Ethan Hawke
Hell strahlt die Dunkelheit
Alfred A. Knopf NY, 2021
Aus dem amerikanischen Englisch von Kristian Lutze
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021
327 Seiten, 23.- €
Ethan Hawke, Schauspieler, Schriftsteller, Drehbuchautor, Produzent. Unterricht in Princeton, England und an der Carnegie-Mellon U in Pittsburgh. Durchbruch mit „Club der toten Dichter“, „Gattaca“, für den Oscar als Bester Nebendarsteller in „Training Day“, Oscarnominierung für adaptiertes Drehbuch „Before Sunset“. Romane bei KiWi „Hin und Weg“, „Aschermittwoch“, „Regeln für einen Ritter“. (Wikipedia)
Kristian Lutze, lebt in Köln, übersetzt Romane und Musikbiografien (E. Clapton, W. Mosley, R. Wilson).
Shakespeare on Stage: Lebenskrisen und Figurenkrisen – Klassisches Theater und Seelenarbeit. In seinem neuen Roman findet Ethan Hawke einen kleinen Jonathan-Franzen-Moment, lehrreich in der Figurendramaturgie angelegt.
Ich hatte meinen Schatten gesehen und kannte meine Gestalt
Die Rückkehr in diese Stadt hatte für ihn etwas Beängstigendes: der Kopf in der Schlinge. „Welche Chancen hat die Post meiner Ehe gegeben?“, fragt er den Manager. Das imposante Hotel (Im Buch „Mercury“ genannt), in das William Harding eincheckt, ist das Chelsea 222 West, 23rd Street, nördlich Greenwich Village, südlich des Garmin Districts, New York. Ein Literaten- und Musikerhotel, 1884 erbaut, in einem Viertel mit Buchhandlungen, Galerien, Boutiquen, Musikläden, urban, ein wenig pittoresk, wenn man das für diese Stadt überhaupt so empfinden mag. Aber seine Stimmung ist düster: Ein altes Gebäude, „das sich über einen halben Block erstreckt, geheimnisvoll und schaurig, wie ein Ort, zu dem man kommt, um verrückt zu werden oder sich zu erschießen (…)“. Es gibt anstrengendere Gegenden. Die Straße gesäumt von kleinen Bäumen, nur zwei Fahrspuren, das Hotel indes in der unteren Etage eingerüstet bis an die angrenzende Synagoge. Das ist in ebenso beklagenswertem Zustand wie Hardings Leben. Der Dreissigjährige ist im Filmgeschäft, gerade von einem Aufenthalt in Südafrika zurück. Doch alle Welt weiß von seinen Eskapaden, seine Ehe mit der erfolgreichen Rocksängerin Mary Marquis liegt in den letzten Zügen, seine beiden Kinder ahnen das nahende Drama. Das fast leerstehende Hotel empfängt einen ebenso sinnentleerten wie seelisch ramponierten William Harding, der als gebrochene Figur das Zeug zum Antihelden, der an allem im Leben scheitert, in sich trägt. Und die erste Begegnung mit seiner Frau scheint dies mit einem Ausrufezeichen zu bestätigen: die Tochter bekommt einen Hund. Auftakt zu einem schaurig-schönen Rosenkrieg ist das nicht.
Es bleibt nicht viel Zeit, sein Engagement am Broadway und dessen Ensemble stehen mächtig unter Druck. In sechs knappen Wochen soll Premiere sein. Und dann noch das: zwar ist Harding nicht der einzige Filmschauspieler unter Theaterleuten, der andere aber ist hochdekoriert, über jeden Zweifel erhaben. Und dann ist da eben noch die Sache mit der Presse und seiner scheiternden Ehe. Bereits im Briefing wird deutlich: die Herausforderung für Harding wird gewaltig sein. Die Anforderungen lesen sich wie aus der Poetik des Aristoteles oder den Belehrungen des Aristophanes. Hier wird die Theaterbühne zur pädagogischen Glaskugel für Gesellschaftserziehung: „Shakespeare ist Leben, und Leben ist (…) nicht sanft. Leben ist voller Blut, Pisse, Schweiß, Sperma, Scheidenflüssigkeit und Tränen und ich will das alles auf der Bühne sehen. (…) Ich will, dass das Publikum euch riechen kann. Wenn euer Freund stirbt, will ich hören wie eure Tränen auf den Boden platschen. Wenn ihr kämpft, möchte ich das Adrenalin in meinem Blut spüren. Gewalt elektrisiert einen Raum. Ich will, dass eure Kämpfe so real sind, dass die Leute überlegen, das Theater zu verlassen (…).“
Er ist mittendrin, alle sprechen ihn auf den Artikel in der ‚Post‘ an. Abends in einer heruntergekommenen Bar trifft er auf den Dramaturgen Eugene R. Whitman, der ihm rät: verpiss dich, dann kannst du hinterher richtig reüssieren und der Ehekram erledigt sich von selbst. Hier kann man spekulieren: Hawke hat im „Club der toten Dichter“ den schüchternen Todd Anderson gespielt, der sich an seinem älteren Bruder, der als Jahrgangsbester abgeschnitten hat, abarbeiten muss. Im Ausruf „O Captain! Mein Captain“ zum Schluss des Films zitiert Anderson (Hawke) Walt Whitmans Gedicht (1865), das dem ermordeten Präsidenten Abraham Lincoln gewidmet ist. Hier jedenfalls muss Harding sich an seiner Rolle des Hotspur abarbeiten und diese Arbeit wird ihn prägen.
Whitman und Harding sprechen über dessen zerlumpte Ehe. Whitman: „Die Leute glauben, unerwiderte Liebe würde einem das Herz brechen, aber das stimmt nicht. Unerwiderte Liebe ist ein wonniger Zustand der Melancholie. Die Liebe sterben zu sehen: Das ist eine verirrte Kugel, die eine Rüstung durchschlägt.“ Gelesen als Warnung, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Vorpremiere – und doch ist das Leben immer Premiere
Nach einigen Exzessen fürchtet Harding um seine Stimme bei der nahenden Vorpremiere. Sie wird halten, so viel dazu. Aber die Sorgen, die Nöte, die er aussteht, Verrenkungen, die er anstellt, sind höchst vergnüglich bis betrüblich. Es scheint das Allgemeine im Besonderen hervor – ganz das was Theater uns auch lehren soll: Wir verlieren uns schnell im Beiläufigen, wir hängen das Herz an Nebensächlichkeiten, verlieren das Wesentliche aus dem Blick und neigen dann zu Selbstmitleid. Es ist ein gehöriges Stück Arbeit für den Garderobier Michael Harding wieder auf Kurs zu bringen. Im Minutentakt läuft die Frist für den Bühnenauftritt ab. Das ist schön komponiert, jedoch zu lang und verliert sich oft in Redundanzen, Wendungen und Gedanken, die schon an anderer Stelle aufgetaucht sind. Da wäre weniger mehr gewesen, es hätte der Spannung gedient. Zumal der Auftritt dann furios für den Protagonisten beginnt, er spielt befreit auf und steigert sich bis zu seinem Abgang hervorragend. Doch das Publikum bleibt verhalten, die Manöverkritik des Regisseurs für das Ensemble vernichtend. Was ist nur passiert?
Ein Kollege bringt es mit einer wundervollen Metapher auf den Punkt: „Bei Tschechow wärst du gut – der passt besser zu dir. Tschechow gibt dem Schauspieler die Blätter – und wir müssen den Baum errichten. Shakespeare stellt den ganzen Baum hin – nur die Blätter gehören uns.“ Was für eine Herausforderung für einen Filmschauspieler: Präsenz zeigen und sich doch hinter die Figur zurücknehmen. Im Widerspruch blüht das Leben. Das heißt in der Rolle aufgehen: Sich ganz ihr anverwandeln, zum eigenen Ich jedoch auf gespannte Distanz bleiben. Das macht auch das Entrollen so wichtig.
Premiere
Hawke zieht uns mehr und mehr ins Theatergeschehen hinein und wir durchleben mit dem Protagonisten und seinen Ensemblekollegen persönliche Tiefen, Rituale, Widersinnigkeiten, aber auch diesen berührenden Vorstellungsabend, das Warten auf die Kritiken, die After-Work-Party oder auch die Einsamkeit mitsamt Vanilleglasur. Hier gleitet es ab in Zumutung, in Länge, in immer wieder dieselben (Männer)Plattitüden zu Sex. Nichtsagend vulgär.
Doch das dreht sich ab dem Punkt, an dem Ezekiel sich William gegenüber outet und seine ganze Gebrochenheit in einem leichten Monolog mit dicken Strichen und leichtem Timbre zeichnet. Das ist anrührend und erlösend zugleich, tief und sinnestrunken.
Die Entwicklung bleibt turbulent, das Leben unbehaglich bis untröstlich für William. Und doch kämpft er sich durch. Leider verliert sich der Autor in den späten Aufzügen zu intensiv in den Widrigkeiten für den Protagonisten. Es kommt das Allgemeine, das gerade das Theater zum hohem eigenen Anspruch kürt, abhanden, der Zuschauer und damit der Leser bleiben ratlos zurück. Denn der selbstgesetzte Anspruch wird nicht eingelöst. Da helfen Spitzfindigkeit, Lamoryanz oder Ironie nicht weiter. Es fehlt an Erkenntnisgrund für ein Handeln über den aktuellen Tag hinaus. Eine Katharsis des Helden ist nur schwer auszumachen. Was wird er am morgigen Tag besser machen? Wo wird er sich besser einbringen? Selbstmitleid ist kein Ausweg, so findet es der Autor. Und doch verliert sich die Hauptfigur über weite Strecken gerade darin. Das ist angesichts einer fehlenden Botschaft für das Morgen dem Publikum schwer anzudienen. Den kurz aufscheinenden – kathartischen – Glücksmoment verpasst die Figur: Auf der Bühne erfasst sie für eine Sekunde den eigenen Schatten und sie begreift den Schmerz. Um kurz darauf festzustellen: „Ich hatte meinen Schatten gesehen und kannte meine Gestalt.“ Aber es folgt nichts daraus. Der Leser ratlos.
Alltagssprache in provokanter Tonalität kontrastiert der Theatersprache Shakespeares in ihrer feinsten Setzung, bleibt aber kompositorisch spannungsarm. Spannungsvoll sind der König und Falstaff in ihrem Ringen um die Aufmerksamkeit des Kollegen Harding und dessen schwer zu entfachende Leidenschaft für die Präsenz im Einfachen. Das ist der Clou für den Leser: „In dem Bemühen, auf der Bühne präsent zu sein, können wir unsere Fähigkeit kultivieren, im Leben präsent zu sein.“ Das ist der Jonathan-Franzen-Moment: Wie kommt der Autor in Zeiten von Social Media beim Publikum noch mit einem Klassiker durch? Indem man ihn mit dem verborgenen Leben eines seiner Darsteller verschränkt und daraus die Lehre für das zeitgenössische Publikum ableitet. Was heißt das für mich? Denn Hawke erzählt auch eine Geschichte über das Dazugehören.
Ingo-Maria Langen, Oktober 2021
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Live-Besprechung VHS Ahlen (Stadtbücherei) 26.10.2021, moderiert von der Journalistin und Literaturkennerin Lisa Voß-Löhrmann.
Pitch: Der junge (durchaus erfolgreiche) Schauspieler William Harding stürzt in eine verfrühte Midlifecrisis, zerrüttet seine Ehe und findet unter den Augen Shakespeares im Rahmen einer Broadway-Inszenierung von „Heinrich IV“ in einem langen Kampf wieder Tritt in seinem Leben.
Formale Komposition: Geschrieben der äußeren Form nach als Theater-Script (Fünf Akte, Szenen mit Überschriften, parallel zum Original) verwandelt diese Form sich der Handlung an, die getragen ist von den Proben und den Aufführungen von Shakespeares „Heinrich IV“ am Broadway. Zeitachse: Gegenwart.
Was du verlierst, gehört nicht zu dir.
Der Protagonist trifft in NY ein, sucht ein altes Literaten- und Musikerhotel auf (wahrscheinlich das Chelsea Hotel 222 West, 23rd Street, nördlich Greenwitch Village, südlich vom Garmin District. Urbanes Viertel mit Buchhandlungen, Galerien, Boutiquen, Musikläden). Man hätte fast auch an das Algonquin denken können (44th Street, Manhattan), Dorothy Parker, George S. Kaufman, Ruth Hale, aber es ist wohl das Chelsea (1884 erbaut). Da würde passen, dass Hawke 2001 in eigener Regie das Drama Chelsea Walls inszenierte, indem das Hotel mit seinen Künstlern diese in ihrer selbstverschuldeten Einsamkeit zeigt. Zugleich ist bekannt, dass dieses Hotel inzwischen fast leer steht, nur noch ein Viertel ist dauergemietet, der Rest verwaist. Der Erhalt ist ungewiss. 2008 drehte der US-Regisseur Abel Ferrera einen Dokumentarfilm zum Hotel. Es ist also eine höchst spannende Location und ein imposanter Bau obendrein.
Die erste Wiederbegegnung mit seiner Frau verläuft erwartungsgemäß kühl, die Kinder reagieren freundlich, die Tochter bekommt sogar einen Hund. Würde die Handlung hier stecken bleiben, liefen wir als Leser wohl auf einen Rosenkrieg zu. Doch der erste Twist erfolgt bereits im ersten Akt: die beginnenden Proben zu Heinrich IV. Die Ablenkung der anderen Rollen in der Besetzung des Stücks (Harding selbst soll den Antagonisten des Königs Henry Percy genannt Hotspur spielen) sowie die Zweifel an seiner Person, ebenso die Deutungen des (ergrauten) Regisseurs, leiten einen Perspektivwechsel ein, der eine kleine symbolische Klammer öffnet: Vor sechs Jahren hatte sich das Ehepaar kennenglernt (Mary Marquis eine bekannte Rocksängerin / Tänzerin) und nun sind es sechs Wochen, bis zur Premiere.
Bereits das Briefing macht deutlich: die Herausforderung für William wird gewaltig sein, als einziger Filmschauspieler unter Theaterleuten. Die Anforderungen lesen sich wie aus der Poetik des Aristoteles oder den Belehrungen des Aristophanes. Hier wird die Theaterbühne zur pädagogischen Glaskugel für Gesellschaftserziehung: „Shakespeare ist Leben, und Leben ist (…) nicht sanft. Leben ist voller Blut, Pisse, Schweiß, Sperma, Scheidenflüssigkeit und Tränen und ich will das alles auf der Bühne sehen. (…) Ich will, dass das Publikum euch riechen kann. Wenn euer Freund stirbt, will ich hören wie eure Tränen auf den Boden platschen. Wenn ihr kämpft, möchte ich das Adrenalin in meinem Blut spüren. Gewalt elektrisiert einen Raum. Ich will, dass eure Kämpfe so real sind, dass die Leute überlegen, das Theater zu verlassen (…) [36]
Er ist mittendrin, alle sprechen ihn auf den Artikel in der ‚Post‘ an. Abends in einer heruntergekommenen Bar trifft er auf den Dramaturgen Eugene R. Whitman, der ihm rät: verpiss dich, dann kannst du hinterher richtig reüssieren und der Ehekram erledigt sich von selbst. Hier kann man spekulieren: Hawke hat im „Club der toten Dichter“ den schüchternen Todd Anderson gespielt, der sich an seinem älteren Bruder, der als Jahrgangsbester abgeschnitten hat abarbeiten muss. Im Ausruf „O Captain! Mein Captain“ zum Schluss des Films zitiert Anderson (Hawke) Walt Whitmans Gedicht (1865), das dem ermordeten Präsidenten Abraham Lincoln gewidmet ist. [Gibt es dazu später noch Anknüpfungen?]
Whitman und Harding sprechen über dessen zerlumpte Ehe. Whitman: „Die Leute glauben, unerwiderte Liebe würde einem das Herz brechen, aber das stimmt nicht. Unerwiderte Liebe ist ein wonniger Zustand der Melancholie. Die Liebe sterben zu sehen: Das ist eine verirrte Kugel, die eine Rüstung durchschlägt.“ [50] Gelesen als Warnung, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Vorpremiere – und doch ist das Leben immer Premiere
Nach einigen Exzessen fürchtet Harding um seine Stimme bei der nahenden Vorpremiere. Sie wird halten, so viel dazu. Aber die Sorgen, die Nöte, die er aussteht, Verrenkungen, die er anstellt, sind höchst vergnüglich bis betrüblich. Es scheint das Allgemeine im Besonderen hervor – ganz das was Theater uns auch lehren soll: Wir verlieren uns schnell im Beiläufigen, wir hängen das Herz an Nebensächlichkeiten, verlieren das Wesentliche aus dem Blick und neigen dann zu Selbstmitleid. Es ist ein gehöriges Stück Arbeit für den Garderobier Michael ihn wieder auf Kurs zu bringen. Im Minutentakt läuft die Frist für den Bühnenauftritt ab. Das ist schön komponiert, jedoch zu lang und verliert sich oft in Redundanzen, Wendungen und Gedanken, die schon an anderer Stelle aufgetaucht sind. Da wäre weniger mehr gewesen, es hätte der Spannung gedient. Zumal der Auftritt dann furios für den Protagonisten beginnt, er spielt befreit auf und steigert sich bis zu seinem Abgang hervorragend. Doch das Publikum bleibt verhalten, die Manöverkritik des Regisseurs für das Ensemble vernichtend. Was ist nur passiert?
Ein Kollege bringt es mit einer wundervollen Metapher auf den Punkt: „Bei Tschechow wärst du gut – der passt besser zu dir. Tschechow gibt dem Schauspieler die Blätter – und wir müssen den Baum errichten. Shakespeare stellt den ganzen Baum hin – nur die Blätter gehören uns.“ [110f.] Was für eine Herausforderung für einen Filmschauspieler: Präsenz zeigen und sich doch hinter die Figur zurücknehmen. Im Widerspruch blüht das Leben. Das heißt in der Rolle aufgehen: Sich ganz ihr anverwandeln, zum eigenen Ich jedoch auf gespannte Distanz bleiben. Das macht auch das Entrollen so wichtig.
Die Choreografie des Vorhangs: ein Ritual, den Abend zu feiern, das Publikum auf ein noch höheres Niveau zu heben, das glänzt. Denn was wären die Vorhänge sonst?
Premiere
Der Leser wird mehr und mehr ins Theatergeschehen hineingezogen und durchlebt mit dem Protagonisten und seinen Ensemblekollegen persönliche Tiefen, Rituale, Widersinnigkeiten, aber auch diesen berührenden Vorstellungsabend, das Warten auf die Kritiken, die After-Work-Party oder auch die Einsamkeit mitsamt Vanilleglasur. Hier gleitet es ab in Zumutung, in Länge, in immer wieder dieselben (Männer)Plattitüden zu Sex. Nichtsagend vulgär.
Doch das dreht sich ab dem Punkt, an dem Ezekiel sich William gegenüber outet und seine ganze Gebrochenheit in einem leichten Monolog mit dicken Strichen und leichtem Timbre zeichnet. Das ist anrührend und erlösend zugleich, tief und sinnestrunken. [228f.]
Die Entwicklung bleibt turbulent, das Leben unbehaglich bis untröstlich für William. Und doch kämpft er sich durch. Leider verliert sich der Autor in den späten Aufzügen zu intensiv in den Widrigkeiten für den Protagonisten. Es geht das Allgemeine, das gerade das Theater zum hohem eigenen Anspruch kürt, verloren, lässt den Zuschauer und damit den Leser ratlos zurück. Denn es kann den selbstgesetzten Anspruch nicht einlösen. Da helfen Spitzfindigkeit, Lamoryanz oder Ironie nicht weiter. Es fehlt an Erkenntnisgrund für ein Handeln über den aktuellen Tag hinaus. Eine Katharsis des Helden ist nur schwer auszumachen. Was wird er am morgigen Tag besser machen? Wo wird er sich besser einbringen? Selbstmitleid ist kein Ausweg, so findet es der Autor. Und doch verliert sich die Hauptfigur über weite Strecken gerade darin. Das ist angesichts einer fehlenden Botschaft für das Morgen dem Publikum schwer anzudienen. Den kurz aufscheinenden – kathartischen – Glücksmoment verpasst die Figur: Auf der Bühne erfasst sie für eine Sekunde den eigenen Schatten und sie begreift den Schmerz. Um kurz darauf festzustellen: „Ich hatte meinen Schatten gesehen und kannte meine Gestalt.“ Aber es folgt nichts daraus. Der Leser ratlos. [255/258]
Das Finale: Was macht es aus, im Leben anzukommen? Wie sieht das eigentlich aus? Williams Vater sagt es so: „Glauben ist einfach eine Art, vollkommen offen zu sein für die mögliche Präsenz der Liebe.“ [284 f.] Oder mit Mat. 13, 35: „Ich will meinen Mund auftun und in Gleichnissen reden und will aussprechen, was verborgen war vom Anfang der Welt an.“ [286] Allerdings bleibt die Ratlosigkeit des Lesers bislang bestehen. Und dann folgt doch noch eine konzise Abhandlung zur „Freiheit“ und eine ebenso tiefsinnige wie präzise Erkenntnis zur Frage der Präsenz eines jeden von uns in seinem eigenen Leben. – William Harding findet sich neu, geradewegs in diesem Moment.
Fazit: Alltagssprache in provokanter Tonalität kontrastiert der Theatersprache Shakespeares in ihrer feinsten Setzung, bleibt aber kompositorisch spannungsarm. Spannungsvoll sind der König und Falstaff in ihrem Ringen um die Aufmerksamkeit des Kollegen Harding und dessen schwer zu entfachende Leidenschaft für die Präsenz im Einfachen. Das ist der Clou für den Leser: „In dem Bemühen, auf der Bühne präsent zu sein, können wir unsere Fähigkeit kultivieren, im Leben präsent zu sein.“ [299] Was heißt das für mich? Denn es ist auch eine Geschichte über das „Dazugehören“.
Ingo-Maria Langen, Oktober 2021