Jörg Ernesti, Leo XIII
Papst und Staatsmann
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau
2. Auflage, 2019
480 Seiten, 38.- €
Zusammenfassung:
Leo XIII hatte eines der längsten Pontifikate der Neuzeit. Von seinem Umfeld eher als „Übergangspapst“ eingeordnet, erwies sich Leo XIII als überaus produktiv, alleine seine 86 Enzykliken sprechen Bände, dazu noch Apostolische Schreiben, Korrespondenz und eine enorme Wirkungsmacht auf die europäische Geschichte. Er gilt insbesondere als Begründer der Vatikanischen Außenpolitik, als versierter und geschickter Diplomat, der auch als „Gefangener im Vatikan“ Europa und die Welt zu bewegen wusste.
Jörg Ernesti, Kirchenhistoriker an der Universität Augsburg, legt nach Biografien zu Paul VI und Benedikt XV (beide Herder), seine dritte Biografie vor.
Ein dialektisches Bild der Welt
In seinem Geleitwort hebt Reinhard Kardinal Marx die Bruchlinien der Zeit des Pontifikats Leos XIII hervor: Mit dem Beginn der Französischen Revolution brach für die Kirche in ganz Europa eine Zeit des Umbruchs, der Unsicherheit, teilweise der Verfolgung an. Der aufkommende Wirtschaftsliberalismus mit freien Märkten und die sich zuspitzenden sozialen Ungleichheiten bis hin zu krasser Ausbeutung und Massenelend, provozierte eine rückwärtsgewandte Gegenbewegung, die ihren Anspruch auf die Vormoderne postulierte. Zwischen diesen Polen bildete sich eine christliche Sozialbewegung heraus, wie sie Emanuel von Ketteler verkörperte. Diese christliche Bewegung suchte den Schulterschluss mit den Sozialwissenschaften, um neben einer strukturellen Analyse politische Lösungsperspektiven zu schaffen. Auf diesem Hintergrund ist die Entstehung der berühmten Enzyklika Rerum Novarum angesiedelt. Papst Leo XIII begründete damit den ersten Stein für eine katholische Soziallehre, die ein insgesamt vielschichtiges Bild der Moderne zeichnete. Marx betont den Umstand, dass aus der geänderten Sicht der Zeitumstände und deren Herausforderungen eine engere Anbindung an die Menschen geschah. – Eine kritische Zeitanalyse ist hilfreich, ohne dabei eigene Positionen aufzugeben. Auch das war eine nicht zu unterschätzende Wegmarke, die Leo setzte.
Menschen und Maschinen
Der Pontifikat Leos XIII fällt in eine Zeit mehrfachen Umbruchs. Die begonnene Industrialisierung, das Maschinenzeitalter, gab plötzlich den Takt des Lebens (und der Arbeit) vor. Technik und Produktivität steigerten sich in nie zuvor gekanntem Ausmaß, die arme Bevölkerung strömte in der Hoffnung auf Besserung vom Land in die Städte. Die Folge war eine Verlagerung der Verarmung. In Verbindung mit fehlendem Wohnraum führte dies zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Menschen. Die daraus entstehende soziale Frage wurde von Arbeiterprotesten begleitet und mündete in ersten Sozialreformen.
Der Mann hinter den Mauern
Den Menschen seiner Zeit galt Leo XIII als Verkörperung des „Idealpapstes“, als Repräsentant seiner Epoche und als „populärer“ Papst im Sinne des Kirchenvolks. Allerdings stand seine Handlungsfähigkeit in nahezu diametralem Gegensatz zu seiner Popularität. Er war der erste Papst seit über 1000 Jahren, der nicht mehr über einen eigenen Staat verfügte, der sogar als Bürger eines anderen Staates, des Königreichs Italien, sein Amt ausfüllen musste. Denn nach der Einigung Italiens fiel der Kirchenstaat an das Königreich und damit an eine ‚ausländische‘ Macht. Das Kräfteverhältnis zwischen Quirinal und Vatikan sollte den gesamten Pontifikat Leos prägen. In dem Bewusstsein seiner eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten entwickelte Leo sich zu einem herausragenden Staatsmann (so der Untertitel des Buches) und Außenpolitiker dieser Zeit. Leo galt bereits früh als „homo politicus“. Später nannte ihn Walter Goetz als „Meister der Politik“ (1923) in einem Atemzug mit Friedrich Barbarossa, Richelieu und Bismarck. Roberto De Mattei schrieb noch 2014 von einem eminent „politischen Pontifikat“. Ernesti selbst spricht von einem „Schlüsselpontifikat“, das bis in die heutige Zeit hineinwirkt, insbesondere auf den Gebieten der Staats- und Gesellschaftslehre sowie der Grundlagen der katholischen Soziallehre.
Jahre der Prägung
Vincenco Gioacchino Pecci stammte aus Carpineto Romano. 1810 in eine Familie niederen Landadels geboren, wechselte er nach seinem Theologiestudium auf die päpstliche Diplomatenakademie. Die politischen Umbrüche, in die Pecci hineingeboren wurde (erst auf dem Wiener Kongress erhielt der Vatikan seine Staatlichkeit zurück), die Unsicherheiten durch das Brigantentum, Aufstände, Epidemien sowie der Verlust des wirtschaftlichen und politischen Anschlusses an die Zeitentwicklung, formten im jungen Pecci sehr früh konservative Grundhaltungen, die jegliches Revolutionäre ablehnten. So begrüßt er nach der Julirevolution ausdrücklich die Besetzung des Kirchenstaates durch die Österreicher, weil er damit eine Rückkehr der öffentlichen Ordnung verbindet. Seine politische Voraussicht bildet sich in dieser Zeit. Der 21jährige sieht in einem Brief an den Bruder Giovanni Battista (1831) die Beruhigung nur an der Oberfläche und befürchtet einen möglichen Handstreich gegen den Vatikan, der jederzeit ausbrechen könne, sollten die Truppen wieder abziehen. Über intensive Zeitungslektüre informiert sich bereits der junge Mann über die politischen Verhältnisse seiner Umgebung wie auch der internationalen Politik. Im Christentum sieht er einen Hort der Stabilität für die Gesellschaft, ein Gedanke, der sich später in seiner Staatslehre finden wird.
Theologisch würde der spätere Papst, dessen Leitbilder sich in Benedikt von Nursia und Thomas von Aquin finden, nicht besonders hervortreten. Seine spirituelle und pastorale Ausrichtung verläuft konventionell. Papst Innozenz III bleibt für ihn zeitlebens ein geistiges Vorbild.
Die ersten Dienstjahre
Mit 28 Jahren wird Gioacchino Pecci Apostolischer Delegat in Benevent, kurz darauf dann Nuntius in Belgien. Hier kommt er zum ersten Mal mit den Abläufen einer parlamentarischen Demokratie in Berührung, der mühsamen Suche nach Kompromissen, politischem Proporzerfordernis und dem Engagement katholischer Laien in Politik, Schule und Universität. Die Konturen seines Denkens schärfen sich an dieser Stelle deutlich nach: Die Kirche hat einen Beitrag zur gesellschaftlichen Kohärenz zu leisten, indem sie staatsbürgerliche Gesinnung und gesellschaftspolitisches Engagement fördert. Zudem ist die Kirche aufgerufen, in der Gesellschaft Werte und ein Gewissen zu implementieren, was der Staat nicht kann. Die Kirche bringt Zivilisation! Eine Gesellschaft kann nur heilen und wachsen durch das Christentum. Gott muss deshalb in der Gesellschaft präsent bleiben, damit nicht der Mensch zum Maßstab für sich selbst wird. Religion ist keine Privatsache.
Episkopat
In den langen Jahren als Bischof formt sich sein Denken und Handeln in der (unbewussten) Vorbereitung auf den Pontifikat aus. Er widmet sich besonders einer Reform der Priesterausbildung, deren Seminare oft einen nicht allzu hohen akademischen Anspruch haben. Mit der Schrift „La pratica dell’umilità“ verfasst er die Ansprüche an die Ausbildung der angehenden Priester neu und stellt insbesondere den dienenden Aspekt in der Nachfolge Christi heraus: Der Priester soll demütig sein, bewusst seiner selbst als erlösungsbedürftiger Sünder, er solle schweigen, nicht schwätzen oder sarkastisch sein. In Gesprächen zurückhaltend, den Zorn meiden, ungerechte Behandlung erdulden, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischen. Doch wo es um die Wahrheit gehe, sei er mit Mut, Milde und Beharrlichkeit bereit, diese zu verteidigen. Der Priester sei „Diener aller anderen“. Seine unzähligen Hirtenworte über die Zeit als Bischof weisen eine profunde Bildung auf vielen Gebieten aus, auffällig sind die oft biblischen Argumentationslinien sowie die Rückgriffe auf die Kirchengeschichte und Thomas von Aquin oder die Kirchenväter.
Der Medien- und ‚Arbeiterpapst‘
Für diese Zeit ungewöhnlich, betreibt Pecci eine Art „Papstmarketing“. Leo XIII neigt den Medien seiner Zeit zu, gibt Interviews, sogar Filmaufnahmen (s. Kathtube)existieren. Auch die Jahresmedaillen zählen zu dieser Form der Außendarstellung. Leo weiß die Presse auch politisch zu nutzen. Dem Massenblatt Le Petit Journal gibt er 1892 ein Interview und vermeidet dabei bewusst für seine innerfranzösische Aussöhnungspolitik in der kirchengebunden Presse zu werben. In der sogenannten Dreyfus Affäre, über die 1894 der jüdische Offizier Alfred Dreyfus des Geheimnisverrats an die Deutschen beschuldigt wurde, versuchten antisemitische und katholisch-monarchische Kreise mittels der katholischen Tageszeitung La Croix eine Rehabilitierung Dreyfus zu verhindern. Ernesti: „Auch wenn der Papst die Agitation gegen Dreyfus nicht direkt verurteilte, war seine Hinwendung zu nicht-katholischen Zeitungen doch ein starkes Signal, dass er auf Öffnung und Dialog setzte und verhärtete Fronten aufzubrechen suchte.“
Aussöhnungspolitik praktiziert Leo XIII auch über sein soziales Engagement. Seine wohl bekannteste Enzyklika Rerum Novarum (1891) wirkt bis heute nach. Sie konstatiert das Recht auf Privateigentum, schreibt ihm aber eine Sozialbindung für das Gemeinwesen ein (bei uns zuerst WRV Art. 153 Abs. 3, ab 1948 Art. 14 GG). Die Sozialpartner sollen Konflikte einvernehmlich lösen, Gewalt und Umsturz sind keine politischen Mittel. Das Recht auf Streik billigt er. Solidarität und Subsidiarität fordert er. Die Folge ist ein gesellschaftspolitischer Aufbruch. Es bilden sich Arbeitervereine, Gewerkschaften, christlich-soziale Bewegungen, der Begriff „Christliche Demokratie“ entsteht. Zudem markiert diese Enzyklika den Beginn der katholischen Soziallehre.
Abschließend noch ein paar Hinweise zu Form und Aufbau: Neben einem umfangreichen Register (leider nur Personen), sind insbesondere die Nachweisangaben eine wahre Fundgrube. Sie teilen sich in Quellen, Primär- und Sekundärliteratur sowie einen Bildteil auf. Eine Zeittafel sowie Auszüge zu Originaldokumenten runden diese Vielfalt ab. Der Aufbau ist nicht streng chronologisch. Ernesti spricht von „Sammlungen und Einzelstudien“, die allerdings sehr geschickt ‚collagiert‘ sind und sich zu einem harmonischen Ganzen fügen. Der Forschungsstand ist breit, besonders seit der Öffnung der Archivbestände Leos XIII unter Johannes Paul II im Jahr 1978. Gleichwohl gibt es noch einige Desiderata. Es fehlt etwa eine umfassende Biografie zu Leo XIII, namentlich lässt der deutsche Forschungsstand zu wünschen übrig. Das ist auch insofern verwunderlich, als die Öffentlichkeit ein enorm hohes Interesse an diesem Papst entfaltete, einschließlich seiner „Vorgeschichte“. Zu den noch zu schließenden Lücken zählt Ernesti die Papstmedaillen als Quellengattung der Kirchengeschichte. Diese Kommemorativstücke, die das päpstliche Mäzenatentum dokumentieren, sind damit eine erstklassige Quelle für die Forschung. Das verdeutlicht auch der Zeitlauf: Seit dem Konzil von Konstanz (1417) wurden für jeden Pontifikat jährlich Medaillen geschlagen, was für Leo XIII 26 Jahresmünzen ausmachte.
Fazit: Jörg Ernesti hat eine außerordentliche Breite an Facetten Leos XIII vorgelegt, die in ihrer Detailfülle viele Anreize für weitere Vertiefungen bietet. Die gelungene sprachliche Darstellung bezeugt ein flüssiger, gut lesbarer Stil, der auch dem interessierten Laien zugänglich ist. Mit der Herausarbeitung der politischen Wirkungsmacht dieses Papstes fühlt der Leser sich des Öfteren an die heutigen Tage erinnert. Leo warnte, Aufrüstung führe unweigerlich zum Krieg, der Ausgleich unter den Bevölkerungsteilen müsse gewahrt bleiben, Kirche neben dem Wohl des Einzelnen auch dasjenige der Gesellschaft im Blick haben: „die Familie, die Pfarrei, den Orden, die Nation, die Weltgemeinschaft. Der Glaube wirkt sich auf die Gestaltung der Gesellschaft aus, ist seine Grundüberzeugung. Insofern kann man sagen, dass dieser Papst Frömmigkeit und Weltverantwortung, Individualehtik und Sozialethik verbindet. Das ist ein durchaus moderner Zug“, schreibt Ernesti. Die Verpflichtung aller auf das Gemeinwohl der Gesellschaft könnte in unserer Zeit eine hilfreiche Orientierung bieten.
Ingo-Maria Langen
Juli 2019