Steven Uhly
Die Summe des Ganzen
Roman
Secession Verlag, Berlin 2022
156 Seiten, 22.- €
Chronik einer angekündigten Sünde
Das Unsagbare sagen, das Unvorstellbare zeigen, dem Opfer die Stimme geben. Beginnend mit dem Synodalen Weg bis zum Skandal in der größten deutschen Erzdiözese Köln um sogenannte rechtsfehlerhafte Gutachten und die Instrumentalisierung des Betroffenenbeirates, multum non multi. Lärm verbreiten dient den Interessen bestimmter Kreise ebenso wie das große mea culpa, mea maxima culpa. Beides verdeckt was fehlt: die Stimme der Opfer. Steven Uhly legt mit „Die Summe des Ganzen“ eine belletristische Behandlung des Themas vor, angelegt als Kammerspiel, hoch dramatisch in seiner Exposition, fügen sich gleich einem Schnittmuster die Entwicklungsschritte zu einem Kleidungsstück, einer Soutane, einem liturgischen Gewand oder auch dem schlichten schwarzen Anzug mit dem kleinen Kreuz im Revers. Symbole einer rituellen Ordnung, die Hierarchien und Machtgefälle lebt, in deren Gefüge Missbrauch möglich und zu camouflieren ist.
Das Setting ist eingebunden zwischen zwei Eckpfeilern der römisch-katholischen Kirche: dem Bußsakrament und dem Sakrament der Weihe, ergänzt um den Zölibat. Der Beichtstuhl wird in seiner Funktion zum dunklen Ort, der das erwartbare Beichtgeschehen invertiert, die Erwartungshaltung bricht. Der „vergitterte Schrank“ (Goethe) wird zum Ort der Vorbereitung eines Tatgeschehens, das zwischen bigotter Frömmigkeit, sklavischer Disziplin und dem Hexenkessel eruptiver Leidenschaften oszilliert.
In der Pfarrkirche von Hortaleza, einem Barrio von Madrid, versieht der spanische Padre Roque de Guzmán seinen befriedeten Kirchendienst. Jeden Nachmittag außer Sonntag eine Verabredung mit der Zeit. Roque erwartet die Sünder zum Beichtgespräch. Neben den anderen Pflichten von der Liturgie, der Predigt, Taufen oder Hochzeit inklusive Beerdigungen ist die Beichte fester Bestandteil seiner Arbeit an und mit der Gemeinde. Mit professioneller Gelassenheit, die oft schon in Langeweile gleitet, arbeitet er sein ego te absolvo ab. Die Sünden, überschaubar: hier der Seitensprung, dort die misshandelte Ehefrau, der Streit, die Eifersucht, eine Vorteilsnahme, ein Diebstahl. Mal erteilt Roque zehn Bußgebete und ein paar Vaterunser, mal auch etwas mehr. Besonders bei den Misshandlungen ringt er mit sich.
Dann kommt dieser Mittwochnachmittag. Ein Fremder, gehetzt, mit leiser Stimme, betritt den vergitterten Schrank. Im Stakkato bringt der einige Wortfetzen heraus, verlässt fluchtartig den Rüstort der Seele. Bereits am folgenden Nachmittag taucht dieser Lucas Hernández wieder auf. Er berichtet alsbald von einem Nachhilfeschüler in Mathematik, dem er sehr nah sei, dessen Gegenwart ihn als Nachhilfelehrer sehr intensiv berühre. Ein wundervoller Junge, engelsgleich fast, mit dessen Seele er sich zu verstricken droht, Camouflage einer angekündigten Sünde.
Was für eine Beichte soll das werden? Eine sattsame Zeitreihe, deren Abschluss in der Ferne liegt, ganz so wie die Lossprechung? Der Padre ist unschlüssig, verunsichert, verwirrt. Denn seine Geduld mit dem Sünder könnte auf eine Teilnahme an dessen Sünde hinauslaufen. Er bemerkt eine sonderbare Erregung bei sich, eine steigende Ungeduld und das drängende Bedürfnis endlich mehr zu erfahren, gleich einem Sog, der ihn hinein-, vielleicht gar hinabzieht in ein Geschehen, das er nicht wird kontrollieren können. Doch auch der Sünder weiß sich nicht auf der sicheren Seite. Wird er die Plagen seines Herzens aus den vergangen zwanzig Jahren ummünzen können in die zu begehende Sünde? Und wird Gott „die perfideste aller Sünden, diejenige, die von langer Hand vorbedacht und geplant war“ vergeben?
Für den Padre wird diese Beichte zunehmend zu einem Vexier. Eine Plage mit dem entweder maulfaulen oder philosophisch reflektierten Sünder, der Roque mit eschatologischen Fragen konfrontiert, Fragen, die sich instrumentalisiert gegen die Kirche lesen lassen, ein Frevler. Die Intimität des Beichtstuhls, ersonnen, Berührungen zwischen Beichtvater und Beichtendem zu unterbinden, wird zum psychologischen Folterkasten, mithilfe dessen der Sünder Lucas das Lebensgeheimnis des Padre mit jedem neuen Gespräch ein Stück weiter dekonstruiert. Ein raffiniert gesponnenes Netz aus Anspielungen, ethischen Fragen nach Gut und Böse, bis zu körpervollen Bildern der plastizierten Sünde, bereiten der Verführung den Boden. Das fortstürzende Gehäuse der Zeit ist für den Padre alsbald nicht mehr bewohnbar. Seine Flucht zur Dogmatik strandet in Lächerlichkeit.
Gottesverdunstung
Der Leser erlebt eine doppelte Verschiebung: horizontal in der Figurenzentrierung von Lucas zu Roque und vertikal zu Gott. Mit Beginn der Verschiebung eskaliert die Situation. Ziel der Begierde ist Armando, der zugleich Nachhilfeschüler von Lucas als auch Chormitglied von Roque ist. In beiden Rollen erscheint der Junge als außergewöhnlich empfindsam. Die Schilderung der körperlichen Begehrlichkeit aus Lucas Sicht erweckt im Padre ein tief verschüttet geglaubtes Verlangen, dessen undeutliche Empfindung er bis zum ersten Beichtkontakt mit Lucas ignorieren konnte, das sich nun aber mit voller Wucht Bahn bricht. Schicht um Schicht wird die dunkle Nacht der Seele Roques offenbar: der Priesterkragen als Gewand des Bösen, das nach außen tugendhaft erscheint und doch die Gläubigen zu täuschen vermag. Seine vormalige Selbstverleugnung schlägt um in triebversessene Selbstermächtigung. Je intensiver die Verstrickung der beiden Männer, desto größer die Gefahr für den Jungen.
Und doch erfährt der Plot noch einen entscheidenden Twist, der so unerwartet wie klug komponiert, „Die Summe des Ganzen“ in noch bedrückenderem Licht erscheinen lässt. Wir empfinden die Gotteskrise, die Gottvergessenheit in diesem Padre, der sich mehr und mehr in seinen Leidenschaften verliert.
Der kammerspielartige Fokus des Beichtstuhls, nur wenig Spielorte außerhalb, eine afrikanische Reflexionsfigur für Lucas und namenloses Publikum in Madrid, bewirken in ihrer je eigenen Dichte eine anschwellende Beklemmung in Sprache und Szene bis hin zu einem furiosen Finale. Geschickt spielt Uhly mit den Erwartungshaltungen der Figuren wie auch denen des Lesers, bemüht die feinsinnige Sprache raffiniert die Manipulation auf beiden Seiten. Die Verstrickung der Männer in Schuld wird zur Allegorie im Ringen um Erlösung, die auch mit einer ethischen Haltung versagt bleiben kann. Von anderem ganz zu schweigen. Wenn Glauben, sich erinnern heißt, dann straucheln die Figuren in einem heiligen Akt in der diesseitigen Vergangenheit, ohne an die Heilserwartung in der Gegenwart anknüpfen zu können.
Ingo-Maria Langen, August 2022