Gisa Pauly
Es wär schon eine Lüge wert
Roman
Pendo Verlag / Piper Gruppe
München 2019
300 Seiten TB 16.- €
Zusammenfassung:
Lassen sich aus den deutschen Rechtschreibregeln solche fürs Leben ableiten? Die mindestens sehr eigenwillig geschriebenen Buchungsmails erzeugen ein gewisses Misstrauen in Hotelbesitzerin Anna. Mit dem Eintreffen der einzelnen Gäste scheinen die Zweifel an der Schreibkompetenz in solche an der Redlichkeit zumindest einiger Gäste umzuschlagen. Und dann ermittelt auch noch die Polizei – wie passend zur geplanten, großen Eröffnungsfeier!
Gisa Pauly, bis 1994 Lehrerin, begann mit dem Titel „Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus“. Sie lebt als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster. Ihren Durchbruch feierte sie mit der Reihe ihrer Sylt-Krimis rund um Mamma Carlotta. Damit erobert sie regelmäßig die Spiegel-Bestsellerliste. Nun liegt ihr zweiter Siena-Roman bei Pendo vor.
Das Verlassen eines preußischbraunen Lebens
Bitte stellen Sie sich das mal für einen Moment lang vor: Sie haben die sechzig knapp überschritten, gerade ihren Angetrauten in den blauen Himmel abgegeben, brechen ihre Zelte sofort ab und übersiedeln in die Toskana, genauer nach Siena. Dort, wo Italien die Menschen mit der besten und schönsten Kleidung zeigt, wo Stil und Etikette zählen, eben die Kultur das Leben ausmacht. Ja, denkt sich mancher von Ihnen, wie schön wär’s gewesen. Und von diesem schönen, verrückten, bisweilen auch gefährlichen Leben, erzählt Gisa Pauly in ihrem unnachahmlichen Stil, der zwischen Lakonie und feinem Humor changiert.
Ganz sicher gehört dazu auch ihr „Synästhesie-Projekt“. Sie bekannte dazu im vorigen Jahr, lange gerungen zu haben, um diese Form entwickeln zu können. Dabei tritt zu den bekannten Sinneseindrücken ein weiterer hinzu, der Farben schmeckt, Worte fühlt oder Zahlen mit Farben identifiziert. Insbesondere profitieren davon jene Situationen, die wir oft nur schwer fassen können: die Stimmungen der Menschen. Hier werden diese erlebbar, greifbar gezeigt. Der Leser freut sich über die gelungene Umsetzung.
La vita italiana: farbenprächtige Verhängnisse
Anna, die Hauptfigur, hat eben die Vollendung ihres Lebenstraums geschafft: den Albergo Annina. Ein kleines Hotel, das mit Hilfe von Levi Kailer, einem deutschen Architekten, den die Liebe nach Siena verschlagen hatte und der einfach geblieben ist, nachdem diese erloschen war, erbaut wurde. Kein einfaches Unterfangen wie sich leicht vorstellen lässt. Doch Anna hat alle Widerstände überwunden, sogar ihre leicht schräge Verwandtschaft nebst Raubüberfall auf dem einen oder anderen Weg in ihr Leben integriert. Nun kommt also der große Tag: die Einweihung! Sie blickt mit Genugtuung durch die geöffnete Tür auf die Basilica di San Francesco. Ein wundervolles Bild. Nicht ahnend, dass die zukünftigen Verhängnisse sie mit dem Schicksal dieser Kirche verbinden werden. Kaum, dass ihre Verwandtschaft mit der dunklen Vergangenheit sie überraschend aufsucht, verstrickt sich Anna in deren Machenschaften, beobachtet sie ein heimliches Treffen in der Basilica.
Überhaupt die Verhängnisse des Lebens: davon kann der Commissario ein Lied singen. Besonders das seiner Mutter, einer knapp achtzigjährigen Dame, die vor Energie und Lebenslust nur so sprüht, weshalb sie auch noch Wert auf einen Personal Trainer legt. Und erst recht ihre innige Beziehung zur Basilica. Nur ihr Sohn, dieser Kindskopf, macht nichts aus seinem Leben! Dabei wäre doch gerade diese deutsche Signora die Richtige für ihn. Also leitet sie schon mal kurzerhand etwas Praktisches dazu in die Wege. Eben weil Emilio kein ‚richtiger‘ Italiener sei, heißblütig und unerschrocken. Doch er selbst empfindet sich als purer Italiener: aufgeschlossen, höflich, natürlich freundlich, extrem verbindlich. Er kann alles von ihm Erwartete zusichern und es gleich im nächsten Moment wieder vergessen. Jetzt versetzt ihn ein Routineanruf aus Deutschland in höchste Alarmbereitschaft: Ein gesuchter Schwerkrimineller könnte im Albergo Annina Unterschlupf suchen. Und Emilio wäre gezwungen mit all seinen Kollegen das Hotel auf den Kopf zu stellen. Dazu noch die Eifersüchteleien mit diesem Ex-Dings-Polizisten-Rentner aus Deutschland: „Was fand Anna nur an ihm? Warum durfte Konrad Kailer mit ihr zu Mittag essen und er nicht? Trotz seiner Slipper von Magnanni, seiner Amiri-Jeans und der rasierten Waden! Dass er Konrad Kailer eigentlich sympathisch fand, musste er unbedingt vergessen, sonst wäre sein Ärger nicht zu ertragen. Oder seine Eifersucht? Santo dio! No! Ein Mann wie Emilio Fontana war nicht eifersüchtig!“
Doch die Verhängnisse des Lebens reißen nicht ab, eben meldet das Kloster den Verlust einer bedeutenden Skulptur, die von unschätzbarem Wert für den Trost der Gläubigen in Siena ist. Was folgt, ist nicht nur eine Kaskade von Ereignissen, die keinesfalls vorweggenommen werden sollen, sondern eine Milieustudie, die mit Akkuratesse, Detailfreude und jener Brise feinsinnigem Humor gesalzen ist, die den Leser kraftvoll in den Sog der Geschichte ihrer Figuren zieht. Gisa Pauly fesselt in den Kirchenszenen auf eine Weise, die an Eco und seine Rose erinnert. Die vom Leser imaginierten Bilder der Basilica, wie Sienas insgesamt, treffen auf eine Realität, die dem Buch entsprungen sein könnte. Das gleichfalls illustre Kirchenpersonal erzeugt dazu jene Lebendigkeit, die wir alle kennen, die wir in unseren Kirchen und Gemeinden jedoch oft vermissen. Eben jene Mischung aus Glaube, Hingabe, Zweifel und pragmatischem Ernst, der das Leben lebenswert macht.
Lachen und Leiden – zwei ungleiche Schwestern
Es folgt ein ebenso lebensnahes wie schräges Ensemble an Figuren, das unterschiedlicher nicht sein könnte und gerade deshalb das Interesse des Lesers bindet. Das Pittoreske der Stadt mit ihren Bezugspunkten realer Örtlichkeiten wechselt sich ab mit den Verwicklungen und Widrigkeiten des ganz normalen Lebens in einer der schönsten Städte Italiens. Lieben, Leiden, Leben – Der salutierende Ex-Marine Dustin Trump (Verwandtschaft mit dem Präsidenten) oder die verschreckte Gurke, die ihr Heil im Dekolletee der französischen Dame sucht. Das eigenwillige Pärchen, das ein Zimmer mit „Bart“ bestellt hatte und sich in der Basilica trauen lassen möchte. Ganz abgesehen von den Spießbürgern aus Köln, die auf die heilige Katharina vertrauen wollen, stattdessen aber vom Schicksal heimgesucht werden und durch unglückliche Umstände ihre Hotelbesitzerin bei tollkühnen, scheinbar amourösen Abenteuern im Garten des Hotels erwischen – schon wieder!
Immer neue Verhängnisse, vielleicht auch Verwicklungen, nehmen ihren Ausgang im Albergo Annina, bis schließlich in einem großen italienischen Drama alles zu kulminieren scheint. Doch das Leben ist schlauer als die unauffällige Dramaturgie den Leser glauben machen will. – Aber mit der Rechtschreibung hat es am Ende dann doch so seine Bewandtnis.
Fazit: Eine gelungene Fortsetzung des Vorgängers „Jeder lügt so gut er kann“, mit der Geschichte um Anna Wilders und ihre Brüder, Nachbarn, Geschäftsleute und Verehrer, auf amüsante und raffinierte Weise fortgeführt, die den Leser zur Lektüre verführt, ohne den ersten Band kennen zu müssen. Wir freuen uns auf weitere sieneser Abenteuer!
Ingo-Maria Langen, August 2019