Colson Whitehead
Die Nickel Boys
Roman
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
btb Verlag, Random House Verlagsgruppe, München 2021
236 Seiten, 12.- €
LA Carl Hanser Verlag, München 2019
Colson Wihtehead zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen US-amerikanischen Autoren der Gegenwartsliteratur. Im Anschluss an ein Harvard-Studium arbeitete er für die New York Times, Harpers’s und Granta. Preise: Whiting Writers Award (2000), Young Lion’s Fiction Award (2002), National Book Award (2016 für „Underground Railroad“) und 2017: der Pulitzer-Preis. Diesen erhielt er für die „Nickel Boys“ 2020 ein weiteres Mal.
Feature
Dramatik und Drastik haben das Jahr 2020 dominiert. Mit ausufernder Gewalt gegen Schwarze in den USA und den Protesten von Black Lives Matter wurden wir in Europa aus unserem komfortablen Kulturschlaf geweckt. Ein präpotenter Operettenpräsident, der mit narzistischem Gespür Spaltung, Hass und Gewaltbereitschaft sät, dessen Rassismus offen funktional-instrumentell für den jeweiligen Zweck genutzt wird und eine Grand Old Party, die ihm nicht in den Arm fällt, sondern bis zum bitteren Ende Verschwörungsmythen und (untergründig) Rassenfeindschaft bedient. Wohlgemerkt: angesichts dessen, dass es keine Rassen gibt. Die Bilder dieser Präsidentschaft haben uns auf abscheuliche Weise vor Augen geführt, was Samuel P. Huntigton mit seinem „Clash of Civilizations“ auf die Welt extrapoliert hatte: Bruchlinienkriege entlang kultureller Räume. Westliche Kultur als organisierte Gewaltanwendung. Das ließe sich rückbinden auf die US-amerikanische Kultur: struktureller und institutionalisierter Rassismus, Diffamierung und Delegitimierung schwarzer Bevölkerungskreise (etwa über Wahlkreiszuschnitte, behördliche Hemmnisse, Einschüchterung). Bis hin zu politischen Adressen gegenüber dem KKK oder den sogenannten „Proud Boys“, sich zurück- und bereitzuhalten. Dieses Klima der aufreizend zu politischem Hass und Gewalt anstachelnden Botschaften förderte nicht nur die gesellschaftliche Spaltung, sondern nährte weißen Überlegenheitswahn, gepaart mit christlichem Fundamentalismus (Alt Right und Evangelikale). Im Interview mit Sandra Kegel (FAZ 3. Juni 2020) spricht Whitehead illusionslos davon, hier werde sich nie etwas ändern. Alle Auflehnung etwa gegen die Fälle von Polizeigewalt habe (auf Bundesebene) zu nichts geführt. Es gebe eine Zeit der Aufregung um das jeweilige Ereignis herum, dann falle dies wieder dem Vergessen anheim. Ob das unter Biden / Harris anders wird? Whitehead macht für den strukturellen Rassismus nicht nur die Polizeigewalt verantwortlich, sondern auch die mangelhafte Schulbildung, die fehlerhafte Unterrichtung über die Wurzel und den Verlauf der Sklaverei, was mangelndem Bewusstsein an dieser Stelle Vorschub leistet. Und letztlich auch der Sprachlosigkeit untereinander. Die afro-amerikanische Soziologin Kris Marsh von der University of Maryland schätzt den bereits eingetretenen Schaden als kaum mehr zu beheben ein. Denn die gesellschaftlichen Gruppen redeten zwar miteinander, sie hörten einander aber nicht zu. Das hängt auch mit einer soziologischen Identitätsfalle zusammen: Trump gab gerade jenen Schichten ein positives Bewusstsein zurück, die mit ihrer Scham ihren Platz nicht mehr im gesellschaftlichen Gefüge verorten zu können haderten, so die Soziologin von der University of Berkeley, Arlie Russel Hochschild („Fremd in ihrem Land“, Campus 2017). Strukturwandel ist das Stichwort dazu und der erfordert Investition in Bildung.
Bildung ist auch in den „Nickel Boys“ der Schlüssel. Florida in den sechziger Jahren: Der überdurchschnittlich begabte sechzehnjährige Elwood lebt bei seiner Großmutter im schwarzen Ghetto von Tallahassee. Sie erzieht ihn streng und achtet darauf, dass er seine Fähigkeiten entfalten kann. Nur zögernd stimmt sie zu, ihn mit dreizehn bei Mr. Marconi in dessen Tabak- und Zeitschriftenladen zur Aushilfe arbeiten zu lassen. Nach der Schule und am Wochenende. Die altehrwürdigen Zeitschriften Jet, The Crisis oder The Chicago Defender haben es ihm besonders angetan. Das Interesse für die schwarze Bürgerrechtsbewegung war geweckt und sollte ihn nicht mehr loslassen. Die Hälfte des Geldes kassiert Harriet ein, spart für das College. Am Tag der Einschreibung steigt Elwood in das falsche Auto. Das war gestohlen und Elwood wird ohne faires Verfahren in die „Nickel Akademy“ überstellt. In dieser Besserungsanstalt werden junge Weiße und Schwarze bis zum achtzehnten Lebensjahr auf die Gesellschaft hin neu ausgerichtet. In Wirklichkeit ist dieser Ort einer von Traumata: die Jungs werden systematisch missbraucht, misshandelt, erniedrigt, zur Flucht veranlasst oder sogar getötet. Nach außen ein Hort der pädagogischen und humanen Zuwendung für benachteiligte junge Menschen, ist die Anstalt nach innen ein dunkler Folterkeller, dessen psychotische, manische und sadistische Aufseher selbst oft kaum Bildung vorweisen, dafür aber umso mehr menschliche Abgründe. Und die es verstehen, die Spannungen zwischen den Hautfarben zu instrumentalisieren wie auch in den Gruppen selbst Zwietracht zu sähen, um ihre Ziele zu verwirklichen.
Ist Elwood, dieser so strebsame, angepasste und zielorientierte Junge zunächst noch der Hoffnung, durch gutes Verhalten zu punkten und vielleicht nur ein Semester zu verlieren, gerät er alsbald in einen Strudel von Gewalt, Intrige und Bosheit, denen er versucht standzuhalten. „Elwood war schmalschultrig und spindeldürr, und er sorgte sich wegen seiner teuren Brille“. Sein Gerechtigkeitssinn verhindert es, den Diebstahl von Süßigkeiten in Mr. Marconis Laden zuzulassen, ganz so wie er sich im Nickel für einen kleineren Jungen einsetzt, den andere drangsalieren, gleich welche Folgen das für ihn haben wird. Denn es hätte seine Würde verletzt, wäre er untätig geblieben.
Alsbald macht Elwood mit der „Eiscreme-Fabrik“ Bekanntschaft, das die schwarzen Jungs das Weiße Haus nannten. Heraus kamen die Delinquenten mit entsprechenden Blessuren, die naturgemäß bei weißen Jungs anders aussahen als bei schwarzen. So „riet Desmond Elwood im Flüsterton, sich nach dem Beginn der Prügel ja nicht zu rühren. Man habe eine Kerbe in den Riemen geschnitten, und wenn man nicht stillhalte, reiße sie das Fleisch auf.“ Elwood zählt die Hiebe der Jungs, die vor ihm gezüchtigt werden, bei siebzig hört er auf zu zählen. Und ihm fällt erstmals die Bibel auf dem Tisch auf. Dann trifft es ihn: „Der Luftzug des Ventilators hatte Blut aufgewirbelt und auf die Wände gespritzt. Die Akustik war bizarr – einerseits übertönte der Ventilator die Schreie der Jungs, andererseits waren die Befehle klar und deutlich zu verstehen, wenn man direkt danebenstand: Am Bett festhalten und nicht loslassen. Wenn du muckst, gibt’s noch mehr Hiebe. Halt deine scheiß Fresse, Nigger.“
Die „Academy“ zeigt sich immer deutlicher als Spiegel der Gesellschaft, in der Schwarze keine Relevanz haben, keine Bürger, keine Menschen sind. Der Unterschied zwischen ‚draußen‘ und ‚drinnen‘ ist der, drinnen braucht sich keiner mehr den Anschein des guten Menschen zu geben. Gleichwohl denkt Elwood noch lange im System, versucht seinen „Abschluss“ zu machen, will unbedingt ans College. Doch irgendwann wird ihm klar, keiner wird sich um dich bemühen, du kommst hier nicht raus, nicht bevor du achtzehn bist. Von da an geht er seinen beschwerlichen Weg bewusst, ohne sich zu verbiegen, aber auch ohne die Illusion seine Lebensträume, die so nah der Wirklichkeit gewesen waren, je umsetzen zu können. Nicht nach dem Aufenthalt im Nickel. Und es würde noch schlimmer kommen für ihn.
Mit einem bemerkenswerten Twist wechselt der Plot ins New York der vergangenen Jahre. Raum und Zeit sind gebogen vom Damals ins Jetzt. Die Wunden vom Nickel geblieben. Und doch begegnen wir nun einem anderen Menschen. Einem, der es geschafft hat sich durchzubeißen in der harten Welt da draußen, der seine Wunden über die Zeit gerettet hat, um nicht zu vergessen und der seinen alten Bruder im Leiden ehrt. Er kehrt für einen Besuch zurück ins Nickel, das längst geschlossen ist, in dem aber Ausgrabungsarbeiten stattfinden, der Friedhof Boot Hill freigelegt wird. Forensische Anthropologen suche die Überreste von Jungen aus dem Nickel und sie finden Knochenbrüche, eingeschlagene Schädel, Brustkörbe voller Schrotkugeln…
Fazit: Die Nickel Boys ist politische Belletristik im klassischen, ja im besten Sinn. Sie schmerzt, sie empört, sie verstört, sie schreit und wird dabei niemals laut, droht dem Leser nicht mit dem Zeigefinger, berührt ihn umso tiefer, je bedrückender das Schicksal der Jungs wie des Protagonisten wird. Mit kühler Sprache, analytisch ohne Künstlichkeit zu erzeugen, seziert Wihtehead die Abgründe eines Systems, deren Angehörige wir alle sind, mit denen wir uns eingerichtet, dem wir die Absolution erteilt haben, für unser gutes Gewissen. Schließlich muss die Gesellschaft mit dem „Bösen“ irgendwo hin. Je früher man da eingreift, desto besser. In Europa sollten wir dieselbe Scham drüber empfinden wie dort: Ein Blick in die Missbrauchsgeschichte von Erziehungsheimen und anderen ‚pädagogischen‘ Anstalten der Nachkriegszeit führt kaum andere Analysen zutage als bei Wihtehead.
Ingo-Maria Langen, Januar 2021