Gesuino Némus
Die Theologie des Wildschweins
Sardinien-Krimi
Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz
Julia Eisele Verlags GmbH, München 2021
285 Seiten, 16.- €
Gesuino Némus, sardisch für Jesus Niemand. Ein Pseudonym, ausgedacht von Matteo Locci, 1958 in Jerzu auf Sardinien geboren. Seinen fiktiven Erzähler spickt er mit eigenen biografischen Details. In Italien wurde Locci mehrfach mit Preisen ausgezeichnet u.a. mit dem Premio Campiello und dem John-Fante-Preis.
Feature
Die große Insel im Mittelmeer. Seit der Antike besiedelt und verzeichnet, erinnerte deren Form die Griechen an einen Fußabdruck. Bekannt ist sie für ihr Klima und die sardische Küche, selbstverständlich auch für die eigene Sprache. Die Küche, der Wein, der Schnaps: Peccorino, Fregula, Cannonau, Limoncello, Fil di Ferro (Eisenfaden-Schnaps). Schon sind wir mittendrin im sardischen Kolorit, zumindest was das Dorf Telévras anbelangt. Düfte, Geschmäcker, Gebräuche und eine bis ins Kleinste verschworene Dorfgemeinschaft. Kaum ein Fremder, der je in sie vorgelassen werden könnte.
Es gibt eine Metzgerei, zwei Bars, die Kirche samt Pfarrhaus und -hof, die Polizeikaserne im Oberdorf. Und einen Geheimgang mit einer Nische. Ansonsten Schäferromantik, viel Armut (und Niedertracht), großartige Landschaft und ein paar Banditen. Streitigkeiten werden untereinander geregelt. So archaisch und atavistisch dies auf den ersten Blick anmutet: Neben dem sardischen Carabiniere Piras, von dem eine unausgesprochene Loyalität gegenüber den Bewohnern und ihren Ritualen erwartet wird, ist die eigentliche Instanz der Pfarrer Don Cossu. Nicht nur das geistliche Haupt, sondern zugleich historische Instanz, weltlicher Moderator und Beschützer seiner (un)heiligen Herde. So das zunächst noch übersichtliche Setting eines Krimi-Kammerspiels der anderen Art.
Hochwürden – bitte übernehmen Sie!
Zu Beginn der Handlung schreiben wir das Jahr 1969 am Vorabend der Mondlandung. Die Entwicklung des Zeitstrahls wird uns bis in die späten Achtziger führen. Dazwischen liegt das ruhige Grundrauschen einer Insel mit einem behäbigen Lebenstakt, der vom heutigen Overtourism noch weit entfernt ist. So verwundert es nicht, dass Maresciallo De Stefani, der piemontesische Chef von Carabiniere Piras, es mit Messerstechereien, Viehdiebstahl, Entführung und ja auch mit Mord zu tun hat. Gegen die eingeschworene Dorfgemeinschaft ermittelt er mit bescheidenem Erfolg: Aufklärungsquote null. Es gibt jedoch eine Instanz, die gleich einem mächtigen Segen hinter den Kulissen wirkt: der Jesuit und Dorfpfarrer Don Egisto Cossu. Ein vierschrötiger Gottesmann wie er im Buch damaliger Zeit geschrieben steht. Lebendig, mit wachem Geist, der Lust am Widerspruch, dem Herrn und seiner Kirche unverbrüchlich verbunden, den Menschen in herzlicher, oft auch kantiger Schroffheit zugewandt. Ruht dahinter doch die Sorge um die Gemeinschaft. Er liebt die Wildschweinjagd, gutes Essen und Trinken, anregende Gespräche mit dem Veterinär Dr. Pòddighe ebenso wie mit seinem Schützling Matteo. Ein Junge mit Hochbegabung, der es im Leben noch zu was bringen würde. Cossu sieht ihn schon in einem Orden, wenn nur nicht sein Widerspruchsgeist so ausgeprägt wäre. An wen ihn das wohl erinnert? Doch auch ein anderer Junge ist hochbegabt, nur erkennt es keiner. Der kleine Gesuino, der nicht spricht, dafür aber jeden Tag „ein Buch schreibt“ wie Don Cossu es nennt. Dieser Junge wächst im Verlauf der Handlung zur Zentralfigur heran, der die anderen Personen nur zuarbeiten, freilich ohne das je zu ahnen – mit Ausnahme von Don Cossu. Gleich einer Schnitzeljagd erfährt der Leser über dessen Tagebucheinträge – „Die Theologie des Wildschweins“ – verschwiegene Kenntnisse über die Menschen und nicht zuletzt über die Hergänge zu drei Todesfällen, die kaum aufzuklären scheinen. Zwei davon die Eltern seines Schützlings Matteo.
Eine heikle Gemengelage für Maresciallo De Stefani. Der bekannte Alkoholiker Bachisio Trudino wird in den Bergen nur knapp unter der Grasnarbe gefunden, seine Witwe, aufgeknüpft an einem Balken in ihrer Hütte und schließlich der berüchtigte Ganove Peppinu Golòvru, der sich immer wieder den Fängen der Justiz entziehen kann, bis sich im Zusammenhang mit dem seltsamen Verschwinden von Matteo auch um seinen Hals die Schlinge zieht. Und dann ist da noch der Bänkelsänger Antoni Esòglu, dessen „manichäisches“ Sprichwort: „Ich habe Putzus Kumpan gesehen, wie er mit Hacke, Spaten und Gabel einen Graben aushob“, ihm den Ruf eines Schwachkopfs eingebracht hat. Er wird geduldet, kaum beachtet, hat sein Auskommen. Und er wird zur Scharnierstelle zu Gesuino, in dessen für den Leser erst spät zu entdeckender Selbstreferenzialität der Schlüssel zur Auflösung der Rätsel – durchaus tragisch – verborgen liegt.
Doch zunächst versucht Maresciallo De Stefani über Don Cossu hinter mögliche Geheimnisse der Bewohner der Insel zu kommen, um endlich eine Spur vorweisen zu können, sitzt ihm doch sein Chef im Nacken, der die Lage vor Ort möglichst schnell geklärt sehen will. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. Und dann verschwindet Matteo spurlos. Das ganze Dorf macht sich auf die Suche nach ihm.
Invertierte Zeitbögen
Der Spannungsbogen der Handlung erhält nun, ein Drittel ist etwa verstrichen, einen zusätzlichen Boost: Über das Formprinzip wird ein weiteres Element eingefügt, das so nicht zu erwarten war. Der Autor tritt über sein Pseudonym selbst in die Handlung ein. Hochspannend, aber komplex! Ins allgemeine Geschehen eingeflochten nimmt hier die zweite Schnitzeljagd an Fahrt auf, allerdings wird dies erst mit der Zeit deutlich. Inzwischen springt die Handlung um gut dreißig Jahre voraus, wieder um zwanzig zurück und umgekehrt. Diese herausfordernde Komposition ist möglich, weil der aufmerksame Leser den Überblick behalten kann: Matteo Locci bleibt ganz nah an seinen Figuren, deren Perspektive sich dem Leser so direkt erschließt. Das angesprochene Formprinzip fügt als auktorialer Erzähler noch zusätzliche Informations- und Spannungsmomente hinzu, die helfen, sich im dichter werden Dschungel der Ermittlungen zurecht zu finden.
Jetzt tritt eine weitere Figur hinzu, die sich als „Maieutiker“ für den kleinen Gesuino erweisen wird. Das ist neben der Auktorialebene ein zusätzlicher Kunstgriff, der den Entwicklungsgang für diese Figur erst richtig in Gang setzt. Der Journalist Carlo Schengen, der für eine Reisemagazin aus dem Norden schreibt, wird mitten in die Ermittlungen hineingezogen, obschon man ihm zunächst kaum Vertrauen entgegenbringt und er selbst kaum Interesse an dieser Form der Kooperation zeigt. Er versteht sich jedoch auf anhieb mit dem „stummen“ Gesui, gemeinsam entwickeln sie ein Band, das die Handlung von nun an über weite Strecken trägt. Mit einfühlsamer Optik, zugleich aber kriminalistischem Gespür kommt Schengen, der später noch in eine andere Funktion für den Jungen hineinwächst, der Wahrheit langsam näher. Der Junge wird ihm Guide für ebenso verschwiegene wie pittoreske Orte der Insel. Im Hintergrund koordiniert von Don Cossu. Er ahnt das dunkle Geheimnis auch dieses hochbegabten Jungen, kommt jedoch nicht an ihn heran. Carlo Schengen scheint näher dran.
Derweil muss der Priester aber auch auf sich selbst Acht geben. Sein Bischof sitzt ihm seit geraumer Zeit im Nacken, allzu lose und unverblümt sind seine Predigten der Diözese ein Dorn im Auge. Eine Versetzung nicht ausgeschlossen. Ein Desaster für Telévras eingeschlossen. Denn Don Cossu kann nicht nur Schimpfen wie der berüchtigte Rohrspatz, er kann auch schweigen, ganz so wie es das Gesetz der Ormertà verlangt und die Bewohner es bei ihren kleinen und größeren Gaunereien untereinander praktizieren und wie es Carabiniere Piras ebenso stillschweigend duldet. Man regelt die Dinge untereinander oder aber Don Cossu mischt sich ein. Doch diesmal scheint alles aus dem Ruder zu laufen.
Fazit: Mit „Die Theologie des Wildschweins“ – dessen Auflösung mit 95 Schritten am Kirchenprotal an Luthers Thesen erinnert – ist Matteo Locci ein luzider und bilderreicher Sardinien-Krimi geglückt, der allerdings nicht mit leichter Unterhaltungslektüre zu verwechseln ist. Der Leser wird über die verschiedenen Formkompositionen und die häufigen Perspektivwechsel gefordert, er sollte mit Muße und der Spürnase eines Trüffelschweins dem Text auf den Leib rücken. Dann wird Lesevergnügen erdig. Erleichtert, das sei hinzugefügt, würde der textliche Zugang über ein Figurentableau mit Funktion und Schnittstelle untereinander. So ist im Grunde der Klappentext ja schon angelegt.
Ingo-Maria Langen, Juli 2021