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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Die aufgeregte Gesellschaft

Philipp Hübl
Die aufgeregte Gesellschaft
Wie Emotionen unsere Moral prägen
und die Polarisierung verstärken

bpb, Bonn 2020 – Sonderausgabe –
429 Seiten, 7.- €

Feature

Philipp Hübl studierte Philosophie und Sprachwissenschaften in Berlin, Berkley, NY und Oxford. Es folgten Lehraufträge u.a. in Aachen, Berlin und Stuttgart. Seit 2017 schreibt er die Kolumne „Hübls Aufklärung“ im Philosophie Magazin.

Vernunft als blinder Passagier auf dem Rücken der Emotionen?

Wer unter uns in den zurückliegenden Monaten vielleicht gehofft hatte, nicht nur die Pandemie würde sich buchstäblich in Luft auflösen, sondern auch die Wellen verstiegener oder umherirrender Bürger, die gegen alles und jedes mit Wutprotesten vorgehen, Corona-Leugner, Impfgegner, Rechtsradikale oder Esoteriker, sie fanden sich zusammen bei Protesten in Berlin, die Bilder dazu dürften noch in Erinnerung sein, der sieht sich getäuscht. Eine kleine, aber lautstarke Minderheit, die zu viel Aufmerksamkeit bekommt.

Philipp Hübl stellt in seinem Buch die Frage nach den Ursachen der zunehmenden Polarisierung und dem markanten Rechtsruck bei der Abgabe der Wahlstimme. Seine Antwort lautet auf den Punkt gebracht: Unsere emotionale Sozialisation legt fest, welche politische Tendenz wir im Verlauf unseres Lebens entwickeln. Eines der wichtigsten Gefühle wird dabei der Ekel sein. Er stellt die Weiche hin zum Konservatismus. Wie kommt das?

Unser moralisches Gehäuse ist emotional. Angst, Wut, Ekel, Scham, Schuld, sie alle triggern unser moralisches Empfinden. Oft ist kein Überlegen, schon gar kein Wägen von Argumenten nötig (noch möglich), denn die Empörung über einen Sachverhalt drückt sich unmittelbar in unserem moralischen Empfinden aus. Wir können nicht leugnen, was unsere Basis ausmacht: Wir neigen zum Stammesdenken, vertrauen Hierarchien (Gehlen hat das in seinem soziologischen Modell über die Institutionen gut verdeutlicht), sehnen uns nach Anerkennung und Zugehörigkeit, empfinden Angst und Abwehr gegenüber dem Unbekannten und Fremden. Das ist unsere biologische Disposition.

Bei Moral geht es immer um gut oder böse, richtig oder falsch. Moral polarisiert. Die Bruchlinie, die wir zwischen Traditionalisten (Konservativen) und Progressiven (Liberalen) sehen, wird derzeit durch disruptive Entwicklungen vergrößert. Der Kampf um moralische Identität, die Frage nach den besten Werten und Normen für eine Gesellschaft und für ein gutes Leben, sie führt zu einer inquisitorischen Atmosphäre. Dieser Abfolge scheinen wir hilflos ausgeliefert, schließlich diktieren unsere Gefühle unsere Moral. Allerdings gäbe es die probate Möglichkeit der Selbsterkenntnis, mittels der wir die Autonomie über unser Handeln wiedererlangen können. Zu selten machen wir davon Gebrauch findet der Autor.

Grundprinzipien der Werteorientierung

Hübl zeigt sechs Prinzipien auf, die bestimmen in welche Richtung wir uns entwickeln. Zum einen: Fürsorge, Fairness, Freiheit (für die Progressiven / Liberalen). Zum anderen: Autorität, Loyalität, Reinheit (für die Traditionalisten / Konservativen). Werden diese verletzt, entsteht Abscheu (Ekel) aus der moralischer Zorn folgt (Empörung). Man könnte auch sagen ein Unwille, eine Ungerechtigkeit zu ertragen, die vom sittlichen Gefühl verurteilt wird. Etwa die Missachtung einer sozialen Norm, die wir als entwürdigend erleben (Bsp. der auf eine Provokation erfolgende Shitstorm). Wir reagieren allerdings nur dann auf diese Weise, sofern zugleich unser Selbstbild (Identität) an diesen Legitimationskonflikt gebunden ist. Selbstkontrolle bedeutet dann, das Selbstbild von einem empörenden Sachverhalt zu entbinden, um die personale Autonomie wiederherzustellen. Das ist im Einzelfall problematisch.

Unser persönliches Prägemuster wird je zur Hälfte bestimmt über die genetische Anlage und unsere Sozialisationserfahrung (etwa die Erziehung). Werden wir in ein Umfeld gebettet, das Offenheit schätzt und fördert, das Extrovertiertheit belohnt, zeigen die BIG-5-Merkmale, die sich lebenslang nicht verändern, einen aufgeschlossenen Menschen, der sich künstlerisch versucht, viel liest und sich in praktischen Arbeiten ausprobiert. Als Gegenentwurf dient das strenge Pflichtbewusstsein, die buchstäbliche Gewissenhaftigkeit (Verlässlichkeit) in Pünktlichkeit, Gehorsam, Arbeitstreue. Personen mit hoher Neigung zu Verträglichkeit meiden Konflikte, suchen nach Harmonie und Bindung und verurteilen Aggression. Entscheidend ist nun wie das bewertet wird: Emotionale Stabilität oder Labilität deuten darauf hin, dass wir unterschiedlich stark auf unser soziales Umfeld angewiesen sind, um uns verorten zu können. Die Gewissenhaften, emotional stabilen sind häufig im Beruf erfolgreicher. Hübl: „Die fünf Persönlichkeitsmerkmale wirken sich allerdings auf die gesamte Lebensführung aus. Sind Menschen offen oder verschlossen? Leicht zu verunsichern oder nicht aus der Ruhe zu bringen? Ist ihnen Pflichterfüllung wichtig, Fürsorge oder Autonomie? Oder alles zusammen? Der Schritt von diesen grundlegenden Charaktermerkmalen zu moralischen und politischen Vorlieben ist nicht weit.“

Im Zusammenhang mit dem Datenskandal zum Brexit-Referendum 2016 wurde sogenanntes Micro-Tragetting eingesetzt. Mittels spezieller Software sucht eine Maschine aus einer Big-Data-Quelle jene Profile der Nutzer von Social-Media heraus, die anfällig für Manipulationen scheinen, die außerdem eine Grundtendenz zu konservativen Positionen erkennen lassen. Diese Profile werden dann gezielt mit (Falsch)Nachrichten versorgt, um ihre Bereitschaft zu steigern, ein gewünschtes Wahlverhalten zu zeigen. Abgebildet werden die dazugehörigen Daten etwa in den USA in der „Datenbank der Wahrheit“, die gespeist von Kirchen und den Evangelikalen, in einer Cloud vorgehalten wird. Zumeist ohne das Wissen der Betroffenen. Die Firma Data Trust wirbt offen damit, Wählerdaten für die Republikaner zu sammeln, aufzubereiten und für Kampagnen zur Verfügung zu stellen. Oder die Marketingaktivitäten für Kirchen (gloo.us/insights), die gezielt psychisch labile Personen anspricht, um damit Zugang zu diesen zu bekommen. Verknüpft mit anderen Datenbanken landesweit können so beliebige Personen(gruppen) für politische Botschaften gewonnen werden. Ein nahezu komplettes Netz für jeden (Wahl)Bürger. Social-Complete-Profiling. Die Praktiken zielen dabei darauf ab, gerade verletzliche Personen zu identifizieren und diese mit anderen Menschen, die sie stützen, zusammenzubringen, ein Erlebnis der Stärke und Zukunftserwartung. Danach erfolgt die Einbindung in den religiös-soziologischen Kontext (Evangelisierung) und die Verknüpfung zur politischen Rechten. Letztliches Ziel ist die Überwindung des politischen Liberalismus zur dauerhaften Installation des Konservatismus. Eine Strategie wie sie auch ISIS, Taliban und andere anwenden. Nur dass dies aus unserer demokratischen Mitte heraus geschieht (cf. Council for National Policy).

Emotionen bilden Lebensthemen ab

Unser emotionales Erleben ist weitgehend biologisch angelegt. Gefühle wie Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel, Scham, Gewissensbisse, Neid, Eifersucht oder Hoffnung sind Basiserlebnisse, die wir früh kennenlernen und die wir später kulturell überformen. Von besonderem Interesse sind dabei Angst und Ekel, weil sie nachhaltigen Steuerungscharakter entfalten. Angst bestimmt uns dazu, vorsichtig zu sein, uns mehr als nötig rückzuversichern, möglicherweise uns zu bewaffnen. Tunnelblick, Verteidigungsstrategie, Freund-Feind-Denken. Wir schließen uns in der Enge ein. Reagieren irrational. Verfallen falsch-positiv oder falsch-negativ Zuordnungen. Und der Ekel, der inzwischen ein persönliches Warnmerkmal jenseits einer körperlichen Verunreinigung ist, treibt uns in eine politische Polarisierung von allem das fremd, unseren Werten und der Gruppe widersprechend ist. Zugehörigkeit ist hier der Schlüssel: Wir teilen die Werte der Gruppe, um nicht ausgeschlossen zu sein und sichern so unser Überleben nach innen wie nach außen (Feinde). Das ist Stammesdenken. Der Stamm ist aber immer noch unsere Basis. Soziologisch durchaus different: progressive Eliten treffen sich in Zirkeln, die multiethnisch und demokratieoffen sich auch um kleinere Strömungen in der Gesellschaft sorgen. Konservative reagieren auf die Komplexität und globale Vernetzung mit Abschottung und der Verteidigung der Scholle (ihrer Werte). Die Dynamiken beim Aufeinandertreffen dieser Gruppen können Ekel hervorrufen. Paart dieser sich mit Schuld, weil beim Gegenüber ein (objektives) Vergehen beobachtet wurde, entsteht daraus Abscheu. Tritt Aggression hinzu sind häufig Übersprungshandlungen zu beobachten. Die aktuellen Entwicklungen der BLM-Bewegung sind anschaulich dafür.

Die Globalisierung ist ein weiteres Kampffeld. Konservative bis reaktionäre Kreise (in den USA besonders Evangelikale) versuchen Modernisierungsschübe zurückzudrehen, die heimische Scholle aufzuwerten, andere und anderes dagegen abzuwerten (MAGA). Trump und seine Gefolgschaft zeigen dies. Aber auch der National Council of Policy, in dem rechtskonservative bis nationalistische Kreise (etwa die Koch-Brüder) mit konservativen religiösen Gruppen aus dem Bibel-Belt im Süden kooperieren und so versuchen, die Wählerbasis für eine totale politische Übernahme dieser Kräfte zu schmieden. Eine Verfassungsänderung wäre nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt der Supreme Court wäre ebenfalls stramm konservativ besetzt. Trump hat dazu Amy Cony Barrett als Kandidatinnen ausersehen, die noch vor der Wahl im November ins Amt hieven will. Eine Dominanz konservativer Politik auf Jahrzehnte steht diesem Gericht bevor. Ruth Bader Ginsburg werden wir noch lange nachtrauern.

Die Infektionsmetapher

Die von den Nazis gebrauchte Metapher für die Stigmatisierung der Juden findet sich in Kreisen wie den „Identitären“, der „Altright“, der „Reichsbürger“. Sie hat die Funktion das Narrativ des Antisemitismus lebendig zu halten und über ein Framing in der Sprache einzukleiden, das grenzwertig, aber nicht direkt sanktionsbewehrt ist. Gleichwohl wirkt es assoziativ-bildlich: „Verwesungsgeruch einer absterbenden Demokratie“, „alleiniger Inhaber der Staatsmacht“ (B. Höcke). Im Kopf des Zuhörers stellen sich dazu Vorstellungen etwa vom Ende der Weimarer Republik ein, der zerstrittenen politischen Elite, dem Aufmarsch brauner Staffeln usw. Die Wirkmächtigkeit von Sprache ist in einem solchen Framing deshalb sehr hoch, weil sie mit Vermeidung arbeitet und doch passende Assoziationen schafft. Hinzu tritt dann schnell die Aussage, in der Person des Vortragenden repräsentiere sich der „wahre Volkswille“, das „homogene Volk“, das „reine Deutschtum“. Über unseren unterschwelligen Wunsch, einer moralischen Eineindeutigkeit zu folgen, die uns von innerem Dialog und möglichen Gewissensfragen entlastet, wird bei konservativ geprägten Personen Abscheu gegenüber anders Denkenden ausgelöst. Dieser Triggerpunkt verbindet sich mit Wut und aufgestauter Frustration schnell zu politischer Gewalt. Aufstacheln nennt das die Umgangssprache. Je abfälliger die Bemerkungen über mein politisches Gegenüber ausfallen, desto eher fühlen sich meine Anhänger aufgerufen und gerechtfertigt, Gewalt anzuwenden. Schließlich geht es um die „Reinheit“ der eigenen Werte, die gefährdet sind. In ausgesprochen guter Übung zeigt Donald Trump das: Verunglimpfen, Herabsetzen, mit Halbwahrheiten falsche Perspektiven aufzeigen, den anderen in die Nähe von Abnormitäten rücken wie QAnon: („Blut von Kindern trinken“, „ganz abscheuliche Sachen machen“). Wir schütteln darüber nur den Kopf, aber auch hierzulande glauben Leute so etwas und sind schnell geneigt eine jüdische Weltverschwörung dahinter zu erkennen.

Fazit:

Ein vielschichtiges Buch, das zur politischen Bildung einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag leistet. Jeder kann bei sich selbst prüfen, welchen Vorurteilen und emotionalen Prägemustern er anhängt, um dann eine Korrektur in Richtung Selbstautonomie vorzunehmen. Für Wahlkämpfer und Meinungsforscher wird das Geschäft nicht unbedingt leichter. Sie erkennen, dass die persönlichen Prädispositionen – gerade im traditionalistischen Lager – nur schwer, wenn denn überhaupt aufzubrechen sind. Liegen die tiefen Lebensüberzeugungen doch geknüpft an emotionale Muster, auf die keine Wahlkampfaussage je einen Einfluss haben wird.

Ingo-Maria Langen, September / Oktober 2020