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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Deutschland, deine Kolonien

Eva-Maria Schnurr
Frank Patalong
(Hg.)
Ein SPIEGEL BUCH

„Deutschland, deine Kolonien“
Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit

Vorsatz- und Nachsatzpapier Karte und Collage / Zeichnung der namibischen Künstlerin Vitjitua Ndjiharine
Zahlreiche Fotos und Abbildungen

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022
252 Seiten, 22.- €

 

Überwindung der Sprachlosigkeit

Die europäischen Kulturnationen beginnen erst langsam, sich mit ihrem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen. Jüngst fand eine Bewegung von Menschen mit zumeist afrikanischen Wurzeln in Portugal mit dem Ziel zusammen, in Lissabon ein Denkmal für versklavte Menschen zu errichten. Die junge Generation will nicht mehr wegschauen, Sensibilität gegenüber dem Leid ist der Gradmesser (F.A.Z. 31.05.2022, S. 3).

Deutschland galt in kolonialer Hinsicht weit verbreitet als Muster an Vorbildlichkeit in Verwaltung, Ausbildung und Menschenführung. Die Quellen sprechen eine deutlich andere Sprache. Der vorliegende Band behandelt die historische Entwicklung der deutschen Kolonialgeschichte, die ihre geistigen und wirtschaftlichen Ursprünge etwa mit dem Beginn des Deutschen Bundes (1815) und etwas später (1834) der Gründung des Deutschen Zollvereins hatte. Die zunächst rein privatwirtschaftlichen Initiativen legten den Grundstein für einen strammen Lobbyismus im bald darauf geeinten Deutschen Reich. Die informelle gleichwohl teils institutionelle Vorbereitung widerlegt die Mär vom Deutschen Reich als einem sehr späten und dafür umso zivilisierteren Kolonialreich. Jenseits der Staatsgeschichtsschreibung mit ihrer systemischen Verstrickung ist der weit entscheidendere Punkt die innere Haltung in weiten Teilen des deutschen Bürgertums, von Wirtschaft und (politischer) Elite. Die bislang privaten Initiativen wiesen jenen wirtschaftlichen Profit vor, der die Gier in breite Bevölkerungsschichten tragen konnte. Verlass war dabei auf eine rassistische Grundstimmung und das Verlangen dem Gefühl deutscher Suprematie im internationalen Kontext Ausdruck verleihen zu wollen. Die Vereine und Lobbyorganisationen trugen ihr Begehr an Reichskanzler Bismarck heran, der schließlich nachgab, offiziell war das Deutsche Reich ab 1884 Kolonialmacht.

Die SPIEGEL-Autor:innen bringen ein sowohl systematisches Bild als auch die Möglichkeit direkt ein einzelnes Thema anzusteuern ohne den Gesamtkontext zu bemühen. Die Kapitel sind je für sich lesbar (und lesenswert) wie auch in übergreifenden Kontexten. Geographisch umfasst sind alle kolonialen Aktivitäten von Afrika über Lateinamerika, die Südsee bis hin ins ferne China. Perspektivisch wird zumeist den Betroffenen viel Raum eingeräumt, um hier eine Gegen-Erzählung zu entfalten, die bislang in der Breite deutscher Erinnerungskultur – wenn überhaupt – nur eine Nische besetzt. Die Narrative dieser Menschen sind jedoch nicht nur für die langsam beginnende Debatte zu Deutschland (als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches) als Kolonialmacht wichtig, sie entwerfen ein eindringliches Bild der Menschen aus diesen Ländern und sie tragen dazu bei, in einer disruptiven Globalisierung die überfällige Wertschätzung für unser Gegenüber (jenseits gepflegter Vorurteile) einzufordern. Die gesättigte (west)europäische Überheblichkeit hat uns dazu geführt den ersten Krieg auf europäischem Boden seit dem Endes des Zweiten Weltkriegs miterleben zu müssen. Sie hat uns dazu geführt nur mit großer Not die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 bewältigen zu können und sie wird dazu führen unsere fundamentalen Werte von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu gefährden, sollte es nicht gelingen, von unserer (dekadenten) Saturiertheit mindestens denjenigen Teil abzugeben, der anderen hilft sich selbstbestimmt und materiell besser zu helfen. Das UNFP warnt inzwischen vor Hungerkrisen in Teilen Afrikas.

Die bittere Saat

Die Vorgehensweisen für die deutschen „Musterkolonien“ sind so austauschbar wie menschenverachtend. Mit einer einzigen Ausnahme: Gouverneur Wilhelm Solf versuchte auf Deutsch-Samoa (1900 – 1914) der indigenen Bevölkerung so weit entgegenzukommen, dass die Verwaltung allgemein als positiv wahrgenommen wurde und Solf einen Aufstand von verfeindeten Familienclans mit diplomatischen Mitteln beilegen konnte.

Dies blieb jedoch in der Geschichte der deutschen Kolonien eine singuläre Entwicklung. Stattdessen herrschten trotz Verwaltung und entsprechender Gesetze oft Willkür bis hin zu Folter und Tod für die einheimische Bevölkerung. Paradigmatisch sind die Ereignisse in „Deutsch-Südwest“.

Ein Satz von Julius Lips, bis zur seiner Emigration (1933) Direktor des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln, das leider in der aktuellen Diskussion um fremdes Kulturgut keine Vorreiterrolle in der Kuratierung einnimmt (Patrick Bahners, „Was wollen wir damit?“ F.A.Z. 25.05.22 / Leserbrief „Nicht einmal eine Karte in Köln“ Prof. C. Antweiler, Prof. K. Schneider F.A.Z. 01.06.22): „Wie nannten die westafrikanischen Ewe einen der Weißen? ‚Soso‘ – den, ‚der viel haut‘.“ Suprematie, geboren aus den dunklen Geistestiefen des Ethnozentrismus. Lips, der viel Kunst aus Afrika zusammentrug, sich mit der Bevölkerung solidarisierte, daheim angefeindet und bedroht wurde, hat früh eine andere Perspektive gewählt und damit seiner Haltung Ausdruck verliehen. (Der Essay „Unter Barbaren“ liest sich gut als Einstieg in den Gesamtkontext.)

In perfider Weise sollte sich gar der hochgeschätzte (weil wissenschaftlich durchaus reputierte) Robert Koch mit seinen Studien an schwarzen Probanden zur Schlafkrankheit (in Kamerun) mittels Atoxyl hervortun. Seine Forschungsmethoden wären im Deutschen Reich verboten gewesen. Die Letalitätsquote in Afrika interessierte daheim nur wenige.

Die Autoren zeigen sich zu Recht erstaunt über die mangelnde öffentliche Resonanz in Deutschland zur „Black Lives Matter“-Bewegung, die weltweit große Beachtung erfahren hat. Statt über die eigenen politischen (historischen) Implikationen (gerade auch in den Medien) zu diskutieren, beschäftigen uns sogenannte „Querdenker“, Schwurbler, Leugner, bis hin zu Hassern und Hetzern. Durch was will sich die deutsche Öffentlichkeit noch auszeichnen? Der Band möchte hier Anstoß und kritische Betrachtung (Sensibilisierung) bieten, um der Erinnerungskultur eine weitere wichtige Facette hinzuzufügen und zugleich Resonanz für die Zukunft im Umgang mit meinem Gegenüber zu erzeugen. Eine Korrektur der inneren Haltung, die jeder selbst vollziehen muss. Das Buch bietet vielfältige Anregungen dazu. Etwa ein Kompendium zum Schluss, das einen Überblick über die Kolonien, ihre Zeitachse und die damit verbundenen Ziele beschreibt. Ebenso die kurzen Abschnitte „Schnelles Wissen“ mit einem Stichpunktfokus. Daneben Interviews oder Tagebucheinträge und persönliche Berichte wie jenen von Ruben Rukambe Uazukuani über die Verarbeitung des Genozids in der Gruppe der Herero, verbunden mit der Deutsch-Namibierin Nicola Brandt, die mit ihren Fotos und Collagen gegen das Vergessen, das Schweigen, das Wegsehen arbeitet und international ausstellt.

„Wir wollen nur Gerechtigkeit“

„Soso – der viel haut“. Ähnliches lässt sich auch für andere Völker vorstellen. Wiewohl im Deutschen Reich in den achtziger Jahren als „pädagogisches“ Mittel abgeschafft, residuierte es im „hausväterlichen“ Kontext und wurde in nahezu allen Kolonien als selbstverständliches Mittel der Weißen gegen die indigene Bevölkerung benutzt. Oftmals als Einstieg in Folterpraxen, Hungerzüchtigungen bis hin zur Verweigerung medizinischer Versorgung oder Erschießungen. „Deutsch-Südwest“, in vielerlei Hinsicht paradigmatisch, sollte auf Betreiben deutscher Wirtschaftsinteressen kolonisiert werden. Am Beginn ein dreister Betrug um Land durch Alfred Lüderitz, später von der Deutschen Kolonialgesellschaft tatkräftig unterstützt, entsandte das Deutsche Reich eine Schutztruppe, die Einheimischen wurden besonderen Gesetzten im eigenen Land unterworfen (weil sie nicht auf der kulturellen Höhe seien, sie einem Deutschen und dessen Heimatgesetzen gleichzustellen), Landraub, Ressourcenraub, Diamantenfieber, schließlich Konzentrationslager und Genozid. Die Ungeheuerlichkeit in der Vorgehensweise steht den anderen Kolonialmächten in nichts nach, manche Fachleute sehen die Deutschen gerade in der Brutalität die Spitze bilden.

Die 2021 zwischen der deutschen Regierung in Berlin und der Regierung Nambias in Windhoek ausgehandelte „Joint Declaration“, in die viel substanzielle Arbeit geflossen ist, hat gleichwohl nicht das Zeug, eine substanzielle „Wiedergutmachung“ leisten zu können. Im Beitrag „Wir wollen nur Gerechtigkeit“ artikuliert Ruben Rukambe Uazukuani die Sollbruchstelle: Nicht die namibische Regierung, sondern Vertreter der Nama und Herero müssten Verhandlungsführer sein, ihnen gebührte die ausschließliche Restitution. Denn der Genozid wurde an diesen ethnischen Gruppen verübt, nicht an allen Namibiern. Das ist auch innenpolitisch brisant, Schulbücher blenden diese Zeit aus, nur der Freiheitskampf der SWAPO ab 1960 bekommt Raum.

Obwohl den deutschen Verhandlungsführer Ruprecht Polenz mit Zedekia Ngavirue eine Herero gegenübersitze, sei der gleichwohl nicht durch das Volk der Herero legitimiert, sondern vom Präsidenten Hage Geingob eingesetzt. Das triff einen Nerv: Viele Herero wurden manipuliert, erhielten Geld für Farmen oder Regierungsposten. Etwa Dreihunderttausend leben außerhalb in anderen Ländern, auch die wären repräsentativ zu beteiligen. Das vermeintlich scharfe Schwert der Regierung, die Stämme sprächen nicht mit einer Stimme, wirkt bei genauer Betrachtung seltsam stumpf.

Bitterkeit unter Nama und Herero verursacht zudem, dass die bereits geflossenen Investitionen oft in den Norden gelenkt werden, in den ärmeren Landesteilen kaum die Grundinfrastruktur vorhanden ist.

Die Energie, Langmütigkeit und Freundlichkeit gegenüber Deutschen ist überaus erstaunlich im Angesicht eines Genozids, der fast eine Ausrottung bewirkt hätte. Darin liegt die späte Chance einer Begegnung auf Augenhöhe für eine „Wiedergutmachung“, die im Interesse und aus Sicht der Betroffenen die Tür für ein zukünftiges Miteinander öffnet. Der Weg dazu ist noch sehr weit.

Dem vorliegenden Buch ist das Verdienst zu bescheinigen, die Kolonisationsdebatte aus der Perspektive der Betroffenen zu schildern, kritisch mit der deutschen Geschichte dazu umzugehen und zugleich die Möglichkeit eines Zugangs für die öffentliche Diskussion zu eröffnen. Dem Band sind viele Leser und der Debatte eine innere Haltung mit Demut, Wertschätzung und Dankbarkeit zu wünschen.

Ingo-Maria Langen, Juni 2022