischer Theologe in Reutlingen hat sowohl der katholischen als auch der evangelischen Religionspädagogik entscheidende Impulse gegeben.
„Die Wahrheit ist, dass es kein göttliches Handeln außerhalb der Welt und ihrer Regeln gibt. Absolut nicht.“ (Vito Mancuso)
Zusammenfassung:
Die Erosion der Bindungsfähigkeit von Kirche schreitet unaufhaltsam fort. Im Jahr 2060 werden beide großen Kirchen nahezu die Hälfte ihrer Mitglieder von heute verloren haben. Kirchenbezogene Vorgaben werden in den nachwachsenden Generationen eine noch geringere Rolle spielen. Hubertus Halbfas wagt sich mit seiner Streitschrift bewusst an die ehernen Besitzstände im Denken und Handeln von Kirche und fordert dazu auf, sich von vielen hergebrachten „Wahrheiten“ zu verabschieden. Stattdessen postuliert er ein von Jesu Wirken inspiriertes, auf den Menschen ausgerichtetes Kulturchristentum, dessen Überlebensfähigkeit im praktizierten Christsein des Einzelnen wurzelt.
Hubertus Halbfas setzt sich seit Jahren mit den fundamentalen Überzeugungen der Kirche auseinander und scheut dabei nicht, an diesen Denkweisen zu rütteln. So bekannte er in einem Vortrag 2013, nicht an die Wiederauferstehung zu glauben oder dass die Überlieferung der Vergebung der Sünden durch den Opfertod Christi eine ausschließlich paulinische Deutung sei. In seiner Radikalität, im Sinne des an die Wurzel Gehens, erinnert der Theologe an andere kritische Geister seines Faches wie Eugen Drewermann, Hans Küng oder auch Walter Kasper.
In zehn Kapiteln widmet sich Halbfas den zentralen Elementen der christlichen Tradition: dem Werden Gottes und der Welt, der Sicht Jesu und Paulus, der liturgischen Feier, dem Priestertum, der Erbsünde oder der Marienverehrung, um nur einige herauszugreifen. Jenseits dieser Gliederung konfrontiert der Autor den Leser aber mit erkenntnistheoretischen Fragen nach dem was Wahrheit ist, diese für uns (kontextuell) bedeutet? Der Rezensent ertappt sich, eigene festgefügte Überzeugungsmuster erodieren, ja geradezu ‚dekonstruiert‘ zu sehen, immer in der widerständigen Versuchung die Argumente des Autors mit den eigenen zu überlisten, die Dekonstruktion wieder zur Konstruktion zusammenzusetzen. Das funktioniert natürlich nicht und ist darum umso erschütternder. Doch gehen wir einigen Bezügen näher nach.
Müssen wir unsere überkommene Gottesvorstellung revidieren? Und zwar nicht nur im Hinblick auf naturwissenschaftlichen Erkenntnis-fortschritt, der ja immer unter einem Falsifikationsvorbehalt steht, sondern gerade auch vom theoretischen Ansatz her? Halbfas erinnert an Feuerbach, der nüchtern feststellte: Was Gott ist, denkt der Mensch. Oder Hans Jonas, der angesichts der Erfahrung von Auschwitz einen schweigenden Gott konstatiert, während die ‚Wunder‘ einzig von Menschen für Menschen ausgingen. Ist die alte Gotteserzählung auserzählt? Für Jonas griff Gott nicht ein, weil er nicht konnte. Die Traditionslinie der Erzählung ist damit gebrochen. Ihre Vorausdeutungen auf die Zeit sind erloschen. Ergänzend zitiert der Autor Dietrich Bonhoeffer: „Wo behält nun Gott noch Raum? (…) Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“
Übertragen auf die Zwei-Welten-Sicht bedeutet das den Abgesang unserer überkommenen Vorstellung: hier die Erde, dort oben der Himmel mit Gott dem Vater. Bislang steht das so noch in aller Theologie: von der Bibel, über die Konzilien der Kirche, die Liturgie, die Katechismen bis hin zu den Religionsbüchern in der Schule. Noch 1983 liest sich das so im Weltkatechismus. Halbfas bemüht Hubert Wolf: „Ist wahr, was gelehrt wird, oder wird gelehrt, was wahr ist?“, fragt der Kirchenhistoriker aus Münster. Doch das Lehramt verhält sich demgegenüber ‚souverän‘, wenn es wissenschaftliche Erkenntnis mit schnödem Modernismus abtut und sich damit in der westlichen Kultur um die eigene Reputation bringt. (Die jüngsten Äußerungen von Benedikt XVI zur 68er-Frage haben dies erschreckend belegt). Horkheimer hat dazu angemerkt: „Wenn die Gerechtigkeit und Güte Gottes nicht als Dogmen, nicht als absolute Wahrheit vermittelt werden, eben weil die Lehren nicht bewiesen werden können und der Zweifel zu ihnen gehört, lässt sich theologische Gesinnung, zumindest ihre Basis, in adäquater Form erhalten … Den Zweifel in die Religion miteinzubeziehen, ist ein Moment ihrer Rettung.“ Was würden wir ansonsten verlieren? Etwa die Theodizee. Diese wäre spätestens dann überholt, wenn wir annehmen (müssen), dass Intelligenz und Geist bereits den ersten Elementen inhärent gewesen sein müssen: „Eine angemessene Konzeption des Kosmos muss mit ihren Mitteln erklären können, wie es zur Entstehung von Wesen führen konnte, die fähig sind, erfolgreich darüber nachzudenken, was gut und schlecht, richtig und falsch ist (…).“ Es bräuchte keines weiteren Eingriffs Gottes – und wir sind mit unserer Verantwortung allein! Kann man dann noch beten, fürbitten? Ja, man kann: „Beten heißt dann: denken an – wünschen für – handeln mit … Wir bringen Leid und Schrei der Welt zum Ausdruck“, resümiert Halbfas.
Es gibt weiteren Handlungsbedarf: engagiert plädiert der Autor für die Überwindung der paulinischen Christologie zugunsten der historischen Person Jesu. Überzeugend legt er dar, dass die paulinische Sicht eine Überformung der Gestalt Jesu ist, die sich ausschließlich auf die ‚mythische‘ Figur Christi konzentriert. Paulus entwickelt seine Theologie, in deren Mittelpunkt der Sündenfall und die Sühneleistung am Kreuz stehen, ohne die historische Person Jesu zu berücksichtigen. Gott lässt sich nur durch den blutigen Opfertod mit den Menschen versöhnen. Daraus leitete Augustinus die Erbsündenlehre ab. Angst, Schuldenlast und Deformation waren die Folge. Liegen wir mit diesen Ansätzen heute noch richtig? Der Kirche laufen die Gläubigen in Scharen davon, 2060 werden beide Kirchen in Deutschland die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Halbfas wirbt dafür, den historischen Jesus in den Blick zu nehmen: Als Vorbild gelebter menschlicher Praxis, weniger als Opfer oder Erlöser. Wie können wir zukünftig die Heilsgesichte mit dem historisch-praktischen Erleben Jesu verbinden, eine zukunftsgerichtete Erklärung anbieten, die eine neue Bindungswirkung entfaltet? Liegt sie in der ‚offenen Tisch-gemeinschaft‘, die keinen ausschließt, die Gleichheit aller Menschen nicht nur postuliert, sondern lebt?
Dazu passt dann der Ausblick für das amtliche Priestertum: „Im Blick auf eine christliche Zukunft, ist es angemessen, die Begriffe Priester und Weihe aufzugeben. Jesus sah sein eigenes Leben gewiss nicht als ein priesterliches an.“ Im Lichte der jesuanischen Zeit und dessen Wirkung von Priester und Priesterweihe zu sprechen ist nach Halbfas die Grundlage für eine Zweiständekirche, „die den Anfängen fremd war und sich nur unter dem Einfluss von Opfervorstellungen der zeitgenössischen Kultur durchgesetzt hat.“ Damit rührt der Autor an den Fundamenten: Die kirchliche Macht und Hoheit gründet auf den Sakramenten, die Priesterweihe ist eines davon. Ihr zufolge ist nur der Priester in der direkten apostolischen Sukzession dazu befähigt das Abendmahl (das Halbfas an anderer Stelle ausdrücklich in der gelehrten Form bezweifelt) auszuteilen. Spätestens mit der Neubewertung der Zwei-Welten-Lehre, führe sich diese Auffassung selbst ad absurdum. Starker Tobak, der sicher nicht unwidersprochen bleiben dürfte. Die Klerikerkirche ist am Ende! Schrumpfende Gemeinden, ausufernde ‚Seelsorgeeinheiten‘ oder ‚Pastorale Räume‘ zeigen an, was die Kirche verliert. Pointiert schreibt Halbfas: „So wenig die Leitung einer Eucharistiefeier in den christlichen Anfängen von einer Weihe abhing, so wenig sind Priester und Weihe heute dazu notwendig.“
Es steht mithin so einiges auf dem Spiel: Die hierarchisch verfasste Kirche, die starre Lehre, ein unfehlbarer Papst, die Zweiteilung einer Kirche in Klerus und Laien, die übernatürliche Offenbarung, der Sühnetod Jesu, die Erbsündenlehre, die immaculata conceptio, die Eschatologie oder ganz schlicht: die Wahrheit der Kirchenlehre.
Was müssen wir fürchten? Was können wir hoffen?
Die zu Recht oft beklagte Radikalität in diversen Gesellschaftskreisen sieht Hubertus Halbfas auch im Christentum aufziehen: Eine evangelikale Christenheit, die sich mit der extremen Rechten wie wir sie schon lange aus den USA kennen verbindet. Ein evangelikaler Katholizismus bereite christlichen Fundamentalisten den Weg, der unsere liberalen und demokratiebasierten Gesellschaften von innen her bedroht. Dem könne man nur begegnen mit einer an Meister Eckhart orientierten und am historischen Jesus aus Barmherzigkeit und Fürsorge, Nächstenliebe und dem Reich Gottes ausgerichteten praktischen Verhalten.
Was fehlt: ein Literaturverzeichnis, das ein gezieltes Nachschlagen ermöglichte, ebenso ein Stichwortverzeichnis. Denn das Buch eignet sich auch zum spezifischen Nachlesen.
Eine Streitschrift – nicht nur für Fachleute, sondern für alle an der Kirche und ihrer Lehre Interessierte. Nur gute Nerven sollten sie mitbringen oder eben kreativen Reformwillen.
Fazit: Fünf von Fünf Sternen!
Ingo-Maria Langen
Mai 2019