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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Die Historiker und die Verfassung

Dieter Grimm
Die Historiker und die Verfassung
Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes

Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung

C.H.Beck, München 2022
358 Seiten, 34.- €

 

 

Die Entwicklungsleistungen eines Gemeinwesens leiten sich in vergleichbarer Weise aus einer Sozialisation ab, die es dem Einzelnen zuvörderst ermöglicht sich in der Gemeinschaft zurechtzufinden. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das gleichnamige Diktum auf den Punkt formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Pointiert gesagt, hob Böckenförde darauf ab, als Staat das Wagnis einzugehen, Humankapital zu schaffen, ohne die dafür traditionell gewachsenen Mittel (hier: die christliche Religion) nutzen zu wollen. Vielmehr sollten die unterschiedlichen Interessengruppen mit ihrem je eingeständigem (moralischen) Selbstverständnis zur Integration von Gesellschaft beitragen (Gerhard Czermak). Böckenförde präzisierte später, für die freiheitliche Ordnung brauche es ein Band („Gemeinsinn“), als gemeinschaftlichen Konsens der Bürger im (säkularen) Staat, um Kultur zu erhalten und fortzuschreiben, was zu frühen Zeiten dem Dreiklang von Christentum, Aufklärung und Humanismus zukam. – Gleich ob nun ein allgemeiner Werteverfall (E. Noelle-Neumann) beklagt, oder eine Wertesynthese (H. Klages) beschrieben wurde, in der deutschen Nachkriegsgeschichte sind mehrfache Bedeutungswandel feststellbar.

Zu diesen Bedeutungswandeln (lies: Wertewandel) trägt bis in unsere Tage und wohl noch weit darüber hinaus eine Institution bei, die gemeinhin damit kaum in Verbindung gebracht wird: das Bundesverfassungsgericht. Dieter Grimm, ehemaliger Bundesverfassungsrichter, schließt mit dem vorliegenden Titel eine Lücke: In der Auswertung der historiographischen Literatur zur Bundesrepublik bildet die Verfassungsgeschichte in ihrer speziellen Ausprägung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Leerstelle, die es zu schließen galt. Selbst umfangreiche Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik (etwa Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1987 ff.) streifen diesen Gesichts- und Geschichtspunkt eher, als ihn erschöpfend zu erörtern. Nun ließe sich fragen, welchen Bedeutungsverlust die geneigte Öffentlichkeit damit erfährt?

Die Herausbildung verschiedener Spezialgeschichten wie Kunst-, Gesellschafts- oder Technikgeschichte bezieht eine solche der Verfassung in der Geschichtswissenschaft nicht ein. Ein Versäumnis? Schließlich bedient diesen Teil die Rechtswissenschaft. Grimm zeigt jedoch auf: diese Ausblendung ist systematischer Fehlbetrachtung geschuldet. Der Autor erläutert diesen Umstand mit der Gestaltungskraft des Gerichts. Diese uns heute so vertraute wie verlässliche Größe in der gesellschaftspolitischen Entwicklung war für das Gericht nicht bereits von Beginn an abzusehen.

Das Bundesverfassungsgericht kennt keinen unmittelbaren Vorläufer. Der Weimarer Staatsgerichtshof dient dem kaum, waren seine Einflussmöglichkeiten doch bescheidener als beim Karlsruher Gericht. Gleichwohl ging der Errichtung des Gerichts und seiner Kompetenzweite ein erbitterter politischer Streit voraus. Thomas Dehler als Justizminister wollte die Unterstellung des Gerichts unter sein Ressort, die Bundesregierung war dem nicht abgeneigt. Die Opposition beharrte demgegenüber auf der Eigenständigkeit der Institution, letztlich besiegelt im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, verbunden mit der Zuschreibung eines obersten Staatsorgans. Damit war die Ausgestaltung der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts (Art. 97 GG) besiegelt: eigene Haushalts- und Personalhoheit. Grimm beschreibt diese Entwicklung als hochpolitisch, mit allen Finessen und Tricks aus dem parlamentarischen Alltag. Die politische Gestaltungskraft der Opposition setzte einen nachdrücklichen Akzent in der noch jungen Republik und drückte dem weiteren Geschehen ihren Stempel auf. Im Zuge der wiederum strittigen Beratungen zum Besetzungsmechanismus der Spruchkörper war es Kurt-Georg Kiesinger, der seine Partei überzeugte einen Kompromiss zu suchen, um eine möglichst breite Basis für das neue Staatsorgan zu erschließen und dessen Reputation einen gesunden Vorschuss leistete. Die beiden Senate beschäftigen sich zum einen mit Organverfahren, zum anderen mit Verfassungsbeschwerden der Bürger (oder sonstiger am Rechtsgeschehen teilnehmender Dritter).

Die Hintergründe, Entstehungsbedingungen und langfristigen Auswirkungen eines Gerichts, das gerade höchste Staatsorgane mit seiner Rechtsprechung binden kann, wird von den Historikern jedoch nur marginal berücksichtigt, kritisiert Grimm. Es hätte ihre Perspektive weiten können, zumal für die jüngeren Werke gilt, dass neben den Protokollen zum GG auch die Unterlagen zur Errichtung des Gerichts zugängig sind.

Politik und richterliche Rechtsfortbildung

Bereits sehr frühe Urteile sollten richtungsweisend für die gesellschaftspolitische Entwicklung der jungen Republik werden. Sie wurden kanonisch für die deutsche Rechtswissenschaft, wirkten jedoch darüber hinaus auch international in ihrer Argumentationsweise und fanden Eingang in andere Rechtsordnungen. Am Gegenstand der Grundrechte lässt sich exemplarisch die Fernwirkung der Rechtsprechung des Gerichts studieren. Konzipiert als Abwehrrechte gegenüber dem Staat wies das Gericht diesem zusätzlich noch Schutzpflichten zu, die der Gesetzgeber zu erfüllen habe. Paradigmatisch wurde 1958 der Fall Lüth. Erich Lüth, Vorsitzender des Hamburger Senats, rief privat zum Boykott der deutschen Kinobesitzer auf, um den Film des zweifelhaft entnazifizierten Regisseurs Veit Harlan „Unsterbliche Geliebte“ zu verhindern. Die Produzenten und Verleiher (nicht Harlan selbst) klagten gegen den Aufruf auf Unterlassung wegen sittenwidriger Schädigung (§826 BGB). Lüth verteidigte sich mit dem Argument, dass die Meinungsfreiheit (Art. 5, Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1, Abs. 3 GG) die gesamte Staatsgewalt binde. Dem hielten die Kläger entgegen, die Grundrechte entfalteten nur Bindungswirkung im Verhältnis zum Staat, nicht aber unter Privatleuten, da gelte das Zivilrecht. Die Zivilinstanzen schlossen sich dem an. Darauf erhob Lüth Verfassungsbeschwerde. Das Urteil beantwortete mit der sogenannten Drittwirkungsfrage, ob die Grundrechte auch im Verhältnis zu anderen Rechtsteilnehmern jenseits des Staates gelten. In diesem Sinn stellte das Gericht fest, neben der vertikalen sei auch eine horizontale Bindung anzunehmen, die darauf hinauslaufe, dass keine andere Rechtsnorm im Widerspruch zu den Grundrechten stehen dürfe. Das Privatrecht müsse demnach im Lichte der Grundrechte und deren Ausstrahlungswirkung verstanden werden. Nicht nur der Normtext, sondern auch seine Auslegung und Anwendung waren damit erfasst. Zwar gelten auch die Grundrechte nicht schrankenlos. Vorliegend argumentierte der Senat jedoch, die Meinungsfreiheit sei unmittelbar mit der Persönlichkeit verknüpft und in einer freiheitlich demokratischen Staatsordnung unmittelbar konstitutiv. Hätte die allgemeine Schranke des §826 BGB gegriffen, wäre das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung leergelaufen, die wirtschaftlichen Interessen der Kläger überwogen. Das Gericht kam aber zu der Auffassung, zwar liege eine Schädigung der Interessen der Filmgesellschaften vor, aber eben keine sittenwidrige, der Boykottaufruf (dem ja niemand gezwungen war zu folgen), von der Meinungsfreiheit gedeckt, die mögliche wirtschaftliche Beeinträchtigung hinzunehmen. In einer Zeit, in der die Nachkriegsgesellschaft den Nationalsozialismus noch beschwieg, verwehrte das Gericht eine Unterdrückung des freien Wortes.

Die Übernahme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Verwaltungsrecht, als Bindungswirkung der Exekutive, ins Staatsverfassungsrecht stellte eine weitere Fernwirkung der Rechtsprechung dar. Vom preußischen Oberverwaltungsgericht zur Festigung des Rechtsstaatsprinzips entworfen, mit dem Ziel staatliche (hier: polizeiliche) Gewalt gegenüber dem Bürger zu begrenzen, mithin den Ermessensspielraum der Behörden zu beschneiden, hob das Bundesverfassungsgericht diesen Grundsatz auf Verfassungsebene. Hatte das OVG das Kriterium der Erforderlichkeit geschaffen, fügte das BVerfG nun jenes der Angemessenheit hinzu. Dieser Formel zufolge müssen Gesetze deshalb nicht nur die Grundrechtsbeschränkungen beachten, sondern darüber hinaus einen legitimen Zweck verfolgen, dieser muss geeignet und erforderlich sein sowie einen angemessenen Ausgleich zwischen der Einschränkung eines Grundrechts und dessen Ausgleich gegenüber dem Nutzen des Regelwerks festlegen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zum Anker des Freiheitsschutzes geworden.

An weiteren Fallbeispielen wird die Fernwirkung der Entscheidungen des BVerfG deutlich. Mit den Jahren zeigt sich der Grundrechtsschutz immer „feinkörniger, weil das Prinzip der Verhältnismäßigkeit den Gesetzgeber zu der Frage zwingt, welche Mittel zur Erreichung eines bestimmten Gemeinwohlzwecks nötig sind und welche die Zweckerreichung überschreiten (das sogenannte Übermaßverbot)“, denn der Gesetzgeber muss fortlaufend neue Abwägungen vornehmen, ob der immer dezidiertere Grundrechtsschutz bei seinem Handeln tangiert wird.

An ganz unterschiedlichen Stellen weist Grimm auf, der Blick durch die (juristische) Verfassungsperspektive hätte den Geschichtswerken eine Horizonterweiterung ermöglicht: Die weitgreifende verfassungsrechtliche Verrechtlichung des Alltags der Bürger mit ihrer unmittelbaren Rückwirkung auf politisches, staatliches Handeln war mit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht ausgemacht, hat inzwischen aber nahezu alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdrungen und mit zum Wertewandel beigetragen. Kritisch anzumerken bleibt, ob die Herausforderung für Historiker mit der juristischen Brille auf die Verfassungsgeschichte zu sehen, nicht zu gewollt erscheint. Denn die Rechtswissenschaft als eigenständiges Fachgebiet scheint zu anspruchsvoll, als sie ohne fachspezifische Kompetenz miteinzubeziehen. Angemessen wäre da sicherlich eine Ko-Autorenschaft, die beide Fächer zusammenführt und so die gewünschte Horizonterweiterung ermöglicht. Mit diesem Band hat Grimm in paradigmatischer Weise auf diese Leerstelle hingewiesen. Dem Buch sei eine vielfältige und interessierte Leserschaft beschieden, aus deren Mitte sich vielleicht ein neuerlicher Lückenschluss bewerkstelligen lässt.

Ingo-Maria Langen, Oktober 2022