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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Gewittergäste

Dirk von Petersdorff
Gewittergäste
Novelle

C.H.Beck Verlag, München, 2022
124 Seiten, 20.- €

 

 

 

„Alle Ahnungen werden wahr!“

Eine (halb) unfreiwillige Einladung, eine Rundreise, ein geheimnisvoller Soldat, ein Gewitterunwetter mitsamt einem gefährlichen Unfall. Das Setting in Brandenburg auf der Route eines NATO-Manövers in Polen könnte nicht komplexer sein für die kleine Form einer Novelle. Von Petersdorf gelingt ein formschönes Kunststück: die Integration sechs scheinbar divergenter Stränge in einer hochverdichteten Erzählung multiperspektivischer Fokalisierung auf dem Weg zu einer späten Klimax. Aus dieser (ersten) formalen Sicht ist das bereits kompositorisch für den Leser höchst reizvoll. Darüber hinaus steht die inhaltliche Ausgestaltung dem in nichts nach.

Das (westdeutsche) Ehepaar Jenny und Friedrich mit dem kleinen Paul und dem Teenager Georg bewohnen ein Haus in Brandenburg, weit draußen auf dem Land. Die Sommerhitze ist unerträglich, sie lastet drückend. Jenny sorgt sich, das Konfliktpotenzial von Rolf und Beate könnte die Stimmung unter die Räder bringen. Und dann noch der (ihr unbekannte) Gast Tine, eine frühe Liebschaft Friedrichs, müsste das Gefühle von Eifersucht in ihr hervorrufen? Sie winkt innerlich ab. Nach dem Eindecken stellt sie fest: ein Platz ist zu viel gedeckt. Eine frühe Präfiguration: ein später Gast, geheimnisvoll und überraschend wird ihn einnehmen, kunstfertig verpuppt.

Noch vor dem physischen Eintreffen scheinen sich Jennys Ahnungen zu bestätigen, Rolf wirkt am Telefon unentspannt: „Häuser in Stadtnähe sind sehr teuer. Hab ich bei einem Makler im Schaufenster studiert. (…) wie lebt ihr denn? Auf dem Land bei uns geht es ganz anders zu, normal, das wisst ihr nicht. Keine Ahnung. Deutschland. Aber dazu heute Abend mehr. Gut, wir kommen zu Fuß. Etwas trinken muss der Mensch.“ Kurz darauf: „Ah ja, es ist ein Doppelhaus. Er beschrieb ihr Haus in Brandenburg und fügte lächelnd hinzu: ich für meinen Teil gehe gern einmal außen ganz um mein Haus herum. Aber der Sekt ist in Ordnung.“ Welten vorgefertigter Empfindungen, ausgeprägter Vorurteile, hemdsärmeliger Klischees treffen aufeinander. Ossis mit gebeugter DDR-Körperhaltung, mit Gewalt übergestülpter Westkultur, vom Auto angefangen, über seltsame Behörden bis zu anderen Sitten, Boden unter den Füssen weg, Gefühl eines nie endenden Umbruchs. Dann die Besserwisser-Wessis: unwissend, eingebildet, mokieren sich über Ortsnamen, kommen nicht selten aus Hinterdupfing, oder stolzieren in Kapitänsjacken mit Goldknöpfen, Halstüchern und gelben Pullis als Stenz daher, weil sie aus Hamburg kommen. Abschätzig kommentierende, selbstgefällige Lackaffen, die sich über Ostfrisuren lächerlich machen oder über die schicke Infrastruktur raunen: „haben wir ja auch alles bezahlt.“ Im Verlauf des Abends werden wir noch des Öfteren Zeuge der Versuche einander gegenseitig zu stigmatisieren oder auch zu übertrumpfen. Etwa in jenem Augenblick, da sich die Russischkenntnisse von Rolf und Beate als nützlich erweisen. Ein Moment gelebten Triumphs.

Keine Rückfahrkarte ins bereits gelebte Leben

Die Versuchung ist da. Immer wieder schweifen die Gedanken Friedrichs und Tines ab zu der Zeit, als sie die Sonne am Brenner für sich hatten, oder die Fahrt nach Prag oder Limonen Duft am Brenner. Stellt sich das Knistern von damals wieder ein, auch in der häuslichen Umgebung? Tine rauscht mit einem prachtvollen Mini heran, sieht blendend aus, ist bemüht um ihn. Doch unaufhaltsam nähern sich die äußeren Ereignisse. Eine NATO-Übung im angrenzenden Polen birgt eine verhängnisvolle Katastrophe, braut sich ganz langsam ein Unwetter zusammen: „Das Gewitter schon vorbei? Der Regen konnte unmöglich ausbleiben, die Schwüle hatte alle Erwartungen geweckt. Aber der Donner trödelte irgendwo herum, und auch die Spannung in der Runde schien nachzulassen. Rolf betrachtete intensiv Georgs Gitarre, die an der Wand lehnte, Beate schien in Gedanken in ganz anderen Regionen zu weilen.“ Doch dann: „fauchte ein Blitz sie zurück in den Raum, der gleichzeitige Donner ließ die von Georg zusammengeschobenen Flaschen klirren. Wie ein Orchester, das nach einem ruhigen Zwischenstück ohne Vorwarnung ins Stakkato übergeht, mit Pauken, Becken, Rasseln, Trompeten und schrillen Geigen, legte das Gewitter wieder los. Voller Schub, im Sekundentakt feuerten die Blitze, die Donner überschnitten sich, Wohnzimmer und Weltall wackelten.“ Schließlich wird die Präfiguration der Exposition noch zugespitzt.

Gedrängt auf einen Tag und eine Nacht entfaltet sich kleines Ost-West-Porträt, dessen konfliktbeladene Grundsituation sich in einem gemeinsamen Abend moralin durchsetzt und immer mal wieder durch humorvolle Einsprengsel auflöst, etwas zerfasert, jedoch spannungsreich und mit kleinen Überraschungen glänzt und so der Kunstform durchaus gerecht wird. Klischees und Vorurteile oszillieren von larmoyant bis auftrumpfend. Geschickt hält von Petersdorff den Spannungsbogen zwischen Marmeladekochen und Rumtopf, bricht immer wieder aus dem Alltagsgeschehen aus, lässt die Hauptfiguren aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraustreten, cum grano salis etwas Wahrheit im Ost-West-Verständnis empfehlen und alle schließlich in einem Finale furioso münden: noch mal Glück gehabt.

Ingo-Maria Langen, Januar 2023