André Hille
Jahreszeit der Steine
Roman
338 Seiten, 25.- €
C.H.Beck, München 2023
Ein Dienstag im November
„Mein Schlaf ist ein scheues Wesen. Er duckt sich weg. Versteckt sich vor mir.“ Erste Sätze sind eine Herausforderung. Sie müssen den Leser unmittelbar an sich binden, eine Spur legen, Interesse wecken. Schlafstörungen sind ein weites Feld und vielen ein vertrauter Begleiter, ein oft gehasster dazu. Hier wird eine geschickte Klammer vorbereitet: der Ich-Erzähler, Vater dreier Kinder, Malik, Fritzi und Alma, verheiratet mit Levje, beschließt darin einen gesamten Tag, der zwischen familiärem Leben, beruflichen Aufgaben und (Selbst)Reflexion pendelt. Die Klammer finalisiert mit der (unausgesprochenen) Intention, der Versöhnung mit den Geschehnissen des Tages an dessen Ende einen kleinen Raum zu geben, im Glauben an ein gutes Morgen.
Getragen wird diese Grundspannung von einer latent drohenden Auseinandersetzung zwischen den Partnern, deren Beginn früh angelegt ist, sich ganz langsam entfaltet, um an einem späten Punkt eruptiv durchzubrechen. Davon ahnen wir zunächst noch nichts. Der Tag beginnt in kleinen Schleifen, alltäglichen Verrichtungen und dem genauen Hinschauen auf die Schritte des Denkens, Handelns, Wahrnehmens, der Achtsamkeit. Bis der Nachwuchs zur Schule und zur Kita gebracht wird, ist bereits ein kleiner Kosmos entfaltet: Das Aufstehen, das Frühstück, die Utensilien, das Trödeln der Kinder. Zeit scheint gedehnt, Alltagsmenschen in ihrem Trott, zart hingetupfte Gedanken, kleine Geräusche, assoziative Muster, Zyklen entstehen: Der kleine Malik beginnt seine Orientierungen im Tagesablauf zu festigen, testet Grenzen aus, unternimmt kontinuierlich Versuche, seinen Willen im Familiengefüge zu etablieren. Das geht nicht ohne Kämpfen ab, ist manchmal mühsam, oft humorvoll und doch immer zärtlich gezeichnet, etwa das abendliche Zuschauen der Sendung ‚Shaun das Schaf‘ von Vater und Kindern. Alma, bald elf, kichert mit einer fast schon herablassenden Note aus einer Zwischenwelt auf der Schwelle zur Pubertät, verbunden mit der Unsicherheit, was da auf sie wartet. Während die beiden anderen ganz in das kindgerechte Geschehen eintauchen. Zugleich fühlt es sich für den Ich-Erzähler an, als seien die einhundertsiebzig Folgen eine einzige Iteration, bei der jedes Mal ein neues Bruchstück Wahrheit offenbar würde. Chaos und Harmonie liegen nah beieinander, eine gewisse Grundunordnung herrscht im Haus auf dem Land.
Geteilte Ordnung
Die kleinen Schritte, die den Tag manches Mal in nur zehn Minuten durchmessen, zeigen die Vielfalt der Handgriffe, Überlegungen, Wiederholungen auf, die ein Haushalt mit Kindern erfordert, die wir nicht selten selbst erlebt haben. Die Anstrengungen, die es mit sich bringt, alles zu koordinieren, zu managen, wie uns das auszehrt, an den Nerven zerrt. Obgleich wir wissen, dass im nächsten Moment auch wieder ein Glückserlebnis warten kann, fällt nicht selten schon das Einräumen der Spülmaschine unendlich schwer. Aus diesem Kontrastspiel entspinnt sich auf leisen Sohlen der Tageskonflikt der Eltern, der im Fall der Vater-Figur aber weit tiefer reicht. Alltagsängste um den (möglichen) Ausfall des Zeitungsboten wechseln ab mit solchen der Kindheit und Jugend. Sie brechen unvermittelt in den Gedankenkosmos des Augenblicks ein, der gerade bei den Landgeräuschen mit den unterschiedlichen Tierlauten so anders ist als die Stadt, senden einen Impuls der Unsicherheit in den beginnenden Morgen und landen beim besagten Boten oder sperriger und nachdrücklicher beim eigenen Vater. Ein kontinuierliches Krisenverhältnis, das ihn bis hin zur späteren Berufswahl begleitet. Sich Freiraum und Selbständigkeit zu erkämpfen, erfordert nicht nur großes Durchhaltevermögen, auch die Fähigkeit Rückschläge einzustecken und daran zu wachsen lernt der junge Mann auf belastende und schmerzhafte Weise. Umso mehr leuchten die überschaubaren Momente glücklichen Beisammenseins mit dem Vater auf. Ihn aufgekratzt und fröhlich zu erleben, nimmt dem Jungen die Last, die er ansonsten über die traurig-gekapselte bis depressive oder wütend hervorbrechende Vaterfigur erlebt. Die Mutter bleibt als Ruhepol demgegenüber blass, das Vater-Sohn-Narrativ dominiert. Es liegt eine klassische Übertragungssituation vor: Verlust- und Versagensängste, Vorurteile, die ständige Konkurrenzlage mit Nachbarn oder Kollegen zehren den Vater aus, der Sohn durchlebt ihren zweiten Durchgang. Erst in später Zeit mit der Berentung stellt sich jene Leichtigkeit ein, die in früherer Zeit ein kreatives Fenster für den Sohn geöffnet hätte. Und selbstverständlich fehlt die Reflexion nicht: für meine Kinder mache ich das alles anders. Über diesen einen Tag entfalten sich die Zwänge, Nöte und Bedürftigkeit als Vater den eigenen Kindern gegenüber, die an manchen Stellen einer nachholenden Postsozialisation gleichen.
Alles hat seine Zeit
Mit anrührender Feinfühligkeit gleicht der Ich-Erzähler immer wieder ab, ob er sein Verhalten angemessen kommuniziert. Schließlich war ein Zentralelement seiner Herkunftsfamilie das Schweigen. Die korrelierende Ohnmacht führte damals zu tageweiser Selbstabschaltung. Und doch wiederholt sich dieses Muster in der Beziehung mit Levje: die Verwüstung in Sprachlosigkeit. Sie, die alles pragmatisch angeht, sich selbst kaum Eruptionen erlaubt, in tiefe Konzentration sinken kann, trotz Lärm und Chaos um sie herum, die unterstützt und gern aus dem Off kommentiert. Sie treibt ihn darüber bis zur Weißglut, denn das Thema: ‚Wie sehen mich die anderen‘ ist für den Ehemann immer noch virulent. Es entlädt sich final im Krach um das Bild, das er den Kindern vermittelt, wenn sie ganz nebenbei, ohne direkt involviert zu sein, seine Handlungen ergänzt, kommentiert. Das liest sich dann so: „Aber verstehst du mich denn? Wie es mir damit geht?“ „Nein, ehrlich gesagt, nicht. Ich weiß nicht, was du da siehst. Das sind doch ganz normale familiäre Vorgänge. Ich will dich halt unterstützen.“ Die Eskalation ist gesetzt. Sah es lange Zeit danach aus, die beiden im Schweigen verharren zu sehen, bricht diese Erwartungshaltung spät, dafür aber umso krasser. Aus einer harmlos anmutenden Situation heraus entzünden sich die kleinen latenten Schwelbrände zu einem veritablen Feuer. Dann kann ich ja gehen, wirft Levje ihm an den Kopf. Der Klassiker einer verfahrenen Lage zwischen Partnern: Argumentum ad hominem ersetzt die sachliche Auseinandersetzung. Die Aufmerksamkeit wird auf ein anderes Moment gelenkt, das in der Eigenschaft des Gegenübers liegt, zugleich apodiktischer Anspruch suggeriert. Eine wahrheitswidrig zweideutige Aussage soll das Gegenüber in rabulistischer Weise auskontern. Allerdings: Die emotionale Betroffenheit Levjes mildert die Logikkritik ab. Es spitzt sich weiter zu: Was ist der eigentliche Vorwurf, der auf beiden Seiten erhoben wird? Aus welchen Tiefenschichten artikulieren sich die Anschuldigungen? Oder erleben wir verklausulierte Hilferufe? Das zu verfolgen ist spannend, dem Leser vielfach bekannt und zeigt schließlich auf verblüffende Weise, wie es sich lösen lässt. Inzwischen knapp Mitternacht endet der Tag, ist Versöhnung greifbar.
Das Kunststück für einen Tag erzählte Zeit ein Vielfaches an Erzählzeit zu investieren, benötigt Brücken, Rückblenden, Anbindungen im aktuellen Geschehen. Oft sind es assoziative Momente, die aktuell einen Rückbezug ermöglichen, Perspektiven aufbrechen oder ihre Fortschreibung im Hier und Heute bezeugen. Die Sprache liest sich leicht, ist spürbar im Alltag verwurzelt, ohne dabei ihren literarischen Anspruch zu vergessen. Mit großer Sympathie lässt sich dem Autor und seinem Ensemble folgen, die Untiefen und Wirrnisse sozialer Beziehungen durchschreiten, gerade auch weil wir diese in verschiedenen Ausprägungen selbst kennen. Den Tränen so nahe, von Niedergeschlagenheit erfasst und doch wieder in der Freude des Lebens angekommen.
Ingo-Maria Langen, März 2023