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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Die Wiedererfindung der Nation

Aleida Assmann
Die Wiedererfindung der Nation
Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen

C.H.Beck Verlag, München 2020
334 Seiten, br., 18.- €

Aleida Assmann, em. Professorin für Anglisktik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Mehrfach ausgezeichnete Preisträgerin, u.a. mit A.H.Heineken-Preis für Geschichte der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften (2014), dem Karl-Jaspers-Preis sowie dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2018 – gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann).

Feature

Vorbei und vorüber?

Das Unerhörte ereignet sich nicht so oft. Oder hören wir nicht genau genug zu? Betrachten wir nur das Offensichtliche und meinen damit ausschließlich die eigene Sichtweise? Wie tief müssen wir graben, um andere Schichten (von uns) freizulegen? Das ist durchaus dialektisch zu verstehen. In Zeiten einer Pandemie scheint das Leben auf dem Kopf zu stehen. Wir fürchten uns (zu Recht) vor einem Kleinstlebewesen, das uns mit seiner Macht die Bescheidenheit des menschlichen Lebens verdeutlicht. Es hält uns in Atem, der Eifer und Kämpfe um politische Deutungshoheiten treten dahinter zurück. – Aber sie werden wiederkehren.

Denn sie sind weder vorbei noch vorüber. Der Bedürfnishorizont des Menschen ist vielfältig. Gruppeninteressen dominieren weite Teile der Gesellschaften. Der alte Zwist zwischen Modernisierungstheoretikern und Konservativen schien bis zur Wiedervereinigung als ausgemachte Sache (mindestens bei den Linken): die Nation als politische Kategorie ist passé. Sie passte nicht mehr in die neuen Konzepte, mit denen man sich zugleich von den alten Formeln wie Heimat, Ehre, Stolz und Volksgemeinschaft befreien konnte. Da Geschichte jedoch nie ein linearer Prozess ist, erleben wir seit der „Nachwendezeit“ und dem Beginn des Millenniums (Osterweiterung der EU) ein Wiederaufleben nationaler Tradition. Ungarn, Polen, Italien, Frankreich, quer durch die EU werden nationalistische Positionen wieder gesellschaftsfähig, so als hätte es die gemeinsamen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte nicht gegeben. Scheinbare Bestätigung finden die Tendenzen noch in der Pandemie, wo der Nationalstaat mit seinen Grenzen (!) die Lage kontrolliert und die Bürger beschützt. Das stimmt so zwar nicht, ist aber ein wohlgelittenes Motiv derzeit. Weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Kampf um Deutungshoheit

Lässt sich aus der Allgemeinen Staatstheorie und deren normativer Begrifflichkeit ein Ansatz gewinnen, ein Gemeinwesen nach seiner „Stofflichkeit“ zu bestimmen? Zunächst behandelt die Staatslehre die Ziele, Aufgaben, Entstehung und Funktionalität eines Staates. Dazu gehören neben dem Staatsvolk das Staatsgebiet und die Staatsgewalt. Ebenso fallen darunter die Legitimität von Herrschaft, Staatsangehörigkeit oder auch die Trennung von Kirche und Staat. Assmann beleuchtet das Modell von A. Thiele (Staat als geistige Form), dem sich die Angehörigen mittels Vernunftakt ihr Verbundensein zuschreiben. Auf der Ebene der Begriffstheorie eine diskurswürdige Bestimmung. In der Praxis bricht sie aber am Problem, das sie lösen möchte.

Denn die Kategorie „Nation – Nationalstaat“ hat nicht nur ein vielfältiges Erbe, sie ruht auch auf einem Geschichtsverständnis, das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als problematisch bewertet werden muss. Die ursprüngliche Idee des Vormärz, sich vom Ständestaat zu lösen, die Verheißungen der Französischen Revolution und der Menschrechte in einen Bürgerstaat zu gießen und damit der alten Adelsherrschaft die Macht aus den Händen zu nehmen, litt an Geburtsfehlern in allen europäischen Ländern. Für das Deutsche Reich galt das zumal – als sogenannte „verspätete Nation“. Die Formgebung war da schon von anderen Nationalstaaten vorgegeben: Die Nation bezeugt ein homogenes Volk, eine reine Geschichte mit viel heroischem Glanz, einem Sendungsauftrag und militärischem Schutz vor der feindlichen Umwelt. Der Deutsche Flottenverein mit seiner über eine Million Mitglieder war ein Paradigma gesellschaftlicher Nationalismusentwicklung, bei der es um Freund-Feind, Hegemonie und weltwirtschaftliche Ressourcen ging. Ihr gesellschaftliches Kontinuum von übersteigertem Pathos, Rassentheorie, Blut und Boden-Phantasien bildete den Mechanismus für die Entwicklung bis hin zum Zweiten Weltkrieg.

Assmann zeigt wie sich das (negative)diesem Prozess zugrundeliegende Thymos-Konzept, dem sich auch Francis Fukuyama zunächst angeschlossen hatte, um damit die Theorie zur Identitätspolitik zu rahmen, auswirkte. Fukuyama griff dabei auf die seit Bruno Snell („Die Entdeckung des Geistes“) entwickelte und E.R. Dodds fortgeschriebene These zurück, dass die antiken Menschen sich eher aus ihren Gemütslagen, dem Nous oder den Göttern gesteuert sahen, jedoch noch nicht über ein kritisch-selbstreflexives Bewusstsein verfügten. Daraus ließ Sloterdijk verkürzt einen „glücklichen Bellizismus“ in der Welt des Homer werden. Gunnar Hindrichs hat dem explizit widersprochen und das klassische Homerbild zurechtgerückt. Gleichwohl hat Marc Jongen (AfD) das verzerrte Bild aufgenommen und noch weiter auf die „männlichen“ Tugenden von Kampf und Krieg zugespitzt. Hier wird ein „Bellizismus“ unserer Gesellschaft probiert, indem er die dunklen Seiten wie Zorn, Wut, Aggression, Heldentum einspeist und damit alte Geschlechterrollen bedient, um seine Freund-Feind-Apologetik wieder hoffähig zu machen. Damit zielt die AfD auf jene „Wutbürger“, die ihre negativen (Verlust)Gefühle weder kompensieren noch kanalisieren können. Der banalen und vulgären Grenzüberschreitungssprache wird ein samtenes Kleid übergezogen, um sich den Anschein von Anstand geben zu können.

Rechtskonservative (-extreme) Kreise benötigen die Polarität von Gut und Böse, Freund und Feind, um ihre politische Dualität verkaufen zu können: Hier das homogene Wir, dort das heterogene (feindliche) Ihr. Wir verkörpern den „Volkswillen“, brauchen die „erinnerungspolitische Wende“, müssen uns gegen die „Umvolkung“ wenden. Die gefährlichen und zerstörerischen Überlegungen eines Carl Schmitt liegen da nah: Ungleiches ist ungleich zu behandeln, Freund muss von (innerem) Feind geschieden werden können, woran sich politisches Denken messe. Da konnte es nur einen „Feind“ geben: die Juden. Assmann zitiert Raphael Gross mit seiner Studie „Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre“, in der dieser die tief antisemitische Verwurzlung Schmitts zeigt und damit die Rezeptionsforschung in weiten Teilen ad absurdum führt. Dieser Hintergrund, geschickt genutzt als geistige Bildungsbasis in Verbindung mit jenen Grenzüberschreitungen muss beim geneigten Publikum aus Pegida, Verschwörungsfantasten, Impfgegnern oder auch esoterisch inspirierten Menschen auf fruchtbaren Boden fallen. Die Aneignung des Subjektiven, die Verherrlichung „alternativer Fakten“, die innere Gefühlswelt als absoluter Maßstab, eingebunden in eine öffentliche Empörungsspirale, erklärt mindestens einen Teil des Zulaufs an die rechten Ränder. Brachland für Demagogen, die mit Geschick einen blühenden Acker daraus bewirtschaften, gesunde Früchte verheißen, denen man sich gerne anschließt auf dem Weg ins Paradies.

Narrativ und Bindungswirkung

Die Rückkehr rechter Presse, die Hoffähigkeit rechter Politik bis in die Mitte der Gesellschaft ermöglicht auch eine Re-Nationalisierung und Polarisierung. In den USA hat es inzwischen mit Marjorie Taylor Greene eine offen Verschwörungsmythen verbreitende Abgeordnete der GOP ins Repräsentantenhaus geschafft. Bei uns liegt die AfD mit ihren Vertretern im Trend. Vergleichbare Entwicklungen in ganz Europa. Was also bewegt die Menschen dazu? Assmann verweist darauf, dass die Menschen neben Fakten, Erklärungen und Symbolen vor allem ein Narrativ brauchen. Das muss nicht immer konsistent sein, aber nachvollziehbar, es muss die nationalen Entwicklungen einschließen und eine Repräsentation bieten, unter der sich sammeln lässt. Genau das versteht die Rechte besser als andere Teile der Politik. Blut und Boden, Helden, Vaterland: Begriffe, die den Modernisierungstheoretikern ein Graus sind, die aber Identifikation vermitteln. Ein Gegen-Narrativ ist nicht in Sicht. Wie müsste es lauten? Europa der Vaterländer? Vereinigte Staaten von Europa? Das Neue Europa? Wie soll ein integratives Modell gestaltet sein,  das etwa Migranten ermöglicht ihre eigene Geschichte einzubringen und zugleich ein gewürdigter Teil der neuen (alten) Gesellschaft zu werden? Da sieht Assmann die EU im Vorteil: Lernen aus der Vergangenheit. Menschen eint (emotional) nicht nur das Verbindenden, sondern auch das Trennende. Aufheben können wir das nur, indem wir würdigen, was an Würde verloren ging (etwa im Dialog mit der Wiedervereinigung für die Menschen im Osten), um eine neue Bindungsmöglichkeit für die Gesamtgesellschaft zu schaffen. Emotionalität ist dazu sowohl Treibriemen als auch Klebstoff. Beides muss sich allerdings auf die richtige Weise mit den richtigen Themen koppeln. Zusammenwachsen kann nur, was sich mit den Wurzeln verbindet. Dazu gehört die Anerkennung von Unterschied ohne Wertung, ein Angebot zur Gemeinsamkeit und die öffentliche Würdigung über tatsächliches Gestalten.

Fazit: Die Kulturwissenschaftlerin Assmann zeigt die vielschichtigen Erosionsvarianten europäischer wie deutscher Gesellschaftsgeschichte zum Nationsbegriff auf, ordnet diese den historischen Entwicklungen zu und erklärt die Irrungen und Wirrungen des Nationalismus, die uns wieder einzuholen scheinen. Dagegen hilft ihrer Ansicht nach ein Narrativ, das offen ist, diverse Anknüpfungsformen bereithält, sich seiner selbst nie zu sicher weiter auf der Suche bleibt, individuellen Schutz bietet und für die Nachbarn immer eine offene Tür. Vielfalt in der Einheit des demokratischen Rechtsstaates und der Überzeugung der Menschenrechte als Grundlage für ein widerständiges Europa innen wie außen.

Ingo-Maria Langen, Februar 2021