Jan-Werner Müller
Furcht und Freiheit
Für einen anderen Liberalismus
edition suhrkamp
Suhrkamp Verlang, Berlin 2019
170 Seiten, 16,50.- Euro
Zusammenfassung:
Ein pointiertes, zuweilen auch zorniges Essay zu den Entwicklungen des Liberalismusbegriffs. Neben einer Klärung der Begriffsgesichte fesselt besonders der Ansatz Judith Shklars, den Müller in Bezug zu aktuellen Tendenzen, insbesondere der ‚illiberalen Demokratie‘ bringt.
Jan-Werner Müller, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University, New Jersey, USA. 2016 ist sein international beachteter Beitrag „Was ist Populismus?“ erschienen.
Die liberale Idee hat sich überholt (Wladimir Putin 2019)
Zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts könnte diese Aussage angesichts asymmetrischer Geopolitik, dem Erodieren hergebrachter Werteordnungen des 20. Jahrhunderts oder auch des Wiederaufstiegs rechtspopulistischer Politik in Europa ganz einfach abgenickt werden. Dabei verwundert dieser Satz aus dem Munde Putins nicht: gerade er hat ein besonderes Interesse an einer ‚neuen Realität‘. Und mit ihm sind Kaczynski, Orban, Salvini, Le Pen und andere, die teilweise die „illiberale Demokratie“ schon in die Tat umgesetzt haben und dies auch so kommunizieren. Die Herausforderung für die EU zeigt sich im politischen Raum von Rechtsstaatlichkeitsverfahren und Vorwürfen der politischen Einmischung in nationale Souveränität.
Der politische Diskurs und die ihn über Jahrzehnte dominierenden Eliten sind allenthalben unter Druck geraten. Einer Zeitströmung, die lauthals schreit, gefühlten („alternativen“) Fakten ihres persönlichen Kosmos alles andere unterordnet und rhetorisch immun gegen jede Argumentation ist, wird es zunehmend schwerer klassische Diskurse entgegenzuhalten. Diese verpuffen im allgemeinen Empörungsgetöse. Jan-Werner Müller hat dennoch einen Versuch gewagt, sich dem Begriff des Liberalismus aus der politischen Theorie zu nähern und ihn unter Bezugnahme auf Judith Shklar einer aktuellen Deutung zu unterziehen.
Eine politische Kontrapunktlehre?
Angst ist eine politische Größe. Sie zum hermeneutischen Bezugspunkt zu machen, kann zweierlei Motiv haben: Zum einen, emotional-affektive Mechanismen beim Publikum anzusprechen, mit dem Ziel Antworten für eine suggerierte Realität anzubieten, um die Sehnsucht nach Sicherheit oder Einfachheit zu bedienen. Zum anderen kann sie im Anschluss an Shklar dazu dienen, den „Liberalismus der Furcht“ zu thematisieren. Inhalt dieser sehr speziellen Sicht auf Liberalismus ist die schlichte Erkenntnis, dass Menschen aus Furcht anderen Menschen oft Grausamkeiten antun: „Man muss sich vor einer Gesellschaft furchtsamer Menschen fürchten.“ (Shklar) Müller verweist darauf, dass die Entstehung des Begriffs „liberale Demokratie“ in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Gegenposition zur „identitären“ Demokratie auf der rechten Seite (Carl Schmitt) war. Soweit diese Denkrichtung, die eine Identität von Volk und Herrschaft behauptet, heute im politischen Herrschaftsdiskurs genutzt wird, appelliert dieses ‚Verständnis‘ von Demokratie an einen Konstruktivismus, der scheinbare Identitäten stiftet: das homogene Volk, die reine Sprache, die Ausschließlichkeit der (eigenen) Kultur, die Reinheit der Rasse. Fremdheit wird so als Feindschaft gedeutet. Geschlossenheit nach innen bedeutet in dieser Sichtweise Kraft und Solidarität gegen über dem Feind, Wehrhaftigkeit als Rüstzeug für Krieg. Die davon völlig differente Sicht ist diejenige Shklars: Die Freiheit des Einzelnen von der Furcht des Missbrauchs durch die Macht der Mächtigen. Die #Me Too-Bewegung versinnbildlicht das auf eine besonders drastische Weise. Nicht nur der Glamour Hollywoods wurde dekonstruiert, mit ihm teilten praktisch alle Machtstrukturen dasselbe Schicksal, gleich ob auf Regierungsebene oder im Privatleben, bis hin zur Kirche. Erst auf dem Hintergrund eines Liberalismus der Verletzlichkeit wurde die Dimension von Grausamkeit deutlich. Und hier sprechen wir wohlgemerkt von westlichen, sogenannten „Erste Welt-Ländern“. Die Lehre vom (musikalischen) Kontrapunkt, hier in die Gesellschaftswissenschaft übertragen, dem Sinn nach verstanden als die gleichberechtigte Integration verschiedener Stimmen, passt nicht, weil etwa der Rechtspopulismus einer AfD („Flügel“) in weiten Teilen nicht den gesellschaftlichen Wertekonsens teilt, auf dem die Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 fußt. Sie schließt vieles sogar explizit aus, wenn sie von „Umvolkung“ oder ähnlichen, rassistischen Ausfällen fabuliert. Aber: „Die Feststellung von Furcht ist erst einmal ein Anhaltspunkt, sie ist noch kein Argument“, so Müller.
Die Grausamkeit der einen, ist die Furcht der anderen
Der Autor greift diesen Ansatz explizit auf. Mit Shklar betont er die Gewichtung der Opferperspektive. Ihr kann nur genügen, wer einen „Liberalismus der Rechte“ lebt, der dem Einzelnen Schutz bietet und gleichzeitig seine Teilhabe sowie freie Entfaltung der Persönlichkeit sicherstellt. Genau hier verortet Müller die aktuelle Krise der liberalen Demokratie: im Umgang mit rechtspopulistischen Parteien, der Rechtsstaatlichkeits-krise Osteuropas, der Geschlechterfrage. Der provokante bis aggressive Umgang illiberaler Demokratien à la Viktor Orban oder Jaroslaw Kaczynski mit der EU-Kommission wie auch anderen Mitgliedstaaten, erzeugt einen Spaltpilz in der Union, der auch die Briten erfasst hat. Das Empörungsbarometer scheint die einzige Messgröße für die Menschen (Bürger / Wähler) zu sein, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die identitäre oder illiberale Demokratie sucht diesen Ausdruck dann zu kanalisieren und für sich umzumünzen: gegen die vermeintlichen Feinde von außen. „Holt euch die Kontrolle über euer Land zurück!“
Vom Sieg des Liberalismus – und seinem Verlust
Müller gelingt es zu zeigen, dass weder die Behauptung, Francis Fukuyama habe 1990 den Sieg des Liberalismus verkündet, sticht, noch der liberale Siegeszug in der Praxis insbesondere Osteuropas eingetreten ist. Das Gegenteil ist passiert und es treibt noch immer sein Unwesen, die Rückkehr des Nationalismus. Damit schließt sich der Kreis: die Angst als politisches Konzept. Sie wird geschürt, geimpft, mit gefühlten Wahrheiten zu alternativen Fakten gefüttert, um nach Maslow auf der untersten Stufe, den Defizitbedürfnissen, stecken zu bleiben. Sicherheit vor Freiheit. Das ist die praktische Achillesferse der liberalen Demokratie. Sie kann nur dann leben, wenn sich ihre Mitglieder frei von Furcht bis in die oberen Stufen der Pyramide vorarbeiten können. Genau das wird von interessierter, illiberaler Seite in Abrede gestellt. Der Titelkupfer der Originalausgabe des „Leviathan“ Thomas Hobbes‘ versinnbildlicht das, was noch heute die Menschen (in großer Zahl) umtreibt: mit großer Furcht blicken sie auf die Führung des Staates. Die Chancen der bereits vorhandenen Gesellschaft übersehen sie. Kooperation statt Defektion (Gefangenendilemma). Der Staat ist demgegenüber Regelsetzer und Spielregulierer. In diesem Sinne ist „Politik die Sicherung des Einzelnen, der Versuch, ihm ein Leben ohne Furcht (außer der Furcht vor dem Leviathan) zu ermöglichen.“ Aus dem Blickwinkel Judith Shklars ist Liberalismus ein „praktischer Imperativ der Gleichberechtigung“, der auf existenzielle Sicherheit, ein freies, selbstgestaltetes Leben abzielt. In der parlamentarischen Auseinandersetzung darf es dazu auch ruppig zugehen, darf der politische Kontrahent rhetorisch hart angefasst werden, durchaus polarisiert, überspitzt werden. Die rote Linie ergibt sich aus der Verletzlichkeit des Gegenübers: Ihm die politische oder gar die menschliche Legitimität abzusprechen, verbietet sich, ganz zu schweigen davon, ihn als Feind zu behandeln. Demokratie bedeutet Konflikt, nicht Harmonie, aber sie muss von allen als kompromissfähig angesehen werden und dieser Kompromiss muss über alle Parteigrenzen hinweg gesucht und gefunden und gelebt werden. Solche roten Linie, so zeigt Müller im Anschluss an die große Judith Shklar auf, sind (auch im institutionellen Rahmen) spätestens da gegeben, wo die Grausamkeiten der Einen zur Furcht der Anderen werden.
Das ist die einfache, aber ebenso wirkungsmächtige Botschaft von „Furcht und Freiheit“ oder dem „Liberalismus der Furcht“. Nichts würde besser in diese Zeit passen, als dieser Ansatz praktischer sowie pragmatischer Politik.
Fazit: Jan-Werner Müller ist eine überzeugende Darstellung des Liberalismus der Furcht gelungen, die trotz einiger Redundanzen eine konsequente Fortführung des Shkalrschen Kosmos in die aktuellen Debatten des 21. Jahrhunderts aufzeigt. Eine kurzweilige, gleichwohl anspruchsvolle Lektüre für ein politisch interessiertes Publikum, das auch die historischen Bezüge der politischen Theorie nicht missen möchte, um im Deutungshorizont unserer Tage anzukommen.
Ingo-Maria Langen, Februar 2020